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Brief aus Istanbul

Brief aus Istanbul
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Hallo, Merhaba, seit über zwei Wochen protestieren wir hier auf dem großen Taksim-Platz und im Gezi-Park – keine zehn Fußminuten von meiner Wohnung entfernt. Inzwischen haben die Demonstranten über 35 Barrikaden gebaut, sodass der Platz nur noch über die Fußgängerzone und die Metro erreichbar ist. Und die von der Polizei zerstörte Zeltstadt im Park wurde wieder aufgebaut.

Jetzt merken die Menschen, wie schön es sein kann, wenn man öffentliche Räume besetzt. Es herrscht so etwas wie eine Volksfeststimmung mit viel Musik und Kultur. Die jungen Leute im Park haben sich schnell organisiert, sie tragen den Müll weg, verteilen gespendete Lebensmittel und haben sogar eine kleine Bibliothek errichtet. Es gibt eine unglaubliche Solidarität zwischen sehr unterschiedlichen Menschengruppen, zwischen alten und jungen Leuten, weniger Gebildeten und Intellektuellen, Frauen mit und ohne Kopftuch.

Am Samstag vor einer Woche haben Freunde von mir hier eine Hochzeit gefeiert, eine Türkin und ein Deutscher, die in Berlin leben. Da die Polizei großräumig und brutal Tränengas versprühte, mussten sogar die Brautleute eine Gasmaske aufsetzen. Auch ich trage seit Tagen immer wieder ein Tuch vor Mund und Nase, um mich zu schützen.

Parallelen zu Stuttgart

Auch hier, in der Türkei, begann der Protest klein. Einige Bürger hatten Einspruch gegen die Umbaupläne des Taksim-Platzes und Abholzung des Parks zu Gunsten eines großen Einkaufszentrums eingelegt. 200 bis 300 Leute haben mit Protestaktionen versucht, die Öffentlichkeit zu informieren. Doch erst als es ernst wurde, als Bauarbeiter begannen den Taksim-Platz zu untertunneln und die ersten Bäume fällen sollten, wuchs der Widerstand.

Der Konflikt um die Zukunft des Gezi-Parks wurde plötzlich zu einem Katalysator für die Unzufriedenheit mit dem autoritären Führungsstil von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der den Menschen einen bestimmten Lebensstil aufzwingen möchte und der Istanbul seit Jahren neoliberal umgestaltet, ja ganze Stadtviertel abreißen lässt ohne die betroffenen Bewohner ernsthaft zu beteiligen.

Der Größenwahn Erdogans zeigt sich auch an weiteren Milliardenprojekten: Staudämme in der Osttürkei, zwei Atomkraftwerke und hier in Istanbul einen dritten Großflughafen. Außerdem plant Erdogan einen Kanal, der den Bosporus entlasten soll und lässt bereits eine dritte Brücke über die Meerenge bauen, die das Schwarze mit dem Marmara-Meer verbindet. Die Brücke soll nach einem Sultan benannt werden, der früher die Aleviten verfolgt hat. Die Megaprojekte sind häufig sehr ideologisch besetzt. So ist auch eine neue Großmoschee auf einer Aussichtplattform von Istanbul geplant und vor zwei Wochen wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das den Alkoholkonsum im Land erheblich einschränkt. Dies alles ruft natürlich den Widerstand der laizistisch gesinnten Bevölkerung hervor.

Mappus und Erdogan

Die jüngere Generation hat jetzt die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnen kann, Widerstand zu leisten. Diese Jungend wird sich in Zukunft sicher anders in politische Konflikte einmischen. Aber ein Regierungswechsel steht derzeit wohl kaum auf der Tagesordnung. Erdogan ist nicht Stefan Mappus. Erdogan sitzt fester im Sattel als der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Und die Türkei ist gespalten.

Wir waren gestern in einem konservativen Stadtviertel und haben mit jüngeren Männern gesprochen. Die stehen voll hinter dem Ministerpräsidenten und seiner konservativen islamischen Partei. Sie sagen Erdogan hat "für uns arme Menschen eine Gesundheitsversorgung geschaffen, die Stadtverwaltung kümmert sich um uns und es wurden viele neue Straßen gebaut". Er habe die Türkei voran gebracht.

Für viele Demonstranten ist keine der großen Oppositionsparteien eine akzeptable Alternative. Das gilt für die nationalistische MHP genauso wie für die kemalistische, sozialdemokratisch orientierte Republikanische Volkspartei(CHP). Die Umweltbewegung ist hier im Gegensatz zu Deutschland noch sehr klein.

Tayyip Erdogan spitzt den Konflikt auch noch zu. So hat er die Demonstranten wiederholt in die Nähe von Terroristen und Plünderern gebracht und ihnen vorgeworfen, sie hätten sich von ausländischen Medien aufhetzen lassen. Er sagt, er habe die Macht, seine Partei, die "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" (AKP), sei von 50 Prozent der Bevölkerung gewählt worden und er werde an seinen Plänen der Umgestaltung des Taksim-Platzes und des Gezi-Parks festhalten. Der Ministerpräsident drohte sogar damit, seine Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren. Das ist eine Kampfansage.

Deshalb sind alle gespannt, was in den nächsten Tage passieren wird. Da die Polizei und die Sicherheitskräfte nach einem Krisengipfel erklärt hatten, bis Montag (10. Juni) still zu halten, befürchten die Demonstranten für die Tage danach das Schlimmste.

Eure Cornelia Reinauer

Cornelia Reinauer hat uns den Brief vor der zweiten Räumung des Taksim-Platzes am Dienstag geschickt.

Cornelia Reinauer lebt seit 2007 die meiste Zeit im eher kosmopolitischen Bezirk Beyoglu in Istanbul, hat aber noch eine Wohnung in Berlin. Sie spricht türkisch, nennt sich "eine Transmigrantin zwischen zwei Welten". Cornelia Reinauer ist im schwäbischen Albstadt aufgewachsen und hat in Stuttgart Bibliothekswesen studiert. Vor über 30 Jahren hat sie in Berlin-Kreuzberg die erste türkische Bibliothek in Deutschland mitaufgebaut. Sie war von 2002 bis 2006 Bürgermeisterin von Kreuzberg-Friedrichshain.


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