Man muss nicht unbedingt der Sohn eines Zündholzgroßhändlers sein, aber es hilft. Beim Blick auf die Wirtschaft. Und schon sind wir bei Albrecht Müller. Als 16-Jähriger, das ging damals, hat er seinen behinderten Vater im Opel Kapitän zu den Konferenzen gefahren und aufmerksam zugehört, worüber die Herren geredet haben. Über den Markt, der bei den Zündhölzern noch weniger ein freier war, als bei den anderen Waren, die in den 50er-Jahren gehandelt wurden. Damals, sagt der in Meckesheim bei Heidelberg Geborene, habe er mehr gelernt, als später im Studium der Volkswirtschaft. Über Herren und Knechte und die Tritte unterm Tisch.
Müller ist Sozialdemokrat seit 50 Jahren. Für Wirtschaftsminister Karl Schiller hat er die Reden geschrieben, für Willy Brandt und Helmut Schmidt die Planungsabteilungen geführt, von 1987 bis 1994 im Bundestag gesessen, und danach hat er gelitten. An seiner Partei, die eigentlich nicht mehr seine war, die mit half, den Reichtum von unten nach oben zu verteilen, die mit in den Krieg zog und den Menschen erzählte, dass dies alles notwendig sei, um Frieden und Wohlstand in Deutschland und Europa zu erhalten. "Die neue Strategie der SPD war", bilanziert der heute 75-Jährige, "sich zu opfern".
Aber wofür und warum? Da mischen sich Politik und Psychologie. An die Macht kommen, sie erhalten, gute Staatsbürger sein, den Aufstieg aus dem Kleinbürgertum schaffen, bei den Großen dabei sein, das scheinbar Schlimmste verhindern - Müller hat das alles erlebt. Über einen Gerhard Schröder, den Vater der Agenda 2010, wundert er sich nicht. Auch nicht über den früheren Arbeitsminister und späteren Versicherungslobbyisten Walter Riester, der sein Rentenmodell versilbert. Ein "absolut schräger Vogel", sagt der linke Sozialdemokrat. Müller wundert sich eher über einen Erhard Eppler, der jene Agenda gut findet, die, so sein bitteres Urteil, den Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften das "Rückgrat gebrochen hat".
Für die FAZ ist er ein Ewiggestriger
Nun hätte sich der rote Großvater in sein Haus im pfälzischen Pleisweiler zurück ziehen und Privatier spielen können. Aber dazu steckt zu viel Leben, zu viel Widerstandsgeist in dem Kurpfälzer, der es heute noch ablehnt, beim Absingen des Badnerlieds aufzustehen. Der Zündholzhändlersohn , der im Gespräch gerne die Fäuste ballt, ist ein Einmischer geblieben, einer, der auf die Wucht des Wortes vertraut, egal, wie stark ihm der Gegenwind die weißen Haare zerzaust. Für die FAZ ist er ein Ewiggestriger, der noch an den Wohlfahrtsstaat glaubt. Getrieben von "ohnmächtiger Wut", wenn er schreibe, die Eliten stünden nicht mehr auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Der diplomierte Volkswirt erlaubt sich halt auch Fragen wie: Warum sind alle Banken systemrelevant und Opel, Karstadt und Schlecker nicht? Und seine Bücher kommen auch nicht staatstragend daher. Sie heißen "Reformlüge", "Machtwahn", "Meinungsmache" , "Der falsche Präsident" (Gauck) und stehen - woran's wohl liegt? - auf der Bestsellerliste des "Spiegel", der ihn dann fragt, ob er eigentlich "nur negativ" könne.
Positiv ist der Mainstream. Positiv ist, wenn die Jungen in die private Rente einzahlen, weil ihnen das von den Riesters, Raffelhüschens und Rürups eingehämmert wird. Negativ ist, wenn offen gelegt wird, dass diese "unabhängigen Experten" auf den Payrolls jener Unternehmen stehen, die mit dieser Altersvorsorge fette Gewinne einfahren. Gut ist der Neoliberalismus, der jeden zum Schmied seines eigenen Glücks macht. Schlecht die staatliche Fürsorge, die uns, verführt von der "perfekten Meinungsmaschine" Müller, "zurück in die Siebziger" (FAZ) wirft.
Komischerweise ist der vermeintliche Retro-Rentner gefragt. Wie Blüm und Geißler, die anderen aus der Altherrenriege, die immer herhalten müssen, wenn die Westerwelles zu öde werden. Alle schreiben und touren sie, weil sie, jeder auf seine Weise, noch etwas zu sagen haben. Nicht in diesem verschwiemelten Deutsch, das zudeckt, was klar sein muss. Ohne die Angst, sich mit einem kritischen Satz die Karriere zu vermasseln. Mit einer Grundhaltung, die glaubhaft ist. Müller kann gar nicht anders, als seine Botschaft zu verkünden, die da heißt: "Wir haben keine demokratischen Verhältnisse mehr".
Ideologie-Placement: Aus Scheiße Marmelade machen
Wie er darauf kommt? Als Planungschef und Wahlkampfleiter bei Brandt und Schmidt hat er gelernt, wie Politik gemacht und medial vermittelt wird. Begriffe prägen, Themen setzen, das war schon damals so, wenn auch leichter. Um sein "Modell Deutschland" haben sich zwei Fernsehanstalten und gedruckte Zeitungen gekümmert. Heute ist die Medienlandlandschaft unübersichtlicher, was nicht bedeutet, dass sie inhaltlich vielfältiger wäre. "More of the same" heißt das in der Branche, und das liegt auch an elitären Denkfabriken wie der Bertelsmann-Stiftung oder der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, einer Einrichtung des Metallarbeitgeberverbandes, die Themen langfristig vorbereiten und zum öffentlichen Dogma werden lassen. Müller nennt das Ideologie-Placement oder volkstümlicher: "Aus Scheiße Marmelade machen". Die Finanzkrise braucht den Rettungsschirm des Steuerzahlers, der demografische Wandel die Riesterrente, die Wirtschaft Hartz IV - alles alternativlos. Von "Bild" bis zum "Spiegel". Eine Lüge werde glaubhaft, sagt der Medienkritiker, wenn sie aus verschiedenen Ecken komme.
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Ulrich
am 17.06.2013