Die Backwarenauslage von Halil Selvi ist bestimmt 20 Meter lang. Auf den ersten zehn Metern türmen sich saftige Sesamküchlein und dicke, süße Kekse zu kleinen Gebirgen, auf den letzten honigschwangeres Baklava auf sauberen, silbernen Tabletts. Halil Selvi, der Bäcker aus Stuttgart-Feuerbach, hat eine Schwäche für Süßes. Und ein Problem mit seiner Theke. Da kämen, sagt er leise und mit schüchternem Lächeln, seine Süßigkeiten gar nicht richtig zur Geltung. Viel zu beengt, viel zu wenig Platz. Und deshalb hat er sich im vergangenen Jahr gemeinsam mit einem Freund das 13 600 Quadratmeter große ehemalige Behr-Fabrikgebäude auf der anderen Straßenseite gekauft und damit ein Viertel revolutioniert, das bei der Stadt Stuttgart schon lange in Ungnade gefallen war.
Halil Selvi spricht kaum Deutsch. Er habe nie die Zeit gehabt, es zu lernen, vor lauter Arbeit. 1988 kam er der Liebe wegen aus einem kleinen Dorf im Norden Anatoliens nach Deutschland. Seine Frau starb viel zu früh, und da saß der junge Türke mit einer kleinen Tochter im Arm, und weil er nicht wusste, wie es weitergehen sollte, zog er nach Feuerbach in die Nähe der Moschee.
Halil Selvi fertigte Sesamkringel für die Betenden. Erst ein paar, dann mehr, dann sehr viele. Das Geschäft lief gut. Mehr als 2000 Gläubige kommen zu den Freitagsgebeten in die Mauserstraße. Mit der Zeit entstanden um Halil Selvis Sesamkringel-Bäckerei eine Bücherei, ein Elektrogeschäft, Lebensmittelläden, und der Bäcker erweiterte sein Sortiment um Lamacun und Pide für die Arbeiter, die aus den Fabriken drum herum zu Mittag kamen und nannte seinen Laden "Metropole". Nach und nach eröffneten drumherum Verkaufsräume für Damen- und Herrenkleidung und Brautmoden, Möbelläden, Friseursalons, Teppichgeschäfte, Reisebüros.
Ab und zu leistete sich der eine oder andere türkische Geschäftsmann einen kleinen Umbau. Oft am Bauamt und zumindest in Deutschland erforderlichen Genehmigungen vorbei. In der Türkei baut man schließlich auch zuerst und fragt danach, erzählt man sich hier hinter vorgehaltener Hand und teils mit verschmitztem Grinsen. Und so wuchs das Viertel rund um die Mauserstraße langsam, aber stetig die Straße entlang, bis sie voll war.
Ein bisschen Wildwuchs gab es immer in der Mauserstraße
Ab und zu machte die Stadt den einen oder anderen Laden dicht. Man erzählt dort die Geschichte einer Näherin, die in einem kleinen Zimmer Spitzen herstellte, weiße feine Handarbeiten. Die Frau soll so rund gewesen sein, dass sie, so sagt man, kaum zwischen die zwei Wände gepasst habe, zwischen denen die Treppe ins Erdgeschoss führte. Die einzige Treppe. Und kein Notausgang weit und breit. Als die Stadt die Stube schloss, ereiferte sich der Besitzer, das sei fremdenfeindlich und nur und einzig so, weil es ich hier um eine türkische Nähstube handle! Als er sich beruhigt hatte, soll er die kleine Kammer kurzerhand umgebaut haben zu einem Import-und-Export-Laden. Von Kleinigkeiten aufhalten lässt sich im so genannten Klein-Istanbul keiner. Und so florierte dieser Straßenzug viele Jahre lang ungehindert und prächtig.
Im Februar 2012 verhängte die Stadt deshalb eine "Veränderungssperre für den Bereich Borsigstraße/Mauserstraße". Damit war es erst einmal vorbei mit dem türkischen Wildwuchs.
"Keinen Mülleimer konnten wir mehr aufstellen!", echauffiert sich Ismail Cakir, der Präsident der Ditib-Moschee. Ein lustiger Mann mit weitem Herz und von ausgesuchter Höflichkeit. Auf seinem Schreibtisch steht ein Computer aus dem vorigen Jahrhundert, daneben eine kleine europäische und eine kleine türkische Flagge. Sogar die Stadtreinigung, sagt er, habe irgendwann aufgehört, durch die Mauserstraße zu fahren.
Die Stimmung im Viertel war denkbar schlecht. Eine Stagnation, eine deutsch-türkische. Emsiges Geschäftemachen auf der einen Seite und politischer Unmut auf der anderen, weil die Mauserstraße das letzte innerstädtische Gewerbegebiet ist, das es in Stuttgart noch gibt. Schon als die Moschee sich dort ansiedelte, fürchtete die CDU eine "Verunreinigung" des Gewerbegebiets, des Filetstücks, auf dem sich statt deutschen Betrieben 20 Jahre lang stetig türkische Teppiche, Wasserpfeifen und die wachsende Süßwarentheke von Halil Selvi ausgebreitet haben. Aufgebaut von der ersten Gastarbeitergeneration und der darauf folgenden, von Menschen, die wissen, dass es sich lohnt, wenn man hart arbeitet und den ein oder anderen guten Kontakt in die Türkei hat. Denn wenn die deutschen Banken mangels Baugenehmigung keine Kredite mehr gewähren, dann fragt man eben bei einer türkischen an.
Industriestandort!, rief vor allem die SPD, als sie merkte, dass sie sich um dieses Stückchen Stuttgart doch wohl hätte kümmern sollen. Heute gibt es keinen Zuständigen im Rathaus, der etwas zu diesem Viertel sagen möchte.
Als die Veränderungssperre der Mauserstraße den Riegel vorschob, war die Empörung denkbar groß. Diese Deutschen! Diese Türken! Die Fronten: verhärtet.
Unterdessen hatte Halil Selvi eine Menge Süßwarenmessen besucht und immer mehr Ideen mitgebracht. Bonbons in dickbauchigen Gläsern, feine Törtchen wie Petit Fours, Pralinen in hübschen bunten Schachteln, mit hübschen bunten Schleifen drum herum. Ganz anders als in der Türkei, wo man nicht in edlen Schachteln, sondern in Tüten verkauft. Alles sehr hübsch. Und hübsch braucht Platz.
Platz hatte er ja auf der anderen Seite der Straße, aber für eine Patisserie durfte er das Gewerbegebäude nicht nutzen. Und als Halil Selvi und sein Kompagnon nichts mit der alten Fabrik der Firma Behr anfangen konnten, schmiedeten sie einen Plan. Denn abgesehen von den Süßwaren von Halil Selvi konnte das mit den Mülleimern und dem mauen Ruf des Viertels so ja nicht weitergehen.
Gab es da nicht diese türkische Agenturbesitzerin, die mit dem Ex-OB Wolfgang Schuster (CDU) ein Buch veröffentlicht hatte zum Thema Integration? Die müsse Kontakte haben, glaubten die Männer. Als Halil Selvi Sevil Özlük zum Essen einlud, die zarte Türkin, die bis dahin mehr mit Lifestyle und Mode anstatt mit türkischen Straßenzügen zu tun hatte, fand er, sie sei ganz schön klein. Aber dafür hatte sie sehr gute Ideen.
Der Imam predigt deutsches Genehmigungswesen
Sie besorgte sich den Nutzungsplan des Gebäudes und fand darauf eine ehemalige Kantine. Also brauchte es nur "Kantinenbesucher", um – genehmigt – dort die Süßwaren anbieten zu können. Und so strickte Sevil Özlük rund um den süßen Traum des Bäckers und quer durch das alte Fabrikgebäude ein handfestes und allseits überzeugendes Konzept. Künstler sollten in Ateliers arbeiten, deutsche und türkische Kinder nebenan spielen, eine Behindertenwerkstätte sollte es geben, Werkräume, Designer, Maler, Musiker. Sie bastelte einen kleinen Kosmos rund um Halil Selvis Törtchen, erfand einen Tiegel, in dem das Zwei-Phasen-Gemisch aus Deutsch und Türkisch, Kunst und Gewerbe verschmelzen könnte. Am besten nicht nur integrativ, sondern sogar mit einem Hauch Inklusion. Sie überzeugte sogar den Imam, die Wichtigkeit des deutschen Genehmigungswesens in seine Predigt aufzunehmen. Sie tingelte mit einem kleinen Koffer ins Stuttgarter Rathaus, voll mit Dingen, die ihr selbst bis dahin nicht geläufig waren: Halil Selvis saftige türkische Backwaren, Hochzeitsspitzen und andere Handarbeiten. Es gebe ja nicht nur Gewerbe dort in der Mauserstraße, erklärte sie, sondern richtiges Kulturgut! Und nach und nach fanden Stadträte und Bürgermeister Gefallen an Özlüks Idee. Vor allem, weil der Eröffnungstermin des "Kultur"-Zentrums kurz vor den Kommunalwahlen angesetzt war und auch die Menschen aus der Mauserstraße potenzielle Wähler sind.
Bäcker Halil Selvi verstand von alledem wenig. Aber er war begeistert, denn es hörte sich gut an. Irgendwie so, als sei es für beide Seiten, die türkische und die deutsche, eine gute Sache. Als könnte diese Idee tatsächlich nicht nur seine Patisserie ermöglichen, sondern der türkischen Straße in Stuttgarts Norden einen ganz anderen Charakter verleihen. Ein bisschen mehr Weltläufigkeit, ein bisschen mehr Sympathie für Wasserpfeifen und Teppiche auf der einen und für die deutsche Ordnung auf der anderen Seite.
Bei der feierlichen Eröffnung des neuen "Im Werk 8" ließ es sich kein Stuttgarter Fraktionschef nehmen, zu betonen, wie gut diese integrative Idee sei und wie sehr man sie unterstütze. Auch Sevil Özlük war stolz auf ihr bisher größtes Werk. Wenn man sie fragt, ob es in diesem Viertel eine kleine Perle gibt, über die es sich zu berichten lohnt, dann sagt sie: "Ja, mich."
Und so bleibt zum Schluss, dass Integration dann funktionieren kann, wenn alle etwas davon haben. Renommee für Frau Özlük, viele neue Kunden für die Gewerbetreibenden, bei all den Gästen, die die Mauserstraße in Zukunft besuchen werden, und einige potenzielle Wähler für die Politik. Zur Eröffnung des neuen Künstlergebäudes Ende Mai hatte Halil Selvi dort eine Theke aufgebaut, die fast genauso groß war wie die in seiner Bäckerei. Mit honigschwangeren Baklava, runden, dicken Keksen. Die Gäste waren begeistert. Es verspricht ein gutes Geschäft zu werden.
8 Kommentare verfügbar
Jürgen W.
am 06.07.2014Jeder anständige und vernünftig denkende Mensch freut sich wenn etwas gut läuft, insbesondere im zwischenmenschlichen Bereich. Und das unabhängig von nationalen Zugehörigkeitentweder - so jedenfalls meine Einstellung. Und das gilt selbstverständlich auch für die Mauserstrasse.
Das…