Das Mineralbad Berg ist Stuttgarts wichtigster Fluchtort bei meinen Versuchen, Stuttgart zu entkommen. Das liegt am maximal 20 Grad warmen, prickelnden Wasser im Außenbecken. Wenn ich aus der Sauna komme und Kopf voraus eintauche, höre ich das Zischen eines Brandeisens. Dieses Brandeisen bin ich, und diese Wahrnehmung hat nur bedingt damit zu tun, dass ich gelegentlich auch denke, ich könne mit der Lektüre eines Groschenheftes aus der Serie "Männer – härter als der Tod" meine Welt hinter mir lassen.
Leider bringt mir diese Sicht der Dinge überhaupt nichts. Eben erst habe ich in einem Roman, der nicht zur Gattung der Schundhefte zählt, dieses Dichter-Zitat gelesen: "Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser Welt." Dieser Satz hat meine letzte Aussicht auf ein Entkommen aus dem gegenwärtigen Schlamassel für immer zerstört. Es gibt die andere Welt nur in dieser Welt, und in der weltpolitischen Erhitzung dieser Tage ist nicht mehr drin als eine mineralhaltige Abkühlung nach dem verzweifelten Abkochen in einem auf etwa 92 Grad beheizten Schwitzkasten.
Ein weiterführender Therapiewunsch wäre sicher der, den ich auf einem Schild gelesen habe, als ich nach dem Verlassen der Badeanstalt wie gewohnt einen Schluck aus einem Brunnen nehmen wollte: "Liebe Badegäste, die Quellen sind ab sofort wetterbedingt eingewintert ...". Dieses sehr schöne Verb war mir neu. Bedauerlich, dass man nicht auch mich einwintern kann in diesen Zeiten. Auch wenn ich keine Hoffnung habe, die Welt könnte im Frühjahr eine bessere sein. Die Wahrheit klingt so: "Kelly hielt sein Pferd an. Er sah nichts als staubige, ausgedörrte Erde, baumhohe Saguaro-Kakteen, niedrige Dornsträucher. So weit das Auge reichte, nichts als leblose, menschenfeindliche Wüste. Und doch war in dieser toten Landschaft ein Schuss gefallen." So steht's geschrieben im Bastei-Heftchen "Der Fluch von Sacramento". Und in diesem Fall gilt ein Satz des Wiener Sozialdemokraten und Austromarxismus-Begründers Otto Bauer: "Nicht alles, was man verstehen kann, ist banal."
Hartnäckig hält sich in unserer menschenfeindlichen Wüste die Ansicht, der sogenannte Tapetenwechsel, ein anderes Wort für Tourismus, könne Menschen in eine Welt außerhalb ihrer Welt führen. Neulich habe ich mich für ein paar Tage davongemacht, nach Wien. Noch nicht richtig angekommen, las ich diese Sätze des Schriftstellers Richard Ford: "Das Problem beim Reisen ist aber, dass du irgendwann immer ankommst – das alte Ich hängt ein paar Stunden oder Nächte oder Tage hinterher, aber irgendwann holt es dich wieder ein, und dir lastet immer noch genau derselbe Scheiß auf der Seele. Und dann kannst du eigentlich nur gleich weiterreisen, woandershin."
Auf der vergeblichen Suche nach Empathie
Da mir fürs Weiterreisen das Budget fehlte, fuhr ich zurück. Und war im Bad Berg sofort wieder das Brandeisen. Samt dem Seelenscheiß. In Wien war ich tagelang herumspaziert, wie zu Hause, nur mit größeren Augen. Das Leben ist kein Kaffeehaus. Als Spaziergänger ziehen dich die Dinge an, die sich dem Leben in den Weg stellen. Ich fühle mich nicht als Gaffer, wenn ich kurz nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel jüdisch geprägte Orte in meiner Umgebung aufsuche. Den 2. Bezirk von Wien, die Jüdischen Museen am Judenplatz und in der Dorotheenstraße. Meine hilflosen Versuche, irgendetwas Richtiges zu tun.
3 Kommentare verfügbar
Frank Frede
am 18.11.2023