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Kinderbücher

Ganz nah dran am Weltgeschehen

Kinderbücher: Ganz nah dran am Weltgeschehen
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Dürfen Bücher Kindern und Jugendlichen schwierige Themen zumuten? Sie sollten sogar, sind sich die Autor:innen der Leseliste "Kolibri" aus der Schweiz sicher. Und empfehlen Werke, die kulturell besonders sind, künstlerisch bemerkenswert und – spannend.

Während im Juni dieses Jahres zu lesen war, dass 36 Prozent von 3.500 befragten Ostdeutschen meinen, "die Bundesrepublik (ist) durch die vielen Ausländer in gefährlichem Maße überfremdet" und immerhin noch 14 Prozent der Befragten einen Führer haben wollen, der "Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert", erarbeiten im feinen Basler Stadtteil Bruderholz zehn Kinder- und Jugendbuch-Begeisterte unverdrossen jedes Jahr einen "Kolibri". Eine jährlich im Verein Baobab Books, Basel, erscheinende Empfehlungsliste für Kinder- und Jugendbücher.

Die Bedingungen für eine Empfehlung: Das Buch muss sprachlich und künstlerisch bemerkenswert und spannend sein und die kulturelle Vielfalt dieser Welt abbilden. Gemeinsam halten die Lesenden fest an den Maximen der Aufklärung wie Toleranz, Emanzipation und kritischem Denken und hegen, trotz erstarkender rechter Weltbilder, die optimistische Hoffnung, dass gute Bücher über fremde Welten Kinder faszinieren und neugierig auf den Reichtum und die Farbigkeit anderer Kulturen machen können.

Der 30. "Kolibri" ist diesen Herbst veröffentlicht worden. "Das Cover hat diesmal der Libanese Hassan Zahreddine entworfen", erläutert Cyrilla Gadient, 60 Jahre alt, die seit 2008 das Projekt "Kolibri" leitet. "Jedes Cover wird von einem anderen Künstler gestaltet. So wird Vielfalt schon über den Umschlag sichtbar." Das erste Heft, die Nummer 1, ist 1975 erschienen. Es hieß zu der Zeit noch "Dritte Welt in der Kinder- und Jugendliteratur" und war mit Schreibmaschine getippt. "Aber die Arbeitsweise war schon damals so wie heute", erzählt Cyrilla Gadient: "Es gab Arbeitsgruppen von Ehrenamtlichen in Zürich, Bern und Basel, die Neuerscheinungen gelesen und diskutiert haben und die Empfehlungen für Schulen, Bibliotheken, interessierte Eltern und Vermittler:innen in einer Broschüre zusammengefasst haben."

Bücher mit Ecken und Kanten

Im Vorwort zur ersten Ausgabe steht: "Die Bücher sollen ein möglichst anschauliches, wahrheitsgetreues Bild vom Leben in der Dritten Welt vermitteln; sie sollen Verständnis wecken für andere Lebensformen und Lebensnormen; sie sollen gängige Vorurteile abbauen … ; sie sollen die Situation in der Dritten Welt nicht als schicksalhaft und unabänderlich darstellen; sie sollen spannend sein und nicht moralisierend wirken." Heute sind unter fünf Überschriften wie "Wertevielfalt statt Ethnozentrismus", "Gleichwertigkeit statt Paternalismus oder Sexismus" und "Respekt statt Rassismus" die Kriterien präzisiert und aktualisiert. Sie werden in jedem Heft mit abgedruckt, damit die Auswahl nachvollziehbar ist.

"Was wir bei Kolibri gut finden, sind nicht die Bücher, die eine heile Welt zeigen, die Ecken und Kanten von vornherein abschleifen. Es sind vielmehr solche mit Brüchen, schwer Fassbarem, Unbekanntem, solche, die gerade deshalb anregen und anrühren", erzählt Barbara Brennwald, eine der Leserinnen in der Basler Redaktion. Und ihre Kollegin Ilaria Curti ergänzt: "Die Bücher, die wir empfehlen, schlagen Brücken zwischen Realität und Fantasie, zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen der komplizierten Welt und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft."

170 Bücher haben die beiden Redaktionen, eine zweite arbeitet in Zürich, im vergangenen Jahr gelesen, 70 davon werden im neuen Heft vorgestellt. Eigentlich möchte Cyrilla Gadient keines besonders hervorheben, gibt dann aber doch Einblick in ihre persönliche Bestenliste: "Wir suchen Bücher, die gute Figuren zeigen, interessante Konstellationen, die in guten Geschichten ausgeformt werden. Deshalb finden wir 'Die Sonne so strahlend und schwarz' sehr beachtlich: Chantal-Fleur Sandjon bringt häusliche Gewalt, Rassismus, coming of age, sie bringt lesbische Liebe und man denkt: so viele Themen, wie schafft sie das? Aber sie schafft das gut, weil sie eben eine starke Erzählstimme hat und ihr Roman sprachlich und formal gekonnt ist."

Erwähnen möchte sie auch den Kinderkalender, der jährlich von der Internationalen Jugendbibliothek in München herausgegeben wird mit der Idee, die Sprachen und Illustrationen der Welt ins Kinderzimmer zu tragen. "Wir suchen auch nach Büchern von Autor:innen und Illustrator:innen aus anderen Kulturen, die auf Deutsch übersetzt werden. Diese Bücher sind immer noch rar." Zum Thema "Zusammenleben" sei der dritte Band des Kindercomics "Hugo & Hassan" sehr besonders, erzählt Cyrilla Gadient. "So leichtfüßig und trotzdem tiefgründig kann das Thema der Interkulturalität in die Literatur Eingang finden."

Kindern auch etwas zumuten

Tod, Krieg, Rassismus, Holocaust, Terror – sind das Themen für Kinder- und Jugendbücher? Cyrilla Gadient meint: Ja! Man könne Kindern, in gewissen Grenzen, schon etwas zumuten. Alex Wheatles "Cane Warrior", die Geschichte rund um den größten Sklavenaufstands in der Karibik im 18. Jahrhundert, erzählt aus der Sicht des 14-jährigen Mo, hält sie für eine solche Zumutung. "Wir haben das Buch empfohlen, weil sich dieser Junge, die Hauptperson, ständig hinterfragt, auch die eigene Gewalttätigkeit. Und das wird vermittelt. "

Die internationale Grundschul-Lese-Untersuchung des IFS Dortmund für 2021 hat ergeben, dass ein Viertel der Kinder die Grundschule verlassen, ohne richtig lesen zu können. Kinder lernen leichter lesen, haben früh einen größeren Wortschatz, sind einfühlsamer und haben in vielen Fächern bessere Noten, wenn ihnen regelmäßig vorgelesen wird. Das ist das Ergebnis des Vorlesemonitor 2023 der Stiftung Lesen. Vier von zehn Kindern werde zu Hause selten oder gar nicht vorgelesen, beklagt die Stiftung. Allerdings heißt das auch, dass sechs Kindern regelmäßig vorgelesen wird. Das reicht offenbar für einen deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchmarkt mit rund 8.000 Neuerscheinungen jährlich. Und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels berichtet, dass Kinder- und Jugendbücher, nach der Belletristik, "zweiter wichtiger Umsatzträger im Buchhandel sind … mit einem Marktanteil von 18,5 Prozent". Gelesen wird also. Nur – würden Kinder, wenn sie selbst aussuchen könnten, zu einem ukrainischen Märchen wie "Das Rübchen – Ripka" greifen und Jugendliche sich selbst freiwillig mit einem Buch wie "Cane Warrior" konfrontieren? Immerhin ist "Wolf" von Saša Stanišić, von der "Kolibri"-Redaktion mit einer "Perle" als herausragendes Buch gekennzeichnet, auf Platz vier der Spiegel-Bestseller-Liste Oktober gewesen.

Seit 1975 gibt es die Empfehlungsliste für diese besonderen Kinder- und Jugendbücher nun schon. Herausgegeben wurde sie in den ersten 30 Jahren von der "Erklärung von Bern" (EvB), einer entwicklungspolitischen Schweizer NGO, die es unter dem Namen "Public Eye" auch heute noch gibt. Die "Erklärung von Bern" wurde 1968 von einer Gruppe von Theologen formuliert, die damit gegen die wachsenden Wohlstandsunterschiede zwischen "Erster" und "Dritter Welt" protestierten. "Wir, die wir zu den Begünstigten in der Welt gehören, versäumen unsere erste Pflicht, wenn wir nicht alles, was uns nur möglich ist, tun, um den Kampf gegen Hunger und Elend zu führen, der zugleich der Kampf für die Rechte und Würde des Menschen ist", hieß es dort unter anderem. In der Folge gab es eine Reihe von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Projekten. Eben auch die Empfehlungsliste "Dritte Welt in Kinder- und Jugendbüchern", die von Regula Renschler, der damaligen Sekretärin der "Erklärung von Bern", mit initiiert wurde. Renschler, Literaturwissenschaftlerin und Journalistin, leitete einige Jahre den Bereich "Rassismus – Ethnozentrismus – Kulturbegegnung" der EvB. Ihr Buch "Das Gift der frühen Jahre – Rassismus in der Jugendliteratur" von 1981 könnte mit seinen aufschlussreichen Untersuchungen und Analysen eine Art frühes Handbuch für den aktuellen "Kolibri" sein.

Wie Rassismus und Ausgrenzung thematisieren?

"Die Themen, die die Welt bewegen, bilden sich immer auch in der Kinder- und Jugendliteratur ab", ist Cyrilla Gadient überzeugt. "Nach 9/11 sind vermehrt Bücher zum Islam erschienen, nach 2015 nahmen Publikationen zu Flucht und Krieg zu. Als ich bei diesem Projekt angefangen habe, gab es viele 'Indianerbücher', aber nicht viele, die wir empfehlen konnten. Schwierig finden wir, dass es im Augenblick viele Bücher gibt zum Schlagwort 'Diversität', die sehr oberflächlich sind." Während die Verlagsprogramme aktuellen Trends folgen, sind die Schwerpunkte des "Kolibri" weitgehend gleich geblieben. "Unser Ausgangspunkt ist immer die Frage: Wie wird Kultur thematisiert und wie werden Menschen aus verschiedenen Kulturen dargestellt. Wie werden die Themen Rassismus, Vorurteile und Ausgrenzung aufgegriffen und das Zusammenleben reflektiert. Und wir wünschen uns", und das ist Gadient besonders wichtig, "dass man sich selber Fragen stellt. Wir wollen Kinder, Jugendliche und Erwachsene motivieren, sich literarisch mit den Themen, die die Welt bewegen, auseinanderzusetzen."

Während im September 2023 in der "Mitte-Studie" der Friedrich-Ebert-Stiftung zu lesen war, dass "jede 12. Person in Deutschland ein rechtsextremes Weltbild (teilt)" und fast sechs Prozent der befragten 18- bis 94-Jährigen der Aussage zustimmen, "Es gibt wertvolles und unwertes Leben", begegnen Cyrilla Gadient, Barbara Brennwald, Ilaria Curti und die anderen 17 Lesenden wieder solch rechtsextremen Weltbildern und populistischen Parolen mit Mut zum kritischen Denken und ihrer Arbeit am 31. "Kolibri". Wieder sucht die Kolibri-Redaktion nach Büchern, die zur Verständigung zwischen den Kulturen und zur Reflexion über das Fremde beitragen und zu neuen Einsichten führen können. "Solche Bücher", bekundet Cyrilla Gadient und lächelt zuversichtlich, "öffnen den Horizont und beflügeln die Gedanken."


Kolibri 2023/2024 – Kulturelle Vielfalt in Kinder- und Jugendbüchern, 30. Ausgabe, Baobab Books 2023, 70 Leseempfehlungen, 92 Seiten, 5 Euro, ISBN 978-3-907277-18-8. Erhältlich im Buchhandel, bei Baobab Books (CH) oder beim Arbeitskreis für Jugendliteratur (D/A).

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