Kindern auch etwas zumuten
Tod, Krieg, Rassismus, Holocaust, Terror – sind das Themen für Kinder- und Jugendbücher? Cyrilla Gadient meint: Ja! Man könne Kindern, in gewissen Grenzen, schon etwas zumuten. Alex Wheatles "Cane Warrior", die Geschichte rund um den größten Sklavenaufstands in der Karibik im 18. Jahrhundert, erzählt aus der Sicht des 14-jährigen Mo, hält sie für eine solche Zumutung. "Wir haben das Buch empfohlen, weil sich dieser Junge, die Hauptperson, ständig hinterfragt, auch die eigene Gewalttätigkeit. Und das wird vermittelt. "
Die internationale Grundschul-Lese-Untersuchung des IFS Dortmund für 2021 hat ergeben, dass ein Viertel der Kinder die Grundschule verlassen, ohne richtig lesen zu können. Kinder lernen leichter lesen, haben früh einen größeren Wortschatz, sind einfühlsamer und haben in vielen Fächern bessere Noten, wenn ihnen regelmäßig vorgelesen wird. Das ist das Ergebnis des Vorlesemonitor 2023 der Stiftung Lesen. Vier von zehn Kindern werde zu Hause selten oder gar nicht vorgelesen, beklagt die Stiftung. Allerdings heißt das auch, dass sechs Kindern regelmäßig vorgelesen wird. Das reicht offenbar für einen deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchmarkt mit rund 8.000 Neuerscheinungen jährlich. Und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels berichtet, dass Kinder- und Jugendbücher, nach der Belletristik, "zweiter wichtiger Umsatzträger im Buchhandel sind … mit einem Marktanteil von 18,5 Prozent". Gelesen wird also. Nur – würden Kinder, wenn sie selbst aussuchen könnten, zu einem ukrainischen Märchen wie "Das Rübchen – Ripka" greifen und Jugendliche sich selbst freiwillig mit einem Buch wie "Cane Warrior" konfrontieren? Immerhin ist "Wolf" von Saša Stanišić, von der "Kolibri"-Redaktion mit einer "Perle" als herausragendes Buch gekennzeichnet, auf Platz vier der Spiegel-Bestseller-Liste Oktober gewesen.
Seit 1975 gibt es die Empfehlungsliste für diese besonderen Kinder- und Jugendbücher nun schon. Herausgegeben wurde sie in den ersten 30 Jahren von der "Erklärung von Bern" (EvB), einer entwicklungspolitischen Schweizer NGO, die es unter dem Namen "Public Eye" auch heute noch gibt. Die "Erklärung von Bern" wurde 1968 von einer Gruppe von Theologen formuliert, die damit gegen die wachsenden Wohlstandsunterschiede zwischen "Erster" und "Dritter Welt" protestierten. "Wir, die wir zu den Begünstigten in der Welt gehören, versäumen unsere erste Pflicht, wenn wir nicht alles, was uns nur möglich ist, tun, um den Kampf gegen Hunger und Elend zu führen, der zugleich der Kampf für die Rechte und Würde des Menschen ist", hieß es dort unter anderem. In der Folge gab es eine Reihe von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Projekten. Eben auch die Empfehlungsliste "Dritte Welt in Kinder- und Jugendbüchern", die von Regula Renschler, der damaligen Sekretärin der "Erklärung von Bern", mit initiiert wurde. Renschler, Literaturwissenschaftlerin und Journalistin, leitete einige Jahre den Bereich "Rassismus – Ethnozentrismus – Kulturbegegnung" der EvB. Ihr Buch "Das Gift der frühen Jahre – Rassismus in der Jugendliteratur" von 1981 könnte mit seinen aufschlussreichen Untersuchungen und Analysen eine Art frühes Handbuch für den aktuellen "Kolibri" sein.
Wie Rassismus und Ausgrenzung thematisieren?
"Die Themen, die die Welt bewegen, bilden sich immer auch in der Kinder- und Jugendliteratur ab", ist Cyrilla Gadient überzeugt. "Nach 9/11 sind vermehrt Bücher zum Islam erschienen, nach 2015 nahmen Publikationen zu Flucht und Krieg zu. Als ich bei diesem Projekt angefangen habe, gab es viele 'Indianerbücher', aber nicht viele, die wir empfehlen konnten. Schwierig finden wir, dass es im Augenblick viele Bücher gibt zum Schlagwort 'Diversität', die sehr oberflächlich sind." Während die Verlagsprogramme aktuellen Trends folgen, sind die Schwerpunkte des "Kolibri" weitgehend gleich geblieben. "Unser Ausgangspunkt ist immer die Frage: Wie wird Kultur thematisiert und wie werden Menschen aus verschiedenen Kulturen dargestellt. Wie werden die Themen Rassismus, Vorurteile und Ausgrenzung aufgegriffen und das Zusammenleben reflektiert. Und wir wünschen uns", und das ist Gadient besonders wichtig, "dass man sich selber Fragen stellt. Wir wollen Kinder, Jugendliche und Erwachsene motivieren, sich literarisch mit den Themen, die die Welt bewegen, auseinanderzusetzen."
Während im September 2023 in der "Mitte-Studie" der Friedrich-Ebert-Stiftung zu lesen war, dass "jede 12. Person in Deutschland ein rechtsextremes Weltbild (teilt)" und fast sechs Prozent der befragten 18- bis 94-Jährigen der Aussage zustimmen, "Es gibt wertvolles und unwertes Leben", begegnen Cyrilla Gadient, Barbara Brennwald, Ilaria Curti und die anderen 17 Lesenden wieder solch rechtsextremen Weltbildern und populistischen Parolen mit Mut zum kritischen Denken und ihrer Arbeit am 31. "Kolibri". Wieder sucht die Kolibri-Redaktion nach Büchern, die zur Verständigung zwischen den Kulturen und zur Reflexion über das Fremde beitragen und zu neuen Einsichten führen können. "Solche Bücher", bekundet Cyrilla Gadient und lächelt zuversichtlich, "öffnen den Horizont und beflügeln die Gedanken."
Kolibri 2023/2024 – Kulturelle Vielfalt in Kinder- und Jugendbüchern, 30. Ausgabe, Baobab Books 2023, 70 Leseempfehlungen, 92 Seiten, 5 Euro, ISBN 978-3-907277-18-8. Erhältlich im Buchhandel, bei Baobab Books (CH) oder beim Arbeitskreis für Jugendliteratur (D/A).
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