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Auf der Straße

Der größte Riasl der Welt

Auf der Straße: Der größte Riasl der Welt
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Lange dachte ich, es schärfe den Verstand, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Mein Denkfehler bestand womöglich nicht nur in der Annahme, einen Verstand zu besitzen. Inzwischen befürchte ich in den Straßen der Stadt das Schlimmste, sobald ich mich umsehe. Ohne Warnung bist du eingekesselt von einer der Trachtentruppen, die das sogenannte Volksfest auf dem Cannstatter Wasen ansteuern. Du kommst dir vor wie in einem Eingeborenenreservat bayerischer Faschingswilderer.

Ich hab' mich gefragt, ob die "Tracht Prügel" etwas mit dem Dirndl- und Lederhosen-Fetischismus zu tun hat. Eher nicht. Das Wort Tracht bedeutet auch Last, der Mensch kann demnach, sofern er das Bedürfnis hat, nicht nur eine ordentliche Ladung Prügel beziehen, sondern auch eine geballte Tracht Holz oder Stroh mit sich herumschleppen, oft und gern im Kopf. Der Ausdruck "Jemandem nach dem Leben trachten" wiederum hat nichts mit Zielobjekten in Folklore-Uniform zu tun, er kommt aus dem Althochdeutschen und Lateinischen (tractare) und bedeutet: bemühen, anstrengen.

Viele, die ihre schwere Tracht Trachten lieben, trachten vermutlich danach, die Sau rauszulassen, die sie eh schon sind oder gern wären. Komme mir jetzt niemand mit der Spitzfindigkeit, ein Dirndl sei keine Tracht, sondern nur etwas Stoff zur Körperbedeckung. Und die Lederhose, die ich trage, lasse ja zu meinem großen Glück offen, ob sich darin mein Gesicht oder Arsch versteckt.

Grundsätzlich habe ich nichts gegen Rummelplätze. Im Gegenteil. Der Jahrmarkt hat einst eine Menge Dinge gefördert, die mit unserem Leben zu tun haben. Das Theater und das Kino, die Achterbahn und den Scharlatan. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg – das hat mir mal ein Großschausteller erzählt – eröffnete ein erfahrener Rummelprofi auf dem Volksfest eine Bretterbude mit schwarzem Vorhang und der Schrifttafel: "Blick ins Jenseits". Scharenweise lösten die Leute bei ihm Eintrittskarten für zehn Pfennig – und sahen alsbald erregt hinter dem Vorhang das andere Ufer einer Welt, die verblüffende Ähnlichkeiten mit dem nahen Neckarufer aufwies.

Saufen als "mentales Krisenbewältigungsprogramm"

So kam es, dass in der Stuttgarter Politik die Wirklichkeit bis heute keine Rolle spielt. Man wähnt sich gern in der wichtigsten Stadt der Welt, umso mehr, seit ein Rathäusler aus Backnang den OB- und Fassanstecher-Job übernommen hat. Dieser Herr eröffnete den Bierzeltrummel mit den Worten: "... ich begrüße Sie in aller Form und in allen Ehren zum 176. Cannstatter Volksfest, zum schönsten, stimmungsvollsten und damit aus meiner Sicht allergrößten Volksfest in Deutschland, Europa und der Welt."

Es wäre falsch, darin angesichts unseres wahren Diesseits auch nur einen Hauch Ironie zu erkennen, denn, hat Wolfgang Neuss einmal gesagt: "Herr Ober, die nächste Lage ist ernst." Also sprach Stuttgarts Oberster: "Wir leben in krisenhaften Zeiten, aber gerade in diesen Zeiten brauchen wir das Cannstatter Volksfest als mentales Krisenbewältigungsprogramm ... Auch in diesen Tagen dürfen wir den Riasl net hänge lasse."

Mit "Riasl" ist vermutlich der Rüssel gemeint. Dieses Körperteil wiederum sollte nicht verwechselt werden mit einem zentral gelegenen Männerorgan, das zuletzt wegen der sexuellen Vorlieben eines suspendierten Stuttgarter Polizeiinspekteurs bundesweit Schlagzeilen machte. Statt des hängenden Rüssels, so heißt es weiter in der Bierfesthymne des Rathaus-Komikers, bräuchten wir "Optimismus, Zuversicht und Lebensfreude, verbunden mit Vernunft und einem aufgeklärten Blick auf den Ernst der Lage". Damit sind wir wieder sehr nah am "Blick ins Jenseits", der im Fall des OB keinen Pfennig wert ist. Der Groschen fällt eh nicht mehr.

Ein paar weitere Zeilen aus der Bierzeltrede muss ich trotzdem noch zitieren, damit das Jenseitige dieser Stadt klarer wird: "Bei unserem Volksfest erwacht das württembergische Selbstbewusstsein. Es stärkt die schwäbische Identität. Und es ist das Fest, das die Schwaben in aller Welt verbindet – etwa in den traditionsreichen Cannstatter Volksfestvereinen in Cannstatt, Chicago, New York City und Philadelphia."

Das hätte man kürzer sagen können: Überall wird gesoffen, bis dir der Kamm schwillt. Und da wir zwischen Cannstatt und Chicago schon bei der Verknappung der Welt sind, muss ich noch einen relativ aktuellen Tagesordnungspunkt des Stuttgarter Gemeinderats erwähnen: "Kurzer Sachbericht zur Ausländerbehörde durch das Referat SOS und das Amt für öffentliche Ordnung." Die Abkürzung SOS steht in diesem Fall nicht für die Seenotrettung geflüchteter Menschen und solche, die in Endlosschlangen vor dem Gebäude mit dem weltläufigen Namen Schwabenzentrum auf einen Termin in der Ausländerbehörde warten. Es geht um "Sicherheit, Ordnung und Sport". Sportlich, wie ich bin, möchte ich den kurzen Sachbericht im Sinne des mentalen Krisenbewältigungsprogramms des OB und seiner CDU in gebotener Knappheit formulieren: "Ausländer raus. Grenzen zu." So stärken wir mit Zuversicht und Lebensfreude die schwäbische Identität. Wir sind das Volksfestvolk.

Mit aufgeklärtem Blick auf die braunen Haufen

Dass unterdessen die Völkischen immer stärker werden, sollte unseren Bierschaum-Optimismus nicht dämmen, vor allem nicht den "aufgeklärten Blick auf den Ernst der Lage". Zu diesem Blick gehört in der Parteienpropaganda, sämtliche wissenschaftlichen Ergebnisse der Migrationsforschung zu missachten und stattdessen das Klima des Hasses zu schüren. Ignoriert werden muss dringend auch die Erkenntnis, dass die Rechten immer mehr werden, je öfter Konservative der miesen Politik der Rechten hinterherhecheln und deren schmutzige Sprache sprechen.

Da fällt einem der mittelständische Privatflieger Merz ein, wie er auf seiner Brandstiftermauer mit geschwollener Lügenbacke gegen abgelehnte Asylbewerber hetzt: "Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine." In Wahrheit war es unsereiner, der trotz vorheriger Fluchtgedanken neulich beim Zahnarzt saß und sich einen Weisheitszahn ziehen ließ. Weisheit ist Geschichte, die Faschisten zeigen ihre Giftzähne und die übelsten Vorurteile werden so offen ausgesprochen wie lange nicht.

Eingangs habe ich erwähnt, dass mich als Spaziergänger in der Stadt immer öfter die Angst überkommt, mich umzusehen. Das liegt nicht in erster Linie an den Trachten oder an der krank machenden Werbeflut auf Schritt und Tritt. Etwa wenn ich an den Zäunen einer Riesenbaustelle Botschaften wie diese sehe: "Jetzt den perfekten Ort für bebende Beats und endlose Nächte sichern", "Neuer Bau trifft alten Charme". Oder in der U-Ebene auf der Leuchttafel eines Protzbauten-Kaufhauses alten Käse aus der Hochstapler-Abteilung lese: "Das Flanier Quartier", während gegenüber ein Online-Unternehmen sozialdemokratische Maßnahmen zur Entlastung meines Zahnarztes einblendet: "Migration: Nancy Faeser plant stärkere Grenzkontrollen im Osten". Meine Zuversicht und bebende Lebensfreude werden vollends grenzenlos, wenn mir wie neulich abends auf der Straße ein weithin als anständig und tolerant bekannter Gastwirt erzählt, dass neuerdings selbst an seinem bisher friedlichen Tresen die Hetze vor allem gegen schwarze Menschen und Sinti und Roma immer lauter und brutaler wird. Alltag in der Stadt.

Demnächst werde ich eine Bude mit schwarzem Vorhang eröffnen. Auf ihrem Schild steht: "Aufgeklärter Blick auf den Ernst der Lage". Die Leute werden in Scharen kommen – und voller Optimismus, Zuversicht und Lebensfreude auf einen großen braunen Haufen schauen. Der dampft vor unserer Haustür. Prost!
 

Joe Bauers Flaneursalon wird 25 Jahre alt und präsentiert aus diesem Anlass am 21. November im Theaterhaus Stuttgart eine Extra-Ausgabe seiner Lieder- und Geschichtenshow. Weitere Informationen gibt's hier


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