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Auf der Straße

Das Meißel-Massaker

Auf der Straße: Das Meißel-Massaker
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Es war erst kurz nach neun und schon verdächtig dunkel im August. Die Backsteinhäuser gegenüber meiner Wohnung ragten in bedrohlich schimmerndem Braun in den Abendhimmel, und hinter keinem einzigen der vielen Fenster auf mehreren Stockwerken brannte Licht. Die letzte Rettung in meiner Straße ist der Alsendiebad Markt, ein kleiner, bis zehn geöffneter Überlebensladen. Hier bekommst du Wassermelonen und Whisky, Seife und Schawarma, Whisky und Klopapier. Ich besorgte mir Fladenbrot, Tomate und Fetakäse und blieb noch einmal gebannt vor den leblosen Häusern stehen. Drinnen womöglich alle tot. The Big Sleep.

Wie in Raymond Chandlers Roman "Der große Schlaf" sah der Himmel über mir "nach hartem, nassem Regen" aus, und dann traf auf meinem Taschentelefon via Whatsapp ein Foto ein, das eine Hütte mit spitzem Giebel zeigte. Sah aus wie eine Kapelle. Die Message kam aus dem Nest Carmel irgendwo in Kalifornien, und vor der vermeintlichen Kapelle stand ein Schild: "City Hall". Es musste das Rathaus sein, in dem Clint Eastwood eine Zeit lang den Bürgermeister im richtigen Leben spielte. Jedenfalls so lange, bis er begriff, dass er die verdammte Bürokratie seiner untergehenden Nation nicht wie Dirty Harry mit einer 44er Magnum in Zaum halten konnte.

Das Bild war der Gruß einer Freundin, und mir ging ein Licht auf. Es waren Ferien, die Häuser dunkel wie meine Seele. Alle waren in Amerika, nur ich stand mit Fladenbrot, Tomate und Fetakäse dumm in meiner Straße herum. Man kann mich für einen Zurückgebliebenen halten, für einen Loser, der die City Hall in Carmel zu Lebzeiten Clint Eastwoods (93) nicht mehr sehen wird. In Wahrheit aber bin ich ein Reisemuffel. Einer, der seinen Standort nur wechselt, um triumphierend festzustellen, dass in New York der gleiche Jägermeister getrunken wird wie vor seiner Haustür. Und komme mir jetzt niemand mit der einzigartigen Kunst da draußen. Die ist in jeder Stadt nur anstrengend.

Bauschige Wölkchen und ein sicherer Tod

Neulich habe ich mit viel Glück die Riesenchance auf eine Art Zwangsreise verpasst. Glück, weil ich in meiner Straße mit den toten Häusern anscheinend ein paar Zentimeter außerhalb der politisch anerkannten Schweinelärmzone wohne. Ich hatte einen Brief von der Deutschen Bahn erhalten: Die "Arbeiten für das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm" schritten "weiter voran" und das seit 30 Jahren. Für den weiteren Tunnelterror seien "Lkw-Fahrten" und "Meißelarbeiten" notwendig und zwar Tag und Nacht von Freitag bis Sonntag. Und dann die Botschaft: "Sofern besonders lärmintensive Arbeiten anstehen, die dazu führen, dass Anwohnerinnen und Anwohner auf Kosten der Deutschen Bahn in einem Hotel übernachten können, werden die Betroffenen rechtzeitig von uns in einem gesonderten Schreiben informiert."

Dieses Schreiben erhielt ich nicht. Ich wohne acht Hausnummern, also nur vier tote Häuser von der Hotelübernachtungs-Grenze entfernt und muss deshalb das Meißel-Massaker aushalten, so wie Tag und Nacht die Luft in meiner Ecke. Von einem Vertrauensmann aus der benachbarten Lärmzone habe ich erfahren, dass 100 Euro pro Kopf und Übernachtung plus Frühstück für die Evakuierung bezahlt werden. Wo das Hotelzimmer gebucht wird, spielt laut DB-Brief keine Rolle. 100 Euro sind mehr als 100 Dollar, dafür hätte ich mir eine Bude neben der City Hall von Carmel-by-the-Sea nehmen können. Auch die Anreise hätte ich geschafft, weil ich normalerweise nicht den Luftbus der Regierung, sondern den Linienbus nehme.

Fällt mir ein, dass ich neulich zufällig in ein Taxi stieg, das innen nicht wie ein Taxi aussah. Ich brauchte dringend ein Auto, weil das "Bahnprojekt Stuttgart-Ulm", in Fachkreisen auch als Stuttgart 21 bekannt, regelmäßig weite S-Bahnstrecken eliminiert. Es war verdammt schwül an diesem Tag, heiß wie in Kalifornien, sodass mein körpereigener Antrieb komplett ausfiel. Auch konnte ich nicht einfach meinen Rucksack abwerfen wie Frau Baerbock mal eben 80 Tonnen Kerosin.

Der Innenraum des schwarzen Mercedes-Taxis war mit weißem Leder ausgestattet, die Beinfreiheit besser als in Baerbocks Schrott-Jet und das Display raumgreifender als in Elon Musks Rakete. Die Taxifahrerin klärte den Fußreisenden a. D. auf, es handle sich um eine Droschke vom Typ "S-Klasse Minister". Yeah. He was Kretschmänn for a day.

Da die Landeklappen nicht versagten und das Auto nicht im Auftrag der Deutschen Bahn unterwegs war, kam ich pünktlich am Zielort an – und nicht daran vorbei, mir wieder mal Gedanken über meine chronische Reisemuffelei zu machen. Meine Lieblingsgeschichte aus dem internationalen Luftverkehrs-Genre heißt "Guten Flug". Sie stammt von T. C. Boyle und beginnt ausgesprochen einfühlsam: "Als das Triebwerk unter der rechten Tragfläche auf einmal ein dünnes Fähnchen schmierigen schwarzen Rauchs nach sich zog, spähte Ellen durch das zerkratzte Plexiglasfenster auf die bauschigen Wölkchen, die sich über und hinter ihr türmten, und wusste, dass sie sterben würde."

Kein Ballermann à la Dirty Harry

Nach meinen Reiseerfahrungen wäre der Tod auf Tour oft nicht die schlechteste Lösung, jedenfalls nicht, wenn man sich philosophisch seriös auf sein Schicksal vorbereitet. Immer wieder sollten wir uns klarmachen, dass wir mit dem Tod nicht unser ganzes Leben verlieren, sondern nur einen noch ausstehenden Teil davon, weil wir zuvor ja schon eine Weile gelebt haben, selbst wenn von uns selbst unbemerkt. Was soll's. Wie groß sein restlicher Lebensanteil ist, weiß der Spaziergänger sowieso nicht, weil ihn schon morgen ein S-Klasse-Minister von der Straße pusten kann. Weiß das Leder, rot das Blut.

Mich wegen meiner Attacken auf die Reise-Meise der Deutschen für einen Ballermann à la Dirty Harry zu halten, wäre nicht gerecht. Selbst angesichts steinalter, panzerböse ratternder Rollkoffer greife ich, längst abgehärtet vom Donnern der Skater im Nahverkehr der Stadt, nur selten zum Meißel. Empfehlen möchte ich die Worte des Pazifisten und Antimilitaristen Eugen Roth: "Die besten Reisen, das steht fest, sind die oft, die man unterlässt."

Heftige Zweifel am Tourismus hatte ich übrigens schon, als ich ökologische Fußabdrücke noch für Indizien aus Detektivromanen hielt. Nie habe ich ein gutes Gewissen, wenn ich in den Revieren fremder Menschen herumtrampele, auch nicht, wenn man mir sagt, die Einheimischen bräuchten dringend das Geld des Eindringlings. Auch dass Reisen bildet, ist Humbug. Viel lehrreicher sind die schönen Dokus über fremde Länder auf Arte – und die babylonischen Mobiltelefon-Dialoge erregter Menschen aus aller Welt in meiner Straße, wenn nicht gerade Ferien sind.

Schuldig geblieben bin ich hier noch das Ende von T. C. Boyles Geschichte. In Los Angeles gestartet, landet Ellen mit lächerlichen acht Stunden Verspätung in New York. Zuvor hat sie ein paar aufregende Notlandungen erleben dürfen. Kaum erwähnenswert die kleine Unannehmlichkeit, dass sie das Gesicht eines durchgeknallten Passagiers in Notwehr mit der Gabel zerfleischen musste. Wieder am Boden, malt sie sich aus, wie ihre Mutter sie gleich in die Arme nehmen und die Frage stellen wird: "Hast du einen guten Flug gehabt?"


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1 Kommentar verfügbar

  • Max Eifler
    am 23.08.2023
    Antworten
    Hat mir gut gefallen, Joe.
    Danke!
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