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Auf der Straße

Früchte des Zorns

Auf der Straße: Früchte des Zorns
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Am Urbansplatz höre ich spätabends Paukenschläge aus den Räumen der Musikhochschule. Trommeln in der Nacht. In der Nachbarschaft sind die Büros des Mietervereins, und in dieser Umgebung kannst du nicht laut genug trommeln. Es ist Juli und heiß. In der Nähe meiner Mietwohnung gehe ich die Moserstraße entlang. In der Ferne kann ich den Fernsehturm sehen. Und wieder einmal spüre ich, dass meine Herumgeherei nur noch wenig mit meinen früheren Spaziergängen zu tun hat. Als ich ziellos den Wegweisern meiner Neugier folgte.

Inzwischen ist mein Spaziergang ein Strapaziergang. Nicht nur wegen der lautlosen Autos, Roller und Räder in mieser Luft. Es ist das Grübeln. Der Hans Guck-in-die-Luft ist tot, geblieben ein kopflastiger Fußarbeiter, der mental nicht mehr richtig auf die Beine kommt.

Das Wort spazieren leitet sich aus dem italienischen spaziare und aus dem lateinischen spatiārī ab; es hat etwas mit Umherschweifen zu tun, mit Bewegung, die unsereiner als Exemplar der Gattung Gehendes Tier dringend nötig hat. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Ende 2021 gesagt, der Spaziergang habe "seine Unschuld verloren". Mit dieser Phrase meinte er die als "Spaziergänge" getarnten Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen. Politisch motivierte Aufmärsche, die als Spaziergänge deklariert wurden, gab es allerdings auch schon früher, etwa bei der rassistischen Pegida.

Wenn ich heute durch die Straßen gehe, geht mir der Krieg durch den Kopf, die Schwierigkeit, darüber noch irgendwo konträre Meinungen ohne aggressive Attacken zu äußern. Das Klima ist vergiftet. In meiner Not habe ich begonnen, Carl von Clausewitz' Standardwerk "Vom Kriege" zu lesen, Gedanken des großen Kriegstheoretikers über Glück und Geschick in militärischen Auseinandersetzungen. Unter der Überschrift "Nachrichten im Kriege" schreibt er, "die meisten Nachrichten sind falsch, und die Furchtsamkeit der Menschen wird zur neuen Kraft der Lüge und Unwahrheit". Im Kapitel "Friktionen im Kriege" vergleicht er den Krieg mit einer einfachen Reise, die kurz vor dem Ziel wegen unerwarteter Hindernisse zu scheitern droht. "So stimmt sich im Kriege durch den Einfluss unzähliger kleiner Umstände, die auf dem Papier nie gehörig in Betrachtung kommen können, alles herab, und man bleibt weit hinter dem Ziel."

Ein Pazifistenlump im Silberknie

Anzunehmen ist, dass sich im Computerzeitalter nichts an dieser Verkettung unberechenbarer Umstände geändert hat. Was Millionen Aufrüstungsexperten hierzulande nicht daran hindert, ihre alleingültige Meinung über Strategie und Sieg im Krieg in der Ukraine in die Welt mit all ihren asozialen Medien zu trommeln. Und jeden Zweifel am Erfolg von Waffen als Verrat eines Lumpenpazifisten zu verhöhnen. Und so werde ich als einer, der beim Spazieren über seine Zweifel strauchelt, wohl für einen Pazifistenlumpen gehalten, wenn ich noch mal den Fachmann CC zitiere: "Da der Krieg kein Akt blinder Leidenschaft ist, sondern der politische Zweck darin vorwaltet, so muss der Wert, den dieser hat, die Größe der Aufopferung bestimmen, mit welcher wir ihn erkaufen wollen. Dies wird nicht bloß der Fall sein bei ihrem Umfang, sondern auch bei ihrer Dauer. Sobald also der Kraftaufwand so groß wird, dass der Wert des politischen Zwecks ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten kann, so muss dieser aufgegeben werden und der Frieden die Folge sein."

Frieden. Das Unwort. Verpönter als Streumunition, den "Wert des politischen Zwecks" bestimmt eine politische Schreibtischtruppe, der auch ein Clausewitz nicht gewachsen wäre. Und ein weiteres Mal wird man mir sagen, dass Putin wie Hitler sei – und eine differenzierte Sicht auf den Einfluss unvorhersehbarer Umstände im Kriege nur ein naiver Pazifismuslump wagen könne.

So stiefle ich weiter, wankelmütig wankend. Gelegentlich mache ich Rast in einem Tagescafé in der Moserstraße. Es heißt "Silberknie" und spielt, sagt mir eine Mitarbeiterin, auf das "Hüftgold" an. Nicht weit entfernt vom Silberknie gibt es das Café "Hüftengold". Der korrekte Neologismus lautet "Hüftgold", er zielt spöttisch-ironisch auf zu viel Fett in einer Körperzone, die beim Training mit dem Hula-Hoop-Reifen eine zentrale Rolle spielt.

Damit sind wir beim Humor, dessen Bewertung mir inzwischen so komplex und absurd erscheint wie die des Kriegs. Wir müssen froh sein, dass neulich nach der Äußerung der Kabarettistin Christine Prayon in Kontext, sie habe für die TV-Formate "heute-show", "Die Anstalt" und Jan Böhmermanns "ZDF Magazin Royale" nichts mehr übrig, kein Bürgerkrieg ausgebrochen ist. Die geballte Wut über öffentlich-rechtliche Medien und ihren Umgang mit "Andersdenkenden" entlud sich blitzartig über etwas, das man anscheinend "Satire" nennt. Dieses mysteriöse Monstrum definiert der Duden so: "Kunstgattung (Literatur, Karikatur, Film), die durch Übertreibung, Ironie und [beißenden] Spott an Personen, Ereignissen Kritik übt, sie der Lächerlichkeit preisgibt, Zustände anprangert, mit scharfem Witz geißelt".

Mit angemessenem Ernst behaupte ich, dass Satire etwas mit Humor zu tun hat, auch wenn dieses "Element" laut Tucholsky dem "deutschen Menschen abhanden gekommen" ist. Nun will ich unzähligen humorfreien Aufsätzen und Zigtausenden von Kommentaren zum Zustand der deutschen TV-Satire im ZDF keine weitere "Analyse" hinzufügen. Mein Humor ist nicht so fein wie Clausewitz' Kriegsphilosophie, und so überkommt mich bei meiner Café-Rast die Lust, in keineswegs satirischer Übertreibung zu brüllen: "Ja, fickt euch doch ins Silberknie."

Politische Taskforce zur Satireüberwachung

Mein Akt der Poesie beim Blick auf die vielen – im kapitalistischen Überfluss angefressenen – Fetthüften taugt durchaus als radikale Kapitalismuskritik, wie sie dem Vernehmen nach im kapitalistischen Satirebetrieb des kapitalistischen ÖRR nicht möglich ist. Meinen Silberknie-Auswurf werde ich mit Rücksicht auf die Andersdenkenden nicht mit Böhmermanns Stinkefingern bekräftigen. Womöglich nehme ich die ganze Faust, wenn Herr Welke noch mehr flugtaugliche Unterhosen und frische Hubschrauber für die Bundeswehr einklagt.

Zwecks sofortiger Aufarbeitung des Satire-Skandals fordere ich eine politische Taskforce zur Überwachung absoluter Ausgewogenheit im medialen Übertreibungs-, Ironie- und Spottgewerbe. Ein Witzkontrolldienst (WKD) für die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens ist so notwendig wie die rasche Gründung der Satire-Prüfungsanstalt Deutschland (SPD). Angesichts des brodelnden Satiresumpfs muss vor jedem verdächtigen Studio ein Satire-Einsatzkommando (SEK) bereitstehen. Wir müssen über die Abgründe der Satire aufgeklärt werden, bevor unausgewogene Satiriker mit ihrer Art Aufklärung unsere Demokratiereste zerstören. Nur so schützen wir unsere ehrenwerte Gesellschaft vor weiterer Spaltung.

Das Oberkommando der Spezialoperation gegen die Kraft der Lüge könnte der wehrhafte Realsatiriker Anton Hofreiter an der Kabarett- und Comedyfront übernehmen, nachdem ihm ministerielle Befehlsgewalt im grünen Kompostbereich versagt geblieben ist. Der Begriff Satire wird übrigens aus dem lateinischen satira abgeleitet und bedeutet "mit Obst gefüllte Schale" – "buntes Allerlei". In dieser Schale stinken jetzt die Früchte des Zorns. Und vor lauter Freude darüber lachen sich die Rechten in ihrem Kulturkampf gegen demokratische Errungenschaften leider alles andere als tot.

PS: Wie's der Teufel will. Was einem alles begegnet. Neulich besuchte ich im Theaterhaus das sehr gut gemachte Theaterstück "Schütze Paul in Auschwitz". In dieser dokumentarisch unterfütterten Inszenierung erlebt man, wie die SS ihr KZ-Personal zu einer Varieté-Vorstellung dienstverpflichtet. Programmtitel: "Humor-Angriff".


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2 Kommentare verfügbar

  • bedellus
    am 15.07.2023
    Antworten
    Es bleibt nur noch Galgenhumor. Und der ist nicht witzig.
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