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Stuttgart 21

Nur über eine Weiche

Stuttgart 21: Nur über eine Weiche
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Ein Nebenschauplatz von Stuttgart 21 steckt voller Probleme: Der neue Abstellbahnhof in Untertürkheim ist zu laut und zu klein, die daneben liegende neue Rampe der Interregio-Kurve zu steil für Güterverkehr und eingleisig. Die Bahn scheint selbst zu ahnen, hier nicht gut geplant zu haben.

In Stuttgart-Untertürkheim wird es in einigen Jahren sehr laut werden. Ursache ist der im Zuge des Projekts Stuttgart 21 geplante neue Abstellbahnhof, der den bestehenden, die "Gleisharfe" am Rosenstein, ersetzen soll, um Platz zu schaffen für das größte neue Wohngebiet Stuttgarts. Doch in dem Neckarvorort gibt es Gegenwind: Gegen den geplanten Abstellbahnhof hat ein Anwohner Klage wegen Lärm eingereicht. "Ich mache das für die vielen Untertürkheimer, die vielleicht noch gar nicht ahnen, was da auf sie zukommt", sagt Michael Brunnquell, der auch Vorsitzender des Vereins "Lärmschutz Untertürkheim" ist.

"Klagen kann nur, wer persönlich betroffen ist und im Beteiligungsverfahren bereits Einwände geltend gemacht hat", erklärt Brunnquell. Das sind nicht viele. Und viele haben die Hoffnung, auf diesem Wege etwas zu erreichen, längst aufgegeben.

Nicht so Brunnquell, der erst 2011 nach Stuttgart kam, sich mit dem Tiefbahnhof damals noch kaum beschäftigt hatte und wissen wollte, was auf ihn zukommt. Als Wirtschaftsingenieur kann er mit technischem Vokabular umgehen. Er weiß, dass dB Dezibel heißt und 120 dB sehr laut sind. Seiner Klage soll eine Petition Nachdruck verleihen, die noch bis Ende August läuft. Unterzeichnet hat sie sogar die CDU-Stadträtin Beate Bulle-Schmid, weil sie "große Bedenken" sieht, "dass der Lärmschutz nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt ist".

Die Bahn rechnet den Ist-Zustand lauter

Ein Treffen auf dem Eszet-Steg, der das Baufeld überquert, um diesen Nebenschauplatz des Mammutprojekts Stuttgart 21 einmal näher anzusehen. Neben Brunnquell mit dabei ist Roland Morlock, Diplom-Physiker, Informatiker, Landesvorsitzender des Deutschen Bahnkunden-Verbands (DBV) und der vielleicht beste Kenner der Materie. Der Eszet-Steg war in Brunnquells ersten Jahren in Untertürkheim sein täglicher Weg zur Arbeit, zum Mercedes-Benz-Werk auf der anderen Seite der Schienen. Unter dem Steg erstrecken sich auf 150 Metern Breite Schienen, und Morlock zeigt, wo sich das Gelände längs in zwei Hälften teilt: in den bereits 2007 planfestgestellten Abschnitt PFA 1.6.a, die "Zuführung Ober-/Untertürkheim", und den Abschnitt 1.6.b, den Abstellbahnhof, erst im Dezember 2021 planfestgestellt.

Dieses Areal, der PFA 1.6.b, war einmal der Güterbahnhof von Untertürkheim. Der ist längst Geschichte. Schaltstelle für den Schienengüterverkehr in der Region ist seit mehreren Jahrzehnten der Rangierbahnhof Kornwestheim. Gleichwohl geht die Bahn davon aus, dass das Areal in Untertürkheim nur umgenutzt werde und sich die Lärmbelastung sogar verringere. Denn der Güterverkehr ins Remstal, der bis vor kurzem auf einem Gleis vorn an der Augsburger Straße verkehrte, direkt neben der Stadtbahnlinie 13, ist nun weiter weggerückt von der Wohnbebauung.

Das Lärmgutachten der Bahn bedarf einiger Erläuterung. Es unterscheidet zwischen einem Nullfall – dem aktuellen Zustand – und dem Planfall, wenn der neue Abstellbahnhof in Betrieb ist. Im Nullfall verkehren, dem Gutachten zufolge, in der Nacht (zwischen 22 und sechs Uhr) 18 Güterzüge. Doch das stimmt offenbar nicht. Brunnquell hat nachgefragt: Um 20:45 Uhr verlässt der letzte Güterzug den Hafen. Und er hat nachgezählt, bevor das Gleis an der Augsburger Straße im März stillgelegt wurde: Er kam nur auf sechs Züge, nicht 18. Was bedeutet: Die Bahn stellt den jetzigen Betrieb als viel lauter dar, als er in der Realität ist, um den Betrieb des zukünftigen Abstellbahnhofs leiser erscheinen zu lassen – obwohl er tatsächlich lauter sein werde als der jetzige Zustand, wie Brunnquell und seine Mitstreiter:innen betonen.

Lärm an der Schmerzgrenze

Dazu kommt: Wenn morgens die Züge den Abstellbahnhof verlassen, müssen die Lokführer zuvor die Signalhornprobe durchführen, auch Makrofonprobe genannt. Vor vier Uhr, so Morlock, treffen die ersten Lokführer ein. Mindestens drei Sekunden müssen sie das Signalhorn betätigen. Der Schallpegel in zehn Meter Entfernung beträgt 120 Dezibel.

120 Dezibel liegt an der Schmerzgrenze des menschlichen Ohrs. Als Dauerpegel sind bei einer bestehenden Anlage nachts nicht mehr als 60 Dezibel zugelassen, was ungefähr Straßenlärm entspricht. Das ist nicht etwa die Hälfte, denn alle 10 Dezibel verdoppelt sich die Lautstärke. 120 Dezibel sind 64-mal so viel wie 60.

Die Bahn ignoriert das. Ihr Gutachten geht davon aus, dass es sich beim Abstellbahnhof um Verkehrslärm handle. Dabei wird von einem Mittelwert ausgegangen: Zehn Züge pro Stunde machen doppelt so viel Lärm wie fünf. "Die entstehenden Emissionen der Signalhörner", so beschreibt der Anhörungsbericht vom 18. Dezember 2020 den Standpunkt der Bahn, "seien somit durch die Emissionen der ausfahrenden Züge mit abgedeckt. Eine Anpassung der Unterlagen sei daher nicht erforderlich."

Dreißigmal aus dem Bett fallen

Wenn es sich einfach um eine Bahnlinie handeln würde, wäre dieses Argument stichhaltig. Es kommt vor, dass ein Lokführer, auch nachts, bei Gefahr das Signalhorn betätigen muss. Das passiert aber nicht oft. Am Abstellbahnhof jedoch muss bei jedem ausfahrenden Zug die Makrofonprobe durchgeführt werden. Wenn es am nächsten Bahnhof zu einer Gefahrensituation käme, erklärt Morlock, und das Signalhorn nicht funktionieren würde, sei der Lokführer persönlich haftbar. "Deshalb wird kein Lokführer darauf verzichten, bevor er losfährt, das Signalhorn zu testen."

Die Frage, wie viele Züge morgens vor sechs Uhr nun tatsächlich den Abstellbahnhof verlassen werden, lässt die Bahn unbeantwortet. "Bitte haben Sie Verständnis, dass wir uns zu einem laufenden Verfahren grundsätzlich nicht äußern", antwortet ein Bahnsprecher auf Kontext-Anfrage. Derzeit starten vom Stuttgarter Hauptbahnhof vor fünf Uhr morgens fünf Züge, bis 6.30 Uhr – denn sie müssen den Abstellbahnhof ja früher verlassen – sind es über dreißig.

Auch wenn bei den Wohnhäusern, je nach Distanz, nicht unbedingt die vollen 120 Dezibel ankommen: Ein Signalhorn ist sehr laut. Es muss den Verkehrslärm übertönen. Dreißigmal dieses Pfeifen, morgens früh ab vier Uhr: Wer da nicht aus dem Bett fallen will, braucht einen guten Schlaf. Brunnquell hat einen Freund in München besucht, der dort direkt am Gleisvorfeld wohnt. Er sei jedes Mal aufgewacht, sagt er.

Steilere Rampe macht Gütertransport unwirtschaftlich

Die Klage wegen des Lärms ist nicht die einzige in diesem Bereich, eine weitere betrifft den angrenzenden Bauabschnitt 1.6b. Ein Güterverkehrsunternehmer klagt, weil die Bahn die Rampe, die vom bereits erwähnten Gleis an der Augsburger Straße auf die Strecke ins Remstal führte, abgebaut hat. Dafür hätte es einen Stilllegungsantrag gebraucht, sagt Morlock. Denn der Ersatz, die gut sichtbare neue Rampe, die in die sogenannte Interregio-Kurve mündet, ist steiler: 15,4 Promille gegenüber 12,5 früher.

Das sind 20 Prozent mehr Steigung. Was bedeutet, dass ein Güterzug künftig statt 1.450 nur noch 1.180 Tonnen ziehen kann, rechnet Morlock vor. Das entspricht 16 statt 20 Wagen. Dabei gelte unter Spediteuren die Faustregel: "Der letzte Wagen verdient das Geld." Die steilere Rampe mache den Gütertransport für den Unternehmer, der klagt, unwirtschaftlich. Deshalb hätte die Bahn die alte Rampe ohne Antrag auf Stilllegung nicht abbauen dürfen, betont Morlock.

Engpass hoch zwei

Damit nicht genug: Auf der Interregio-Kurve sollen einmal die Züge verkehren, die vom neuen Hauptbahnhof ins Remstal fahren und umgekehrt. Wenn man vom Eszet-Steg in die andere Richtung sieht, kommen zwei Gleise aus dem Tunnel hervor. Das eine führt tatsächlich auf die neue Rampe. Das andere endet irgendwann, so als hätte die Bahn noch keine Idee, wo sie damit hin soll. Die Interregio-Kurve samt Rampe ist also eingleisig. Die Bahn hat hier von Anfang an einen Engpass eingebaut – während die Stuttgart-21-Werbung doch stets die Beseitigung eines Nadelöhrs versprach.

Es kommt noch besser: Alle Personen- und Güterzüge, die auf die Rampe wollen, von der Rampe kommen oder an der Rampe vorbei nach Bad Cannstatt fahren und umgekehrt, müssen über eine einzige Kreuzweiche. Noch dazu in Schlängellinien, also im Schneckentempo. Darauf weist Roland Morlock zuallererst hin: Es ist, als hätte die Bahn alle Schienen verknotet, um aktiv für Verspätungen zu sorgen. Bis zu vier Züge fahren derzeit pro Stunde von Stuttgart in Richtung Crailsheim oder Aalen. Die Gegenrichtung mitgerechnet, sind das schon acht: alle siebeneinhalb Minuten ein Zug. Dazu kommen die Züge nach Bad Cannstatt und die Güterzüge. Alle müssen über diese eine Weiche.

Zu guter Letzt: Die Fläche des neuen Abstellbahnhofs ist viel zu klein – womöglich der Grund, warum die Bahn die alte Rampe abgebaut und die neue nur eingleisig geplant hat. 13 bis 18 Hektar sind es nach Angaben von Wikipedia. Der bestehende alte Abstellbahnhof, die Gleisharfe am Rosenstein-Park, hat 43 Hektar. Zwar will die Bahn den neuen um Flächen in Obertürkheim und Münster ergänzen. Aber die sind noch nicht da. Weitere Flächen, die etwa vom privaten Eisenbahnunternehmen Go Ahead hinter Aalen genutzt werden, seien nicht anrechenbar, betont Morlock, da sie sich in Privatbesitz befinden.

DB will alten Abstellbahnhof nicht mehr stilllegen

Sei es wegen all dieser ungelösten Probleme, sei es wegen der Klagen: Am 24. Juni 2022 hat die Bahn-Tochter DB Netze per Schreiben ans Eisenbahn-Bundesamt ihren Antrag auf Rückbau des bestehenden Abstellbahnhofs am Rosenstein zurückgezogen. In einem Änderungsvertrag mit der Landeshauptstadt Stuttgart würden "die Verantwortlichkeiten für den Rückbau und dessen formelle Beantragung neu geregelt".

Mit anderen Worten: Wenn die Stadt Stuttgart den Abstellbahnhof stilllegen will – die Voraussetzung für das Rosensteinquartier –, soll sie das selbst beantragen. Kann sie aber gar nicht, sagt der Rechtsanwalt Ulrich Ebert, der auch die beiden Kläger gegen den neuen Abstellbahnhof in Untertürkheim vertritt. Die Stilllegung von Bahnanlagen könne nur beantragen, wer sie betreibt. Also hier die DB.


Zur Lärmschutz-Petition geht es hier.


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11 Kommentare verfügbar

  • Jens
    am 25.08.2023
    Antworten
    "Nur über eine Weiche", ja logisch ist eine eingleisige Brücke letzen Endes über eine Weiche angebunden. Dies betrifft auch den heute aktuellen Bauzustand und da kann man, wenn man das überhaupt will, erkennen das für andere Richtungen auch andere Gleise und Weichen zuständig sind. Schlimmer wiegt…
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