An einem sehr heißen Sommertag, als ich beim Überqueren der Otto-Hirsch-Brücken sehr viel schlechte Luft geatmet hatte, ging mir das Wort "Fernweh" durch den Kopf. Tausend Meter Staub auf einer lärmenden Autostrecke mit verwaisten Rad- und Fußwegen lösen etwas aus. Das Wort "Fernweh", ermittelte ich mit meinem Taschentelefon, tauchte erst im 19. Jahrhundert auf. Der Landschaftsarchitekt und Reiseschriftsteller Fürst Hermann von Pückler-Muskau führte es als Gegenpol zum "Heimweh" ein. Diesen Herrn kennen wir aus der Eisdiele.
Ich hatte nie Heimweh, weil ich nie vertrieben wurde. Fernweh hingegen überkommt mich, wenn ich einen Ort wie die Otto-Hirsch-Brücken betrete. Sie sind einen Kilometer lang und verbinden Hedelfingen mit Obertürkheim. Zwischen den zwei Dörfern der Stadt blickst du hinunter auf Schnellstraßen und das Schienengewirr der Eisenbahn, auf den Neckar und die Kulissen des Stuttgarter Hafens. Du schaust auf Schrott- und Weinberge. Ich hätte Lust, von der Brücke auf einen Güterwaggon oder ein Frachtschiff zu springen, leider bin ich weder Hobo noch Pirat und für Stunts zu alt. Fernes bleibt fern.
Neulich kam ich von einem Ausflug in Laufschuhen durch das sogenannte Grün der Stadt zurück – und konnte meine vier Wände nicht mehr sehen. Ich duschte mein Leben in den Abfluss, packte einen kleinen Rucksack und eilte zur Bahnhofsruine in den S-Bahn-Untergrund. Irgendwohin, dachte ich, vielleicht zur Endstation Weil der Stadt, wo Wallensteins Astrologe Kepler geboren wurde. Oder zur Endstation Marbach, wo Wallensteins Seelendeuter Schiller das Licht der Welt erblickte. Das ist verdammt viel Ferne für einen mit Rentner-Abo in der S-Bahn.
Und plötzlich brüllt die Frau: "Du Drecksau!"
Während ich auf einen Zufallszug warte, lese ich in Joy Williams' neuem Kurzgeschichten-Buch ("Stories"). In "Lu-lu" erzählt sie von einer gleichnamigen Schlange, die beim alten Ehepaar Don & Debbie wohnt und Ratten frisst. Ich bin an der Stelle, an der Don sagt, dass niemand wissen kann, wer eine Seele hat und wer nicht. Debbie sagt, nur wer weinen kann, hat eine Seele. Womit geklärt ist, dass Lu-lu keine hat. Im Gegensatz zu mir, der Schlangen nur als Stiefel kennt. Und dann steht plötzlich eine Frau mit wilden Haaren und reichlich Übergewicht vor meiner Bank und brüllt: "Du Drecksau". Sie dreht ab, kommt aber postwendend zurück und kreischt wieder: "Du Drecksau". Keine Ahnung, warum. In Joy Williams' Geschichte häutet sich zwar einmal Lu-lu ohne jede Scham, daran aber kann ich nichts zwingend Säuisches erkennen. Bleibt nur der Verdacht, dass ich beim Lesen in der Nase bohrte, was ich nicht glaube. Es war an diesem Tag zu heiß zum Nasebohren.
Kaum habe ich mich erholt, brüllt eine andere Frau direkt vor mir: "Fuck you! Fuck you! Nobody likes me, cause I'm black ..." Ich fange an zu weinen, bis ich erleichtert feststelle, dass nicht ich alter Rassist gemeint bin, sondern der Typ mit dem kleinen, seelenlosen Hund auf der benachbarten Bank. Beide begreifen anscheinend nicht, was ihnen geschieht, und die Frau sondert weitere klangvolle Fuck-Versionen ab.
Als ich endlich in meinen Zufallszug nach Marbach fliehen kann, setzt sich ein jüngerer Mann mit Drei-Tage-Bart in meine Nähe. Ansatzlos erzählt er mir, dass er kommenden Freitag wieder einen Döner bekäme, "ganz umsonst, von den Türken". Leider kann ich die Döner-Sache nicht mehr klären: Der Mann redet nur noch mit sich selber. Als er beim nächsten Halt aussteigt, sehe ich, dass er ein kurzes schwarzes, gut sitzendes Frauenkleid trägt. Soll niemand glauben, diese Ereignisse hätten mich verstört. Wenn du an einem Klimakatastrophentag in die nahe Ferne fährst, landest du in der Wirklichkeit. Das ist das Leben.
Die Nacht im "Fremdenzimmer"
In Marbach entdecke ich nach kurzem Fußmarsch himmelwärts den Gasthof zum Bären mit dem Schild "Fremdenzimmer". Schon oft habe ich tausend Meter Staub überlebt und weiß: Ein Fremder reitet in die Stadt, der Rest ergibt sich. Dann quartiere ich mich für eine Nacht im Bären ein, sehr zufrieden, meinem Fernweh gefolgt zu sein. Als ich kurz darauf den steilen Marbacher Hügel hinunter zum Neckar und wieder hinaufstiefle, treibe ich mich mit einer Zeile aus der "Glocke" des Flüchtlings Schiller an: "Von der Stirne heiß rinnen muss der Schweiß." Das ist der Sinn des Lebens, falls du eine Seele hast.
Das Wort "Fremdenzimmer" ist im Kapitalismus übrigens längst außer Mode: Reisende, die eine Bleibe suchen, sollen sich überall heimisch wähnen. Es sei denn, sie sind Geflüchtete. Menschen, die nicht aus Fernweh reisen, sondern aus Hunger, Verfolgung, Krieg. Dass mich schon bald nach meiner Marbach-Ausfahrt auf den Otto-Hirsch-Brücken das Fernweh plagt, ist kein Zufall. Zu den Brücken ging ich, nachdem ich gelesen hatte, dass ein baden-württembergischer CDU-MdB namens Frei die Abschaffung des "Individualrechts auf Asyl" fordert. Stattdessen solle die EU ein "Kontingent" von Schutzbedürftigen aufnehmen: eine reglementierte Zahl von Menschen. Fast gleichzeitig sprach sich die Stuttgarter CDU dafür aus, Geflüchtete abzuweisen. Das Christlich Demokratische Ungeheuer steuert in seiner Gier nach Stimmen mit rassistischer Substanz den alternativ-deutschen Kurs nach rechts, vorbei an jedem Hafen der Menschlichkeit.
Weil diese verdammten Zahlen Menschen sind
Wenn du über Brücken gehst, kommen Dinge zusammen. Fernes ist nah. Und das Wort "Zahlen" mit Blick auf Menschen erinnert mich an etwas: Otto Hirsch wird 1885 in Stuttgart geboren. Er geht hier zur Schule, wird Jurist und Verwaltungsbeamter, einen Namen macht er sich als herausragender Pionier bei der Erbauung des Neckarkanals. Er ist Mitbegründer des Jüdischen Lehrhauses in Stuttgart und der Reichsvertretung der Deutschen Juden. 1933 zwingen ihn die Nazis, seinen Vorstandsposten bei der Neckar AG aufzugeben. 1935 wird er verhaftet und zieht nach seiner Freilassung nach Berlin; seine Familie folgt ihm. Im Juli 1938 vertritt er die deutschen Juden bei der Flüchtlingskonferenz in Evian, Frankreich. US-Präsident Roosevelt hat sie einberufen, diskutiert wird die beängstigende Lage der aus Deutschland und Österreich vertriebenen Juden. Die Konferenz endet so gut wie ergebnislos. Von Otto Hirsch überliefert ist dieses Zitat:
1 Kommentar verfügbar
Jörg Tauss
am 26.07.2023Dem gegenüber profan der Hinweis, dass die S-Bahn aktuell nur wegen S21 nur bis Marbach…