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Auf der Straße

Wie ein Wahnsinniger

Auf der Straße: Wie ein Wahnsinniger
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Ich habe es wieder getan. Bin abgehauen im Glauben, ich könnte diesem ganzen Um-mich-herum entkommen – und damit auch dem Kerl, der mir kaum weniger lästig ist. Dieses Unterfangen nennt man Flucht vor sich selbst. Jetzt sitze ich mit einem Laptop an einem Tisch und schaue durchs Fenster auf ein Bahngleis. Es liegt direkt hinter dem Garten meiner gemieteten Ferienwohnung. Wenn ich Lust bekäme, einen vorbeifahrenden Zug mit Steinen zu bewerfen, könnte ich ihn problemlos aus der Spur schießen.

Nicht nötig. Die hautnah vorbeirollende Eisenbahn hört man kaum. Als ich in den Fünfzigerjahren in einem heruntergekommenen Dorfbahnhof aufgewachsen bin, schepperte jedes Mal das Geschirr in den Schränken, wenn ein Zug vorbeidonnerte. Diese Geräusche erwärmten mich dennoch wie später Countrysongs: Züge ermuntern dich, alles hinter dir zu lassen. So wirst du ein Railroad Man.

Wenn ich heute Schienen vor dem Fenster sehe, erinnere ich mich nicht nur an die längst abgerissene Bahnstation. Bilder aus Woody Allens Film "Sweet and Lowdown" werden wach. Sean Penn spielt den Jazzmusiker Emmet Ray, den dummerweise nur zweitbesten Gitarristen hinter Django Reinhardt. Er hat die Macke, mit seinen Angebeteten zu Bahndämmen zu fahren, um Züge zu beobachten. Das ist sein liebstes Hobby neben dem Rattenschießen auf Müllkippen.

In Ostfriesland, wo ich gerade diese Zeilen tippe, sind Ratten für mich undenkbar. Die Rasen rund um die kleinen Backsteinhäuser wurden mit Nagelscheren gestutzt, die Menschen grüßen sehr freundlich und wählen, das hat man mir auf dem Marktplatz bei einer Erbsensuppe erzählt, mehrheitlich SPD. Früher übrigens noch viel mehr als heute, da die Sozen das 160-jährige Bestehen ihrer Partei feiern. 1863 gab es schon die Eisenbahn und leider auch gute Pistolen, weshalb der SPD-Urvater Ferdinand Lassalle im August 1864 bei einem Duell tödlich im Unterleib getroffen wurde. Dieses Männerritual hatte wegen einer Frauensache stattgefunden. Es wäre besser gewesen, der tapfere Ferdinand, erst 39 Jahre alt, hätte Zügen hinterhergeschaut und auf Ratten geschossen. Dann wäre die SPD heute womöglich eine sozialdemokratische Partei.

Fred Uhlmans "Reunion" im Koffer

Gegenüber dem Vordereingang des Ferienhauses liegt ein Friedhof, mit Ostfrieslands ältestem jüdischen Totenacker aus dem 16. Jahrhundert. Eine Hinweistafel für das "Mahnmal für die ermordeten Juden des Norderlandes" war das Erste, was ich nach meiner Ankunft am Ende der Welt wahrnahm und mit meinem Taschentelefon knipste. Ich erwähne das nicht, um irgendeine besondere Sensibilität vorzutäuschen. Vielmehr als Beweis für die Unmöglichkeit, mit einer Fahrt in die Weite des Nichts meine Hirnspeicher lahmzulegen.

Im Zug von Stuttgart Richtung Norden hatte ich wieder mal in Fred Uhlmans Buch "Erinnerungen eines Stuttgarter Juden" gelesen. 1960 in London unter dem Titel "The Making of an Englishman" veröffentlicht, wurde es trotz seines Erfolgs erst 1992 mithilfe des Stuttgarter Stadtarchivs ins Deutsche übersetzt. Neulich habe ich zufällig ein vergessenes Exemplar im Schaufenster einer Buchhandlung gesehen und es mir sofort gesichert. Immer wieder hatte ich mich mit dem Maler und Schriftsteller Fred Uhlman (1901 bis 1985) beschäftigt, etwa als sein Buch "Reunion" Ende der Achtziger von Hollywood-Regisseur Jerry Schatzberg mit Jason Robards in der Hauptrolle verfilmt wurde. In unseren Kinos lief der Film unter dem Titel "Der wiedergefundene Freund".

Am Stuttgarter Hölderlinplatz, vor dem Haus mit der Gaststätte Alte Wache, liegen heute die Stolpersteine für die ermordete Familie Uhlman. Fred, promovierter Jurist und Sozialdemokrat, konnte dank der Warnung eines entarteten Nazi-Richters nach Paris flüchten. Heute ist der international renommierte Künstler in seiner sogenannten Heimatstadt nicht mehr ganz so unbekannt; die Staatsgalerie etwa hat ihm 2021 eine kleine Ausstellung gewidmet.

Einer, der sich die Dinge dieser Welt beim Spazierengehen auf der Straße zusammenklaubt, findet auch keine Ablenkung, wenn er sich in den hintersten Zipfel der Republik verkriecht. Kaum hatte ich die Friedhofstafel in der kleinen Stadt namens Norden gelesen, griff ich wieder zu besagtem Buch. Nach dem Krieg kam Uhlman aus London für kurze Zeit zurück nach Stuttgart: "Ich ging auf den jüdischen Friedhof und nach langem Suchen fand ich endlich das Grab, zu dem ich wollte: das Grab von Lina Uhlman, geborene Elsas, meiner Großmutter, die so gut zu mir gewesen war. Ich hätte die Gräber meiner Eltern besucht und auch das Grab meiner armen, unglücklichen Schwester, aber ihre Gräber – wenn sie überhaupt ein Grab hatten – waren weit, weit weg; irgendwo zwischen Belsen und Auschwitz." Er weinte, wie "ich noch niemals zuvor" geweint hatte. "Ich verhielt mich wie ein Wahnsinniger. Ich schrie aus Leibeskräften 'Mord, Mord!' über die unbepflanzten, ungepflegten jüdischen Gräber hinweg ..."

Flucht zu Gülle, Fisch und Horror

Ausgerechnet wenn mir solche Sätze begegnen, finde ich beim Herumspielen auf dem Taschentelefon einen Hinweis nach dem anderen auf die gefährlich erstarkte Rechte im Land. "Die AfD steht so gut da wie seit Langem nicht. Nach zehn Jahren hat sie sich etablieren können und den Diskurs nach rechts verschoben – auch dank Union und Liberalen", schreibt "Der Spiegel". Die faschistischen Kräfte werden auch bei uns immer stärker, und da geht es nicht nur um die erschreckenden Umfragewerte einer Partei. In Wahrheit ist dieser auch in Kreisen der "Mitte" akzeptierte braune Haufen der parlamentarische Arm von Nazis. Bestens darin geübt, die Geschichte zu verleugnen. Viele in der herrschenden Politik machen sich anscheinend nichts aus den Zügen, die mit Menschen in die Hölle fuhren. Sie schielen nach rechts in der idiotischen Hoffnung auf Stimmen.

Auch kleine Fluchten machen mir im politischen Chaos ein schlechtes Gewissen, aber der Wind von Ostfriesland tut mir gut. Ein Segen nach all den Tagen in der Stuttgarter Kloake, wo die Luft schon mies war, bevor zur staatlichen Terrorjagd auf Klima-Aktivist:innen geblasen wurde. Jedenfalls atmete ich auf, als ich zwei Tage nach meiner Ankunft mit einem fetten Schnupfen erstmals diese feine würzige Mischung auf dem Weg zum Nordseedeich riechen konnte: Gülle & Fisch. Sofort ging es aufwärts, auch wenn das im Flachland eher schwierig erscheint.

Gehst du in Ostfriesland in eine Buchhandlung, wunderst du dich, warum sich da draußen überhaupt noch Menschen bewegen. Überall liegen so viele Bücher herum, die von Gemeuchelten und Bullen erzählen, dass die meisten Gemeinden in der Gegend eigentlich nur noch aus abgesperrten Tatorten und Leichenboxen bestehen dürften. Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass der ganze Horror zum Großteil auf der Miste eines einzigen Autors gewachsen ist. Der heißt Klaus-Peter Wolf, ist ein Eindringling mit Migrationshintergrund Ruhrgebiet und sorgt dafür, dass du in jeder Ostfriesen-Ritze Verwesung riechst. TV-Sender unterstützen ihn dabei kräftig. Und wenn dir irgendwo eine Frau begegnet, ist es ganz sicher Ann Kathrin Klaasen, seine Kommissarin, die zwischen Pümmelwurst und Krabben in den Köpfen herumspukt. Das Killergeschäft mit Millionenauflagen funktioniert dank eines der deppertsten Reime der Literaturgeschichte: Norden / Morden.

Und wieder mal bin ich sehr ungerecht, denn keinen einzigen dieser Ostfriesen-Krimis habe ich gelesen oder gesehen. Wer Züge beobachtet, hat keine Zeit für Kommissarinnen. Und so verabschiede ich mich mit einem Schlager, der mich vor langer Zeit auf einem Ostseeschiff erleuchtet hat: Wenn der Wind sich nicht dreht, dann ist alles zu spät.


Joe Bauers Flaneursalon gastiert am Freitag, 9. Juni im Garten der Gaststätte Ratze am Raichberg, Stuttgart-Gaisburg. Mit Thabilé, Eric Gauthier, Oliver Maria Schmitt. Beginn 19 Uhr, Karten unter ratzestr--nospam@gmail.com und am Tresen im Wirtshaus Schlesinger.


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