Die Zeit läuft, nach meinem Gefühl läuft sie immer im Schatten des Kriegs, und wieder einmal habe ich es verpasst, mich davonzumachen. So gut wie täglich erhalte ich Werbemails der Schifferbranche. Vor Ostern erreichte mich unter der Anschrift "Lieber Herr Joe" das Angebot für eine "traumhafte" Kreuzfahrt mit der "Kussmundflotte": Ich möge mir doch eine "wohlverdiente Auszeit auf See" mit meinem "Lieblingshasen" gönnen. Sofort brüllte ich nach meinem Lieblingswolf.
Neulich sah ich im Kino "Tár", einen Film mit der großen Cate Blanchett, der mit klassischer Musik zu tun hat. Einmal wird Schopenhauer zitiert: Der Maßstab für die Intelligenz des Menschen sei seine Geräuschempfindlichkeit. Neben mir saßen zwei junge Frauen, die womöglich nicht als meine Lieblingshasen für Kreuzfahrten in Frage kommen. Sie bestätigten Schopenhauer, indem sie ungebremst in ihren Riesenkartons mit gepufftem Mais wühlten und das Zeugs in ihrem Kussmaul so schmerzhaft zermalmten, dass ich mich wegen meiner Geräuschempfindlichkeit in der Häcksler-Szene von "Fargo" wähnte.
Nun ist es keineswegs so, dass ich mich in unserer wehrhaften Demokratie nicht an das Recht auf Popcornfressen gewöhnt hätte. Aus Mais aber sollte man besser Benzin machen und damit Kreuzfahrtschiffe, Häcksler und Panzer füttern.
Das Kino lebt in der Realität weiter, sobald du es verlassen hast. In der Urbanstraße, meiner Stuttgarter Hausstrecke in der Nähe von Staatsoper und John-Cranko-Schule, kam ich an einer Kolonne von Filmfahrzeugen vorbei, beschildert mit "Catering", "Kostüme", "Dancers" usw. Der Regisseur Joachim A. Lang dreht zurzeit einen Spielfilm über das Tanzgenie John Cranko, dessen Leben und Tod an frühe Rockstars erinnert. Am 26. Juni 1973 starb er mit 45 Jahren auf dem Rückflug von einer triumphalen USA-Tournee seiner Stuttgarter Kompanie. Erstickt am eigenen Erbrochenen – wie Jimi Hendrix.
Wie eine Kerze mit zwei brennenden Enden
Der gebürtige Südafrikaner mit britischem Pass steht für das "Stuttgarter Ballettwunder". Die phänomenale Erfolgsgeschichte einer zuvor unbeachteten Provinztruppe, die Cranko nach seinem Antritt 1961 als Stuttgarter Ballettdirektor mit neuen Stars wie Marcia Haydée und Richard Cragun zu Weltruhm führte. Der britische Schauspieler Sam Riley wird im Film John Cranko spielen, Ensemblemitglieder des Stuttgarter Balletts übernehmen weitere Rollen.
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BERND HEIDELBAUER
am 24.04.2023ICH KENNE DEN JOHN AUS MEINER ZEIT IN STUTTGART, ANFÄNGLICH NOCH ALS LEHRLING BEI FEINKOST-BÖHM IN DER CALWER STRASSE 18, & DANACH ALS KAUFMANNS-GESELLE BEI FEINKOST-KÄFER IN MÜNCHEN, ALS TREUEN KUNDEN & GAST. PARALLEL HATTE ER AUCH…