Peter Sloterdijk scheut auch die Peinlichkeit nicht. 2016 veröffentlichte der neben Jürgen Habermas bekannteste lebende Philosoph Deutschlands einen E-Mail-Roman über die "Entfaltung luxurierender weiblicher Sexualität", genau also das, was man von einem Intellektuellen im Rentenalter lieber nicht lesen möchte. Glück für ihn, dass dieser Abstieg "in die Niederungen ranziger Altherrenerotik" (Schweizer Radio und Fernsehen) weitgehend vergessen ist. Was auch daran liegt, dass Sloterdijk seither ein halbes Dutzend weitere Publikationen nachgeschoben hat. Diese waren wieder im angestammten Genre des Vielschreibers angesiedelt: der zeitdiagnostischen Erbauungsliteratur für Rechtsliberale.
Das gilt auch für sein jüngstes Buch, "Die Reue des Prometheus", das auf einem Vortrag basiert, den Sloterdijk 2022 in Luzern gehalten hat. Im schmalen Band geht es dem Karlsruher Philosophen um die Klimakatastrophe und die Möglichkeiten, diese noch abzuwenden. Das könnte zunächst überraschen, bewegt sich Sloterdijk doch in einem Milieu, das die Verheerungen der Erderhitzung eher bagatellisiert. In "Die Reue des Prometheus" verfährt er aber subtiler: Das Buch dürfte als strategische Intervention zu interpretieren sein, die zwar geophysikalische Realitäten anerkennt, zugleich aber allzu linke Antworten auf die bevorstehenden Umbrüche neutralisieren soll. Vielsagend daher, dass die Schrift dem verstorbenen französischen Intellektuellen Bruno Latour gewidmet ist, der in der Debatte ebenfalls eine zweifelhafte Rolle eingenommen hat: Sloterdijk und Latour kannten sich und schätzten einander.
Metabolisches Regime
Das Traktat beginnt als zivilisationskritische Skizze, die den Ursachen der Klimakatastrophe nachspürt und dabei eine "energetische Anthropologie" entwerfen will. Sloterdijk spannt den denkbar größten Bogen, er setzt irgendwo in der Prähistorie an, als die Menschen den Gebrauch des Feuers erlernten – daher der Titel, der den sagenhaften Prometheus aus dem Götterkreis zitiert, der den Menschen das Feuer brachte. Die Folgen dieses Evolutionsschritts seien kaum zu überschätzen, erst durch die Erschließung des Feuers "in den Kreis menschlicher Handhabungen wurde die Assimilation der Naturstoffe an die menschlichen Bedürfnisse im engeren Sinne möglich". Für die Gestaltung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur – das "metabolische Regime", wie es Sloterdijk formuliert – sei das eine entscheidende Weichenstellung gewesen.
Erst aber in der Moderne, als die Industrialisierung die Produktion von Reichtümern in nie gekanntem Ausmaß ermöglichte, wurde deren Tragweite deutlich. Bis dahin basierte Wohlstand vor allem auf exzessiver Ausbeutung menschlicher Arbeit, was Sloterdijk auf eine zynische "Stoffwechselformel" bringt: "Befehlsgewalt plus Biomaschinenpark plus pyrotechnisches X". Zum "Game-Changer von explosiver Wirksamkeit" sei dann nach Jahrhunderten der Sklaverei und der Knechtschaft die Erfindung von Verbrennungsmaschinen geworden, zunächst zur Erzeugung von Dampfkraft mittels der Verfeuerung von Kohle: "Mit einem Mal schien es nicht mehr wahr zu sein, dass man einen Baum nur einmal fällen und seine Scheite nur einmal verbrennen konnte. Aus der Tiefe der Erde schienen unzählige Bäume an die Oberfläche zu steigen, die man immer wieder verbrennen durfte und die doch wie ins Grenzenlose nachwuchsen."
Irrtümer made in Germany
Hier, an der Schwelle zur Gegenwart, wird es interessant: Weil nämlich plötzlich gigantischer Warenreichtum aus den Werkhallen sprudelte, kam Sloterdijk zufolge der Irrglaube auf, das Proletariat sei "geradezu eine prometheische Klasse", obwohl dieses doch "von Anfang an und fortwährend nur als Juniorpartner der maschinentreibenden pyrotechnischen Energien aus dem Altertum der Erde" gewirkt habe. Er indes konzentriert sich in Sachen fossiler Kapitalismus auf den Aspekt des "Fossilen", während "Kapitalismus" ausgeblendet bleibt.
Nun ist die Moderne ohne technisch-industrielle Ressourcenvernutzung zwar nicht denkbar. Diese aber fand und findet nicht in einem vom Sozialen abgeschirmten Raum statt, sondern in bestimmter gesellschaftlicher Form. Anders wäre kaum zu erklären, warum auf die Erfindung der Dampfmaschine, die die Menschen enorm hätte entlasten können, im Fabriksystem eine bis dahin nie gekannte Arbeitsintensivierung folgte: Die Begrenzung des Arbeitstags für Kinder auf zwölf Stunden beispielsweise musste erst staatlich durchgesetzt werden.
Die Zwänge der Kapitalverwertung interessieren Sloterdijk jedoch nicht, der Marxismus ist für ihn der "Hauptirrtum moderner Sozialphilosophie made in Germany", seine in alle Welt exportierte "Klassenkriegsdoktrin" habe letztlich zur "neopharaonischen Staatssklaverei" geführt. Entsprechend bringt er auch gegen den Vorschlag des linken Umwelthistorikers Jason W. Moore, statt von "Anthropozän" von "Kapitalozän" zu sprechen, lieber den Neologismus "Energozän" ins Spiel. An die Stelle der Sozial- tritt die Konsumkritik, in der etwa das Phänomen der "Compulsive Shopping Disorder" – der pathologische Zwang, permanent einzukaufen – zum Inbegriff einer saturierten Gesellschaft wird, die wegen der Segnungen der fossil befeuerten Industrie maßlos geworden ist und in der immer größere Teile der Bevölkerung Transferleistungen empfangen.
Im Biomaschinenpark macht man es sich also mittlerweile ganz schön gemütlich. Die Klage über die ausufernde Alimentierung unproduktiven Gesocks ist bei Sloterdijk nichts Neues, sein Metier ist schon lange die schwülstige Veredelung reaktionärer Ressentiments. Konkrete Ideen, wie ein "postprometheisches Zeitalter" – eine Ära des verallgemeinerten "energetischen Pazifismus" – aussehen könnte, findet man bei ihm dagegen nicht, es bleibt bei der vagen Hoffnung auf neue Technologien, etwa ominöse "Rekuperationsmechanismen", dank derer etwa die Teilnehmer:innen eines Citymarathons ausreichend Strom erzeugen sollen, um eine Kleinstadt einen Monat lang zu versorgen.
Ideologe der Eliten
Der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel bezeichnete in einem seiner helleren Momente Sloterdijk als "rechten Ideologielieferanten". Diese Einschätzung kam nicht von ungefähr. Als der "New Yorker" Sloterdijk vor ein paar Jahren für das US-amerikanische Publikum porträtierte, schrieb das Magazin, dass dieser eine "bedeutende Anhängerschaft unter reichen Eliten" habe, "die die intellektuelle Patina zu schätzen wissen, mit der er ihre Sichtweisen auf das Weltgeschehen versieht". Zu diesem Urteil passt, dass in der Schweiz Leute wie etwa der ehemalige Feuilletonchef der "Neuen Züricher Zeitung" René Scheu zu den Sloterdijk-Fans zählen.
Wenn also der Karlsruher Meisterdenker am Ende von "Die Reue des Prometheus" gegen den marxistischen Sozialökologen Andreas Malm polemisiert, die Gefahren einer "grünen Sowjetunion" beschwört und das Erbe Bruno Latours als doch ganz vernünftiges Alternativprogramm preist, heißt das wohl, dass die Klimabewegung immerhin in den Salons der Vermögenden bereits für Aufregung sorgt. Die Denkfabriken der Reaktion qualmen jedenfalls ordentlich.
Peter Sloterdijk: "Die Reue des Prometheus. Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung". Suhrkamp Verlag, Berlin, 2023. 80 Seiten, 12 Euro.
Die Rezension erschien erstmals in der Schweizer "Wochenzeitung" WOZ.
2 Kommentare verfügbar
Martin Stiefel
am 03.06.2023