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Auf der Straße

Sterben mit Humor

Auf der Straße: Sterben mit Humor
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Seit einem Vierteljahrhundert gehe ich in der profitlichen Absicht durch die Stadt, etwas Verwertbares aufzulesen. Ich meine nicht die Utensilien, die auf den Gehsteigen mit dem Hinweis "zum Verschenken", als Sperrmüll oder zur Stadtverschandlung hinterlassen wurden. Überall auf den Trottoirs stolperst du über Zeugs und Plunder.

Als Spaziergänger suche ich Stoff, der mir ein neues Bild von meiner Stadt zeigt. Geschichten, die mir mehr erzählen als die kursierenden Klischees. Diese Art Herumtreiberei nährte lange meine Hoffnung, woanders zu sein als da, wo ich bin. Eine Stadt verändert ihr Gesicht, wenn du mit offenen Augen durch die Straßen gehst. Hin und wieder bin ich sogar mit einem kleinen Fernglas losgezogen, damit meine Welt größer wurde.

Oft bin ich in auch in anderen Städten herumspaziert, übrigens nicht, um sie zu vergleichen. Städtevergleiche überlasse ich Stadträten, die in ihrem Kaff sofort New York erkennen, sobald sie in einer neuen Bar mit ein paar Flaschen mehr herumstehen. Oder ich zwinkere dem Dichter und Humoristen Ringelnatz zu, der einst ohne Alkoholeinfluss bemerkte: "Gegen dieses Scheißmünchen ist Stuttgart ein Paris."

Geheime Zeichen an jeder Hauswand

Unsereiner geht aus Neugierde spazieren. An jedem Ort, Altötting oder New Jersey, siehst du Dinge, die dir den Rest geben. Und auch weit weg von zu Hause bin ich häufig auf Spuren gestoßen, die in die Stadt führen, in der ich lebe. Im Kleinen siehst du das Große. Und umgekehrt. Zwar bleibt bei dieser Sicht auf die Welt der ehrenwerte Müßiggang streckenweise auf der Strecke. Aber beim Gehen geht es ja nicht nur um die konzentrierte Zerstreuung. Ziel ist es, die verbindenden Wege der Menschen einzuschlagen, Zusammenhänge zu erkennen.

Dies alles mag etwas hochtrabend klingen. Zur Entschuldigung kann ich sagen, dass die Stoffsuche in den Straßen bei mir eine Macke verursacht hat, die eher komische als eitle Züge trägt. Manchmal stiefle ich durch die Stadt im Wahn, jede Tafel an einer Hauswand könne ein Zeichen sein: ein Wegweiser zu einer großen, vielleicht geheimen Sache. Dann zücke ich mein Taschentelefon und knipse in meiner Nachbarschaft ein Schild wie dieses: "Im ehemaligen Haus Moserstraße 22 starb am 4. Juni 1875 Eduard Mörike". Tatsächlich hat er mal gesagt: "Mein bestes Glück liegt innerhalb des Hauses." In Wahrheit ist dieser unstete Dichter und Pfarrer so oft in Stuttgart umgezogen, dass er froh sein musste, nicht unterwegs auf der Straße zu sterben.

Und da fällt mir etwas ein: Nicht weit vom Mörike in meiner Gegend hängt an einer kleinen Mauer in der Nähe des Restaurants La Piazza ein Metallschild. Gewidmet ist es Martin Göbel, geboren am 5. Juli 1972, "Student des Bibliothekwesens" in Stuttgart. Laut Inschrift wurde er "an dieser Stelle am 3. November 1998 durch einen tragischen Unfall getötet". Gegenüber der Gedenktafel steht heute ein mächtiges Gebäude, das eine Anwaltskanzlei beherbergt. Vermutlich ein Bollwerk der Gerechtigkeit. Früher war in diesem Haus das Konsulat der Vereinigten Staaten von Amerika untergebracht. Und es waren die Stars & Stripes, die das Schicksal des jungen Martin Göbel besiegelten. Beim Vorbeigehen ohne terroristische Absichten wurde er von einem umstürzenden Fahnenmast der Amerikaner erschlagen. Bald jährt sich sein Unglück zum 25. Mal, und an diesem Tag werde ich auf der Straße "The Star Spangled Banner" von Jimi Hendrix abspielen.

Sitting Bull schweigt wissend

Es muss mit dem Teufel zugehen: Als ich diese Zeilen tippe, schlägt mein Taschentelefon an, als wäre es von einem tödlichen Schuss der Russen getroffen worden. Als ich das Ding vorsichtig in die Hand nehme, sehe ich die Mitteilung: "Warntag 2023". O Gott, sage ich laut zu Häuptling Sitting Bull, der seit Jahren tönern auf meinem Schreibtisch steht: Deutschland macht Alarm, höchste Zeit. Sie warnen uns vor den Angriffen der Faschisten auf die letzten Errungenschaften der Demokratie. Aber dann stellt sich das grelle Gesums als Tonprobe heraus für eine Katastrophe, die wir noch nicht kennen. Sitting Bull sagt wie immer nichts. Er weiß Bescheid.

Meine Macke, an allen möglichen Orten der Stadt an zurückliegende oder gar drohende Ereignisse zu denken, lässt sich kaum noch therapieren. Neulich wollte ich an der Venezia-Bude in der Königstraße ein klassisches italienisches Eis vom Typ "Schwarzwaldbecher" essen, als mir durch den Kopf ging, welche Zustände zurzeit in Italien herrschen. Auf eine eintreffende Taschentelefon-Nachricht eines Freundes antwortete ich deshalb mit den Worten, im Moment sei ich nicht ansprechbar, da ich gerade faschistisches Italo-Eis verdauen müsse. Der Freund, im Humorgeschäft tätig, antwortete postwendend: "Gelati Meloni".

Normalerweise denke ich in der Königstraße nicht an Meloni-Eis, so gut wie immer erinnert sie mich an die merkwürdigen, vermutlich von Agenten inszenierten Tumulte, die dort vor 75 Jahren beim größten Arbeiterstreik der Nachkriegszeit stattgefunden haben. Ein Indiz mehr, dass ich auf dem besten Weg bin, im Verfolgungswahn zu enden. Überall sehe ich Filme, die nie gedreht wurden. Sie beherrschen mich wie gute Songs. Nicht nur im Ohr, auch im Auge steckt der Wurm.

Deutscher Humor ist schon Wüste genug

Gegen ein solches Leiden, habe ich neulich dem neuen Buch des Schweizer Philosophen Yves Bossart entnommen, hilft nur Humor. Das Buch heißt "Trotzdem lachen. Eine kurze Philosophie des Humors" (Blessing Verlag). Schon lange habe ich den Verdacht, dass die ständige Hirnerei über den Siegeszug der Faschisten in meinem Fall zum finalen Verlust des Humors führt. In meinem hohen Alter ist dies besonders erschreckend: Laut Bossart ist Humor nicht nur beim Denken und Leben unverzichtbar, sondern auch "beim Sterben". Der US-Fahnenmast in meinem Viertel ist zwar abgebaut. Wer aber garantiert mir mein Überleben beim Verzehr italienischer Schwarzwaldbecher inmitten der gegenwärtigen Untergangstumulte?

Besagtes Buch mit guten Definitionen von Begriffen wie Humor und Komik, Satire und Witz habe ich mir aufgrund der Empfehlung des fiktiven "Humorkritik"-Autors Hans Mentz im Satire-Magazin "Titanic" besorgt. Die "Titanic" ist zurzeit von der Insolvenz bedroht, nach eigener Bilanz "pleite wie noch nie" – und braucht dringend 5.000 neue Abonnements. In der deutschen Humorwüste, wo eine Stadt wie Stuttgart als exemplarisches Beispiel für die Dürre steht, wäre der Verlust dieses Blattes eine Katastrophe. Und es wäre nicht lustig, den Ernst der Lage zu ignorieren. Noch spielt die Bordkapelle, und in unseren Zeiten gehen schon zu viele Boote unter.

Im Übrigen haben mich weder Komiker noch Killer-Clowns unter Androhung von Tod, Folter oder italienischen Eisbomben gezwungen, diese "Titanic"-Reklame hier zu verbreiten. Das mache ich aus freiem Willen. Ohne ein Zentralorgan für das ungepflegte Lachen zur Rettung der Menschlichkeit würden wir Würste dieser Erde auf der Strecke bleiben – und zu keiner Rebellion, zu keinem Widerstand und auch keinem anderen jämmerlichen Scheitern mehr fähig sein.

Es sei kein Zufall, schreibt Bossart, "dass die Freunde des Humors zugleich Freunde des Zweifels sind, im Grunde Skeptiker, wogegen die Feinde des Humors zum Dogmatismus neigen". Denn Humor sei "immer auch das Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit und Stümperhaftigkeit". So gesehen habe ich Hoffnung, noch einen Rest Humor zu besitzen. Ein Hoch auf uns Stümper!


Joe Bauer ist beteiligt am Aufbau eines Stuttgarter Netzwerks gegen rechts, das gemeinsame Aktionen gegen den gegenwärtigen Rechtsruck anstrebt. Dabei sollen dauerhafte Verbindungen entstehen, um kooperativ Veranstaltungen zum Thema "Gefahr von rechts" zu organisieren. Die Auftaktkundgebung findet am 14. Oktober 2023 ab 14 Uhr auf dem Stuttgarter Schlossplatz statt. Weitere Informationen gibt es hier


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1 Kommentar verfügbar

  • Bernd Letta
    am 01.10.2023
    Antworten
    Ich war schon öfter an diesem Schild in der Urbanstraße mit dem darauf vermerkten Ableben Göbels durch einen "tragischen Unfall" vorbei gelaufen und hatte bislang den offensichtlich unzulänglichen Kenntnisstand, Göbel sein von einem Gerüst erschlagen worden - worauf ich wiederum vorschnell auf ein…
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