KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Festival "Current – Kunst und urbaner Raum"

Die Antworten des Orakels

Festival "Current – Kunst und urbaner Raum": Die Antworten des Orakels
|

 Fotos: Jens Volle 

|

Datum:

Bad Cannstatt wird für zehn Tage zum Ort für Performances, Ausstellungen, Diskussionen und verrückte Ideen. Im Zentrum: die Schwabenbräu-Passage, die die Stadt abreißen will.

Zurück Weiter

"Die Leute winken vom Bauzaun", erzählt Kestas, mit vollem Namen Kestutis Svirnelis. "Rufen, hey, komm mal her! Was soll das?" Dann erklärt er seine aufblasbare Skulptur in der Grube am Cannstatter Wilhelmsplatz, wo vor Kurzem noch der Kaufhof stand: eine riesige Wurst, wie der Künstler sagt, über der sechs etwas kleinere Würste liegen. In dieser Größe, unter freiem Himmel, ist das für ihn Neuland. Die Würste haben Ventile, damit sie nicht platzen. Sie sind vertäut, damit sie sich bei Wind nicht über den Bauzaun davonmachen.

Kestas will Kunst machen, mit der alle etwas anfangen können: Handwerker:innen, Schüler:innen, alle, die es bislang nicht so mit der Kunst haben. Das gefällt ihm. Aber dekoriert seine Kunst nicht nur eine Bausünde? Nach den Kriterien der Architektenverbände hätte der Kaufhof nicht abgerissen werden dürfen. Und nach dem EU-Leitbild der Stadtplanung, der Neuen Leipzig Charta, sollte Stadtentwicklung kooperativ und gemeinwohlorientiert sein. Hier in Bad Cannstatt aber soll der Stadtraum einmal mehr kommerziell verwertet werden.

Kann Kestas' Arbeit daran etwas ändern? Das sicher nicht. Sie ist nur der sichtbarste, öffentlichkeitswirksamste Bestandteil der zweiten Ausgabe des Festivals "Current – Kunst und urbaner Raum", das danach fragt, "was künstlerische urbane Praxis mit Stadtentwicklung zu tun hat". Diesmal also in Cannstatt, früher eine eigene Stadt und viel älter als Stuttgart, zu dem es seit 1905 gehört.

An den Fehlentwicklungen der Stadtplanung kann auch Simon Pfeffel wenig ändern, der mit einem Pappschild in der Fußgängerzone steht: "Ich trage Dich nach HAUSE!" Es ist seine fünfte Performance an diesem Tag. Er hat sich bereits durch die Fußgängerzone schleifen lassen und mit einem Magnet Metall aufgelesen. Aber die Passant:innen interessieren sich im Moment mehr für die Blaskapelle, die ein paar Meter weiter Beatles-Songs spielt.

Renate Liebel und Justyna Koeke haben bereits Ende Juli versucht, mit Schüler:innen und einer Nachbarschaftsinitiative den Wilhelmsplatz aufzuhübschen. Allerdings hat die Pflanzen, die sie mit Wolle und bunten Bändern an Masten gebunden haben, niemand gegossen. Übrig sind nur noch vertrocknete Reste.

Leere Schaufenster beleben auch den Geist

Wie sich die Stadt anders entwickeln könnte, zeigt schon eher der ehemalige Betten Fischer in der Badstraße: Die Erben haben ein Schaufenster mit allem Möglichem dekoriert, was sie im Haus gefunden haben: ein Brettspiel "Deutschlandreise", Rohrzangen, eine Puppe, ein Gemälde von 1959. Die beiden anderen haben sie Künstler:innen überlassen – eines verweist auf Naturkunde und graue Vorzeit: Baumrinden, Schlangenhaut, Schoten und irgendwelches Geäst. Das Konzept hat bereits Nachahmer gefunden: Auch das Schaufenster der ehemaligen Wäscherei Schiffmann gleich gegenüber zieren nun Fundstücke aus dem Haus.

Aber um wirklich zu sehen, welche Rolle Kunst in der Stadtentwicklung spielen kann, muss man zum Festivalzentrum in der Schwabenbräu-Passage gehen. Ein eigenwilliger Bau der 1980er-Jahre: In der Mitte windet sich um einen Aufzug eine achteckige Treppenspindel, deren Form sich in einer Art Erker wiederholt, der mit einer Spitze nach unten über dem Eingang schwebt. Die Stadt hat das Gebäude vor zwei Jahren erworben, das zu großen Teilen leer stand. Sie will abreißen, hat jedoch einer Zwischennutzung zugestimmt.

Die Initiative dazu ging aus von der Gruppe Prisma, als Mieter heißt sie nun Fläche e.V. Dahinter stehen Heide Fischer und ihr Club Sunny High, Thorsten Neumann mit seiner Galerie Palermo und die Ateliergemeinschaft Cis+ um Valentin Leuschel. Inzwischen haben weitere Nutzer das Gebäude bezogen: Die Initiative Foodsharing Commons Kitchen, die Theatergruppen Backsteinhaus Produktion und Lokstoff, ein DJ-Kollektiv um Waltraud Lichter, das Legal Café der Migrantifa. Demnächst zieht die Volkshochschule ein, die wie alle anderen dringend Räume braucht. Im Erdgeschoss besteht weiterhin die Kneipe Pfiff, die Radwerkstatt der Neuen Arbeit, eine Siebdruckwerkstatt und die Kleiderkammer des Deutschen Roten Kreuzes.

Hier lernt die KI das Meditieren

Diese Vielfalt war von außen bisher nicht erkennbar. Das Problem ist: Das Haus liegt an der belebten Bahnhofstraße. Die Härteprobe kommt am kommenden Freitag, wenn zugleich das Volksfest eröffnet und der VfB ein Heimspiel hat. Bei geöffneten Toren bräuchte die Passage eigentlich einen Pförtner. Dessen Stelle vertritt nun zehn Tage lang das Festivalbüro.

Und gleich kehrt buntes Leben ein. Kinder haben das Straßenpflaster durch Schablonen mit Kreide besprüht: eine Aktion der Jugendkunstschule (JuKuS). Ein T-Shirt-Druckworkshop hat stattgefunden. Passant:innen kommen herein und fragen nach dem einen oder anderen Programmpunkt. Natalia Sartori und ihr Assistent:innen helfen gern und haben viel zu tun.

Thorsten Neumann streicht gerade die Wände seiner Galerie. Seine Ausstellung mit dem 23-jährigen Fotografen Valentin Goppel eröffnet am kommenden Samstag und läuft dann sechs Wochen. Goppel hat sich mit den Problemen seiner Generation in der Pandemie beschäftigt und dafür den Leica Oskar Barnack Newcomer Award erhalten. Bereits seit vorigen Sonntag läuft eine Ausstellung der Ateliergemeinschaft im Hinterhaus der Badstraße 32. Eine zweite im Vorderhaus, in den Räumen von Betten Fischer, eröffnet am heutigen Mittwoch. Morgen folgt eine Ausstellung in der Schwabenbräu-Passage mit Videoarbeiten von vier iranischen Künstlerinnen.

Das Künstlerhaus bietet Workshops, einen Community Walk für Schwarze und Afrodeutsche sowie ein Filmprogramm an. Am Festival sind auch das Kulturkabinett, das Stadtarchiv und die Neckarinsel beteiligt. Daniel Beerstecher lehrt die Kunst der Entschleunigung und bringt der KI das Meditieren bei. Auf Bestellung liefert der Comododo-Lieferservice am Samstag noch einmal immaterielle Güter, zum Beispiel musikalische Aufführungen.

Der Freitag steht unter dem Motto "Stadt der Performance": künstlerische Interventionen an allen Ecken und Enden. Um 14.30 Uhr beginnt in der Jungen Oper im Nord ein zweitägiges Symposium zum Festivalthema: "Unruhe bewahren! Kunst und Stadtentwicklung". "Wir leben in einer unruhigen Zeit", erklärt Festivalgründerin Laura Bernhardt. "Eine Krise folgt der nächsten, am schlimmsten die Klimakrise. Normalerweise heißt es 'Ruhe bewahren' und 'Unruhe stiften'. Wir wollen die Unruhe positiv umwerten."

Kreative Vielfalt braucht günstige Räume

Von einer Verödung der Innenstädte ist in der Ankündigung zu dem Symposium die Rede. Es geht um die Frage: "Welche Rolle spielen künstlerische Strategien, Formate und Projekte in urbanen Transformationsprozessen und welche Voraussetzungen braucht es, um über den Impuls hinaus langfristig eine gestaltende Rolle zu spielen?"

Ohne die Antworten der Referent:innen vorwegzunehmen – unter anderem Britta Peters, die Leiterin von "Urbane Künste Ruhr" –, hier die Meinung von Sascha Bauer. Der Architekt hat mit seinem Büro Studio Cross Scale die Schwabenbräu-Passage für die temporäre Nutzung verfügbar gemacht. Er hatte sich am Städtebauinstitut der Uni schon einmal mit dem Gebäude beschäftigt und war über einen früheren Arbeitskollegen mit Heide Fischer in Kontakt gekommen, der Betreiberin des Clubs Sunny High.

"Die Absprache mit den Ämtern hat wunderbar funktioniert", anerkennt Bauer, der am Österreichischen Platz seinerzeit ganz andere Erfahrungen gemacht hat. Gemeinsam mit der Wirtschaftsförderung, die in Stuttgart das Zwischennutzungs-Management betreibt, dem Kulturamt und dem Liegenschaftsamt hat er im Auftrag des Verein Fläche e.V. überlegt, wie sich möglichst schnell eine Baugenehmigung erhalten ließe. Zwingend notwendig, so Bauer, waren nur fünf rauchdichte Brandschutztüren. Der Verein hat nicht viel Geld: im Wesentlichen eine Förderung aus dem städtischen Kulturhaushalt. Die anderen Nutzer sind Mieter des Liegenschaftsamts.

Die Beschlusslage der Stadt ist, dass der Bau 2026 abgerissen wird. Bauer hätte da eine andere Idee: Kooperative, gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung funktioniert nicht mit teuren Neubauprojekten, meint er. Keiner der Nutzer der Schwabenbräu-Passage schwimmt in Geld. Aber im Miteinander von Künstler:innen und anderen Nutzern – Migrant:innen, Kindern und Jugendlichen, Neue Arbeit, Volkshochschule, Kneipe und Club – ist an zentraler Stelle ein Ort des Austauschs entstanden, wie ihn die Stadt dringend braucht.

So sollte es weitergehen, findet Bauer. Denn nur so funktioniert kooperative Stadtentwicklung, bemerkt der Architekt, der mehr Mut fordert, einen solchen Bau zu erhalten. Das Gebäude aus den 1980er-Jahren sieht etwas heruntergekommen aus. Schmuddelig, moniert Stadtoberhaupt Frank Nopper (CDU). Nun, die Stadt ist der Eigentümer, dann soll sie sich darum kümmern.

Nicht mal das Orakel weiß Bescheid

Aber wird die Stadt es schaffen, über ihren eigenen Schatten zu springen und den Abrissbeschluss zu revidieren? Frage an das Orakel am Veielbrunnen Lucia Graf. Sie hat sich ausgiebig mit Kaffeesatzlesen und mit dem Orakel von Delphi beschäftigt, das an einer Quelle lag, dem Veielbrunnen vergleichbar. Das Wasser aus der Tiefe stand für die Antworten, die aus dem Untergrund, einer anderen Welt hervortraten.

Allerdings war Graf dann doch enttäuscht, wie sehr Delphi zu einer Touristen-Attrappe heruntergekommen ist, und fragte sich: Wer gibt mir nun Antwort auf meine Fragen? Da stieß sie auf T-Shirt-Sprüche. "Greek crisis: No job. No money. No problem", steht auf einem Shirt, das sie bei der Vorstellung ihrer Arbeit im Diavortrag zeigt. Solche Sprüche sind jetzt rund um die Uhr am Veielbrunnen zu hören: "Dare to be different!" "Your future needs you". "Just do it!" Möge die Stadt darauf hören und die richtige Entscheidung treffen.


Das komplette Festivalprogramm hier.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!