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Folklang-Orchester Tübingen

Grenzenlose Volksmusik für alle

Folklang-Orchester Tübingen: Grenzenlose Volksmusik für alle
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Das Folklang-Orchester ist eines der ungewöhnlichsten Orchester überhaupt. Niemand muss Noten können, die Besetzung wechselt andauernd, die Musik kommt aus aller Welt. Alles ist besonders. In diesem Jahr hat es erstmals in Tübingens Straßen gespielt.

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Am Waldrand ertönt die Tuba, weiter drüben spielt ein Saxofon, irgendwo schlägt ein Tambourin. Rund ums Tübinger Sudhaus haben sich die Instrumente verteilt an Fronleichnam 2023. Sie alle werden zusammenfinden, sie werden ein Orchester sein und gemeinsam Lieder spielen, die die Mitglieder dieses Orchesters mitgebracht haben aus ihrer Heimat oder die sie gefunden haben, irgendwo entlang des Wegs.

Im Tübinger Sudhaus probt das Open Folk Orchestra Folklang, feiert ein Fest, bei dem es um die Lieder geht, die Menschen. Hier ist jede:r willkommen, ganz gleich welcher Nationalität oder mit welchem Hintergrund. Musikalisches Können wird nicht vorausgesetzt – "ob die Leute Musik können oder nicht, ist uns egal. Woher sie kommen, wie alt sie sind und so weiter auch", sagt Susanne Christel, die Organisatorin von Folklang. Das Orchester trägt sie alle. Gespielt wird internationale Volksmusik, ohne Noten. Und das funktioniert auf erstaunliche Weise.

Selten nur gibt das Folklang-Orchester Konzerte, denn das, sagt Susanne Christel, fokussiere zu sehr. Einmal spielte die Gruppe 2023 in Pliezhausen, einmal in Herrenberg, immer mit sehr großem Erfolg: Emotionen kommen hoch bei den Konzerten, Erinnerungen. Stetig wechselt die Setlist des Orchesters, kommen Lieder hinzu, die manche:r vielleicht als Kind hörte, die lange vergessen waren. Im Mittelpunkt für das Orchester stehen jedoch die Proben, das regelmäßige Treffen, der Austausch, das Miteinander.

Das Folklang-Orchester besteht aus einer Tübinger Kerngruppe, zu der zwischen 20 und 40 Musiker:innen gehören. Ihre Proberäume finden sich in der Südstadt. Einmal im Jahr jedoch, zum fünften Mal nun, lädt das Orchester ein zum Festival – und Menschen aus ganz Europa strömen herbei, ehemalige Mitglieder oder solche, die vom Folklang bislang nur gehört haben. Dann genügen die Proberäume nicht mehr, dann muss es das größere Sudhaus sein. Rund 80 Musiker:innen begegenen sich dort, gut zwei Drittel von ihnen sind angereist. Sie kommen, um voneinander die Musik zu lernen, sie bringen einander Volkslieder ihrer Heimat bei.

So etwas gibt es nirgendwo

Das Folklang-Orchester hat seine Wurzeln in den sogenannten Ethno Camps, organisiert von Jeunesses Musicales International, einem Netzwerk aus NGOs der internationalen musikalischen Jugendarbeit. Die Ethno Camps jedoch finden immer nur über begrenzte Zeit statt. "Dass es ein Orchester gibt, das sich jede Woche trifft, in derselben Stadt und über eine so lange Zeit", sagt Susanne Christel, "das ist einmalig, nicht nur in Deutschland."

Susanne Christel entwickelte 2013 gemeinsam mit der Geigerin Kathryn Döhner eine Konzeption, für die sie Gelder der Tübinger Volkshochschule sichern konnte. Am 1. Juli 2015 gründete sich so das Folklang-Orchester mit dem Trägerverein Klangvolk e.V. "Wir wollten so niederschwellig arbeiten wie möglich. Mir erschien es sehr einleuchtend, dass man keine Schwellen hat, wenn man musiziert und Volksmusik macht", sagt Susanne Christel. "Es ist einer unserer Pfeiler, dass wir wirklich offen für alle sind. Wann kann man Musik? Wir fragen das nicht ab, weil es keine Rolle spielt. Wenn jemand Noten lesen kann oder ein Instrument gut spielt, dann ist das auch egal. Das Orchester nimmt das auf und wir machen etwas daraus."

Gerade für Deutsche ist das oft ungewohnt. Susanne Christel erinnert sich an ausgebildete Orchestermusiker, die sich dem Folklang anschlossen und erst stundenlang im Saal standen, ehe sie sich einmischten. "Sie waren technisch sicher versierter, aber sie getrauten sich nicht, weil sie keine Noten hatten." Auch die Zusammensetzung des Orchesters ändert sich ständig, von Tag zu Tag, von Probe zu Probe. Wer kommt, der kommt, wer fortbleibt, kommt vielleicht irgendwann mal wieder. Und auch das funktioniert. Immer. "Als Pädagogin", sagt Susanne Christel, "beweise ich mir hier seit mehr als sieben Jahren, dass Druck einfach das Unkreativste ist, das es gibt, in der Lernwelt."

Finnischer Tango und georgisches Volkslied

Regin lebt in Tübingen und ist mit dabei seit 2015. Er ermutigte nun Tobias, einen anderen Tübinger, zu den Proben zu kommen – der fühlte sich dort erst noch etwas fremd als Neuling. Zwei Stunden nach Beginn der Proben ist dieses Gefühl verflogen. Sami derweil stammt aus Frankreich, lebt heute in Finnland, reiste an von dort, kam erstmals 2016 zu einem Folkmarathon nach Tübingen, arbeitete einst als Wissenschaftler, will nun auch von seiner Musik leben. "Hier geht es darum, eine Gemeinschaft aufzubauen", sagt er. "Wenn alles gut läuft, dann fühlt es sich an, als ob wir eine große Familie wären. Wir kümmern uns umeinander."

"Ich habe klassische Gitarre gelernt und wollte schon als Teenager orientalische Lieder spielen", sagt Selim. Er hat in Tübingen studiert, ist nach Stuttgart gezogen und hat mit der Cümbüş, einer türkischen Laute, ein Instrument gefunden, auf dem er Töne spielen kann, die sich auf einer herkömmlichen Gitarre nicht finden – und das mit seinen Stahlsaiten laut genug ist, um im Orchester nicht unterzugehen. Selim hat ein Instrumentalstück mit nach Tübingen gebracht, das er dem Folklang-Orchester beibringen wird. Regin ist mit einem finnischen Tango gekommen.

Maia stammt aus Georgien, lebt in Tübingen und bringt dem Orchester ein Lied ihrer Heimat bei. "Akh Turpav" heißt es – "My Dear, meine Lieblingsperson", übersetzt Maia. Sie stieß im Herbst zum Folklang-Orchester. "Eine Freundin, die in Tübingen wohnte und wusste, dass ich gerne Musik mache, hat mir davon erzählt und gesagt: Dort wirst du dich wohl fühlen." Sie hatte recht. Maia: "Hier findet sehr viel Gemeinschaft statt, und das macht etwas mit den Menschen. Wir haben alle einen anderen Background, aber wir können unsere Geschichten mit unserer Musik und unseren Liedern mitteilen." Es gehe um mehr als um Austausch, jedes Lied habe eine Bedeutung. "Und das zu lernen macht große Freude, es macht glücklich – so empfinde ich es, und viele andere auch."

Ein Veto reicht und das Lied bleibt draußen

Maia gehört heute zum Mentorenteam des Folklang-Orchesters. Zwar geschieht sehr viel auf ehrenamtlicher Basis bei diesem Orchester, aber es gibt ein kleines Team aus Honorarkräften. Dessen Mitglieder betreuen unterschiedliche Instrumentengruppen, sind wichtig, auch um die kulturelle Diversität der Gruppe zu sichern. "Wir brauchen diese Diversität", sagt Susanne Christel. "Wir möchten schließlich nicht, dass nur deutsche Leute zu uns kommen." Die Mentor:innen spinnen Netzwerke, und sie geben der Gemeinschaft einen Rahmen.

Diese Gemeinschaft stellt Ansprüche. Zwar kann jede:r zu ihr kommen und ein Lied aus der Heimat, ein Liede von einer Reise mitbringen. Aber nicht jedes Lied wird angenommen. "Religiöse Lieder", so Susanne Christel, "lehnen wir ab, auch christliche Lieder. Wir möchten hier keine Schwelle einziehen, die die Menschen voneinander trennt." Ein anderes, mitunter heikles Problem: ethnische, historische Sensibilitäten. "Wir können in der Volksmusik nicht politisch korrekt sein. Diese Musik ist ein Erbe, und die Situationen waren damals eben andere."

Das Folklang-Orchester geht mit dem Thema schlicht pragmatisch um: Stört sich ein Mitglied an einem Text, wird das Lied abgelehnt – denn Lieder gibt es viele. Zur Regel hat es sich das Orchester auch gemacht, in jede Setlist ein deutsches Stück aufzunehmen. Vor Jahren brachte eine dreiköpfige Familie aus dem Schwarzwald ein Lied, das von einem Bauern erzählt, der sich mit Brennnesseln abwischt. "Da kam Vulgärsprache vor. Die Frauen wollten das Wort 'Scheiße' nicht singen, die Araber das Wort 'Arsch'." Man sprach über das Thema und als sich zeigte, dass das Musikstück sich lustig machte über einen herrschsüchtigen Großbauern – da war die Akzeptanz gegeben.

Endlich in den Straßen spielen

Bei den Proben im Tübinger Sudhaus haben sich nun alle, die zum Orchester gehören, zuvor noch am Waldrand oder in anderen Räumen für sich probten, im Theatersaal versammelt. Unzählige Menschen sitzen beisammen, spielen Instrumente aus aller Welt, üben gemeinsam ein orientalisches Stück, komplex in Rhythmus und Melodie. Und schnell, sehr schnell finden all die Klänge des großen anarchischen Klangkörpers zusammen, beginnt der Raum sich mit der Energie des Orchesters zu füllen. In Konzerten lassen sich die Musiker:innen gerne mitreißen von dieser Energie. Und das Publikum ist begeistert.

Die Proben des Folklang-Orchesters enden 2023 zum ersten Mal mit einer Prozession durch die Stadt Tübingen am Freitagabend. Das Orchester wagt sich in den Tübinger Stadtraum hinaus. Von der Platanenallee auf der Tübinger Neckarinsel geht es hinauf zum Holzmarkt – ein kleiner Weg, ein großes Erlebnis. Das Orchester spielt zehn Musikstücke: aus Brasilien, Georgien, Spanien, Ungarn, der Ukraine, Deutschland, Finnland, der Türkei, Tunesien und Kuba.

"Unsere Tübinger Mitglieder waren froh, auch einmal in der Stadt spielen zu dürfen", sagt Susanne Christel später. "Alle anderen lernten die Stadt so überhaupt erst einmal kennen." Die Prozession war angemeldet, das Tübinger Ordnungsamt hatte ihr seinen Segen gegeben. "Aber ich glaube auch", sagt Susanne Christel, "dass Tübingen ein bisschen Lärm gebrauchen kann."

Ein bisschen reagierten denn auch die Tübinger Bürger auf die energische Störung ihres beschaulichen Alltags. Als das Orchester "Chevrona Ruta" spielte, ein ukrainisches Lied, das die Folklang-Mitglieder Aleksei und Ludmilla aus der Ukraine mitgebracht hatten, wurde das Orchester verstärkt, erzählt Christel. "Unter den Zuschauern waren Menschen aus der Ukraine, die das Lied hörten. Eine Frau stellte sich zu uns und sang mit. Alle weinten."


Das Folklang-Orchester Tübingen finanzierte sich bislang über öffentliche Mittel. Im Juni endet ein Förderzeitraum im Rahmen der Neustarthilfe des Bundesmusikverbands. Eine Möglichkeit, das Orchester zu unterstützen, findet sich auf der Crowdfunding-Plattform betterplace.org.


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1 Kommentar verfügbar

  • bedellus
    am 21.06.2023
    Antworten
    jedenfalls keine marschmusik...
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