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Profifußball der Herren

Ist aggro Tradition?

Profifußball der Herren: Ist aggro Tradition?
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Der Fußballhimmel unseres Kolumnisten verdunkelt sich. Wo früher "wolkig mit Aufhellungen" war, sind heute schwarze Gewitterwolken aufgezogen. Nur aus der Schweiz kommt was zum Schmunzeln.

Die Fußball-Bundesliga macht Sommerpause, das ist gut. Endlich ein wenig Ruhe, endlich weniger Eilmeldungen und Breaking News zu auch noch dem allerletzten, allerunwichtigsten Thema rund um die Branche der Geldverbrenner, Wichtigtuer und Dilettanten. Es hing mir tatsächlich richtiggehend zum Halse heraus, ging mir auf den Zeiger, ließ mich zu Ted Lasso und der gleichnamigen TV-Serie flüchten in eine schönere Scheinwelt, was da im Lauf der vergangenen Saison veranstaltet wurde und was mit dem unwürdigen Bayern-Theater um Julian Nagelsmann und Oliver Kahn und mit dem Dortmunder Totalversagen am letzten Spieltag seinen vorläufigen Tiefpunkt erreichte. Aber immerhin war es spannend, das muss man sagen. Und ein wenig Schadenfreude in Richtung der börsennotierten "echten Liebe" war natürlich auch vorhanden. Bei einem Abstieg des VfB Stuttgart hätte ich freilich keine Schadenfreude verspürt.

Zu feiern gab es allerdings auch in diesem Jahr noch weniger als überhaupt nichts beim VfB. Zu schwach der Saisonverlauf, zu falsch die Entscheidungen, zu lausig die Kommunikation – insgesamt einfach viel zu schlechtes Handwerk. Und weil am großen Ganzen in Cannstatt nichts wesentlich verändert wurde, werden wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft wenig bis nichts zu lachen haben mit unserem Club. Außer, man wollte ihn auslachen.

Nur noch schlechte Nachrichten

Mein Bild vom Fußball hat sich erschreckend rasch geändert. Wie im Gebirge ein Gewitter aufzieht, so habe ich plötzlich fast nur noch Bad News überall gesehen. Das unwürdige Verhalten der Funktionäre, das üble Simulieren der Spieler, die grenzenlose Gier. Was meine Lust auf Fußball aber vor allem beeinträchtigt hat, das war und ist die Aggression der Zuschauenden. Zuschauer, zumeist. Männlich. Besoffen. Voller Hass. Auch bei "meinem" VfB. Krawalle, alles kaputt machen, das ständige Hurensohn-Gebrüll. Pass auf, wo Du hingehst mit Deinem Trikot. Falscher Weg zum Block, falsches Stadtviertel, falsche Zeit, falsche Kneipe: Da ist nix "Zusammen", da ist vor allem Vorsicht geboten. Blocktrennung, riesiges Polizeiaufgebot, Gästefans müssen nach Abpfiff ewig im Block bleiben, Eskorte – und was zur Hölle sollen Fanmärsche in fremden Städten, bei denen es um nichts anderes geht als um die Provokation? Von Bielefeld über Cottbus bis zur C-Klasse in jedem beliebigen Kaff kaum News zum Fußball, dafür umso mehr zur Massenschlägerei, zum Platzsturm, zur schweren Körperverletzung, Spieler, Zuschauer, Polizei, alle gegen alle.

Wenn das Tradition ist, dann scheiß' ich drauf.

Und schaue ab September wieder gerne beim American Football rein, College, NFL, wo weiß Gott nicht alles gülden glänzt – wo es aber keine Blocktrennung gibt, wo Du mit allen möglichen Trikots überall hingehen kannst. Bissle Gegner ärgern und schmähen, aber ohne den Hass und die Aggression. Ohne sich ernsthaft aufzuführen als zöge man in den Kampf, in den Krieg gegen den Feind. Nicht mal die Fans der Las Vegas Raiders machen das, nicht mal bei O(hio State University) gegen das böse M(ichigan) herrschen kriegsähnliche Zustände, wie sie in deutschen Städten und Stadien an der Tagesordnung sind.

Natürlich ist auch der Sommer keine wirklich fußballfreie Zeit. U21-EM der Männer, WM der Frauen, einiges steht an, und auch die Frauen sind ja nun hierzulande bei ARD und ZDF zu sehen. Nach einem Gezerre um die Kohle, dass man hätte meinen können, es ginge um die Männer. Unwürdig. Und spannend im Hinblick auf das vom Fußball Weltverband FIFA laut herausposaunte Ziel, 2027 Equal Pay zu haben bei Frauen und Männern. Also auch bei den Fernsehgeldern.

Wir werden auch in den kommenden Jahren mit vorwiegend negativen Nachrichten rund um den Fußball rechnen müssen. Weil sich ja nirgends wirklich was ändert. Alle versuchen irgendwie das Gleiche zu machen, manche bekommen es besser hin, viele schlechter. Immer die gleichen Namen, immer die gleiche Geldverbrennung, immer alles auf schmaler Kante, immer gnadenlose Selbstüberschätzung und Wichtigtuerei. Kaum ein Club macht es anders, wer wollte sich da als Sponsor engagieren, wer wollte sich da persönlich engagieren in all dem Hass und der Halbseide? Und gegen die Aggression und Fangewalt: was tun? Auswärtsfans verbieten? Böllerkontrolle? Personalisierte Tickets? Klingt dystopisch, liest sich schlecht.

Ultra-Szene Yverdon

Dass es in all dem Sumpf tatsächlich noch vereinzelt Meldungen zum Fußball gibt, die einen schmunzeln lassen, erfordert geradezu zwingend, derartige Meldungen auch hier zu erwähnen. So erreichte mich letztens aus der Schweiz ein Bericht des "Blick" vom 24. Mai, wo die Mannschaft des Yverdon-Sport FC aus Yverdon am Neuenburger See sensationell in die Super League, die oberste Schweizer Spielklasse, aufgestiegen ist. Zu Heimspielen kommen durchschnittlich 1.500 Zuschauer – und doch gibt es in Yverdon gleich zwei verschiedene Ultragruppierungen, die miteinander verfeindet sind, beide ihre Plätze nicht etwa hinter dem Tor, sondern auf der Gegengerade haben.

Der "Blick" schreibt: "Am Rand rechts die 2014 gegründete 'Section Lac'. Das sind die Jungen im Stil der Ultras, die zünftig Pyros abfackeln. Auf der linken Hälfte befindet sich der Fanklub 'Verts-Play', seit 1999 am Start. Das sind die Älteren. Beide Fangrüppchen singen und trommeln für sich. (...) Die Jungen finden die Alten doof. Die Alten halten nichts davon, dass die Jungen auch mal gegnerische Spieler oder den Schiedsrichter beleidigen. Unvereinbare Positionen in der Fanphilosophie – die Yverdon-Fans haben so wenig füreinander übrig, dass sie sogar auch bei Auswärtsspielen in den Gästesektoren voneinander Abstand halten und separat singen. Fahnen und Trommeln haben beide Seiten. Aber die 'Section Lac' brennt Pyros ab oder versucht sich mal mit einer Choreo. Bei 'Verts-Play' gibt's beides nicht. Dafür sind auch Kinder dabei. Und auf dem Markt in Yverdon verkauft dieser Fanclub selbstgemachte Konfitüre und Kuchen, um die Auswärtsfahrten zu finanzieren."

Mal schauen, wann aus Yverdon von den ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen berichtet wird. Bis dahin empfehle ich möglichst wenig A-Nationalmannschaft der deutschen Männer, das Theater der grauen Menschen rund um die Truppe zieht nur runter. Lieber die U21 schauen und wenn es mit den Anstoßzeiten hinhaut, auch die Frauen bei der WM in Australien und Neuseeland. Beiden Teams viel Erfolg, allen Leserinnen und Lesern einen schönen Sommer.


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2 Kommentare verfügbar

  • Janusz Gora
    am 22.06.2023
    Antworten
    Ultra muss man leben, nicht studieren.
    Einblicke in eine Szene wie beschrieben am Beispiel Yverdon muss man nichts verstehen als Ahnungsloser. Das ist ja fas Schöne daran :)
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