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VfB im Abstiegskampf

Schweinezyklus der Inkompetenz

VfB im Abstiegskampf: Schweinezyklus der Inkompetenz
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Der VfB Stuttgart steht vor dem dritten Abstieg innerhalb weniger Jahre. Unser Kolumnist ist VfB-Fan. Und er versucht zu verstehen.

Es gibt Dinge, die verstehe ich nicht. Zum Beispiel verstehe ich unser Wahlsystem nicht. Habe es noch nie wirklich verstanden. Auch nicht früher in der Schule, wo es diese Heftchen gab von der Bundeszentrale für Politische Bildung. Die waren auf dem dünnsten aller Papiere in der hässlichst möglichen Form mit der größtmöglichen Bleiwüste pro Seite gedruckt – da war das ohnehin unverständliche D'Hondt-Verfahren zur Sitzverteilung schon aufgrund der Präsentationsform gleich dreimal nicht zu verstehen. Ich weiß nicht, wie diese Heftchen heute daherkommen, aber das D'Hondt-Verfahren wurde laut etlicher offizieller, semioffizieller und inoffizieller Quellen mittlerweile vom Hare-Niemeyer- und dann auch noch vom Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren abgelöst, weswegen wohl auch die besten Grafiker des Universums die Sache nicht verständlicher hinbekommen könnten, hätte man sie damit beauftragt.

Die Politik ist natürlich ein Gebiet, in dem es außer dem Wahlsystem sehr viele weitere unverständliche Dinge gibt, die neben allen anderen Problemen auch und gerade im Rahmen der hier vorliegenden Kolumne darunter leiden, dass sie wenig bis gar nichts mit Sport zu tun haben. Aber wenn wir unser Wahlsystem mit seiner geheimnisvollen Mischung aus Personen- und Verhältniswahl einfach mal auf die aktuelle Situation in der Herrenfußball Bundesliga übertragen könnten, dann wäre mein Herzensverein VfB Stuttgart möglicherweise weniger vom Abstieg bedroht, weil er eben einfach dabei wäre – gleich einer fundamentalistischen bayrischen Schwesterpartei der CDU oder der auch nach dem Ende der DDR bei uns irgendwie als okay geltenden Einheitspartei SED/PDS/Die Linke.

Versteh' einer den VfB

Weil das schon immer so ist. Oder weil es den Leuten egal ist oder sie nicht die Energie haben, hier Änderungen herbeizuführen. Oder weil irgendwelche Leute in verantwortlichen Positionen eben meinen, das müsse so sein. Verstehen muss man's nicht, kann man's nicht, soll man's wahrscheinlich auch nicht. Und nur unwesentlich besser zu verstehen ist die Tatsache, dass der VfB, dieser Club aus dem Herzen der vielleicht reichsten Region des gesamten Universums, nach bereits zwei Abstiegen in der jüngeren Vergangenheit nun schon wieder am Tabellenende der Bundesliga steht und zwischenzeitlich den Hamburger SV, Schalke 04 und andere (außer Hertha BSC) locker hinter sich lässt im Wettbewerb um den Titel "Unfähigster aller unfähigen Traditionsclubs".

Und weil das Stuttgarter Elend so schwer zu verstehen ist, wollen wir im folgenden eintauchen in das Schlamassel, abtauchen runter Richtung Grund. Wortspiele mit D'Hondt und dem langjährigen VfB-Aufsichtsratsvorsitzenden D. Hundt bieten sich in diesem Zusammenhang zwar an, kommen aber dennoch nicht zum Einsatz, weil ich den richtigen Dreh dafür nicht finde. Auch an die Leserinnen und Leser die Bitte, keine semilustigen Vorschläge diesbezüglich nachzureichen.

Gleich unter der Oberfläche begegnen wir dem völlig richtigen Gemeinplatz, dass Tradition keine Tore schießt. Tradition muss mit der Zeit gehen, das Gute mitnehmen, das Schlechte abwerfen. Und beim VfB gab es seit Mayer-Vorfelder keinen, der dazu auch nur ansatzweise imstande gewesen wäre. Außer MVs Nachfolger Manfred Haas vielleicht, ohne den es den Verein möglicherweise gar nicht mehr gäbe. Dass auch MV in der Spätphase die Dinge entglitten, sei hier der Vollständigkeit halber angefügt. Nicht dass noch eines kommt und schreit ...

Gletscherschmelze seit 2007

Nach der Meisterschaft 2007 kam eine Bewegung in die gesamte Branche, bei der auch diejenigen Traditionsvereine nicht mehr mitkamen, die noch genug Geld hatten. Der VfB hatte immer genug Geld. Fast immer. Siehe Ehrenpräsident Manfred Haas. Aber im Grunde haben seit 2007 bestenfalls mäßig begabte Leute daran gearbeitet, die noch vorhandene Substanz abzuschmelzen wie die globale Erwärmung unsere Gletscher. Immer neue Leute durften sich versuchen, durften sich mit prächtigen Gehältern die eigenen und die Taschen ihrer Beraterkumpels voll machen und mit viel Rampenlicht ihre Egos füttern. Und immer weiter Gletscher abschmelzen. Aus Mario Gomez wurde Pavel Progrebniak wurde Arteem Kravets wurde Luca Pfeiffer.

Auch neben dem Platz: Mäßig Begabte holen mäßig Begabte. Schlechte Leute umgeben sich mit schlechten Leuten. Ausnahmen bestätigen die Regel. Und keiner, der jemals richtig dazwischengegangen wäre. Kein MV (Früh- bis Hochphase) Zwei Punkt Null weit und breit. Wenn, selten, Leute geholt wurden, die ihr Handwerk verstanden, es beherrschten, so waren die herrschenden Mittelmäßigen immer gleich derart enthusiastisch, dass die guten Handwerker zu Managern wurden. Männer für die zweite Reihe wurden in die erste Reihe gestellt, ganz nach vorne. Und weil die ganz guten Leute häufig auch ganz ordentliche Freaks sind, bekam denen das nicht mit der ersten Reihe. Sie konnten alles bestimmen – und keiner weit und breit wollte widersprechen, fragen. Weil mittelmäßige Männer eben selten große Eier haben.

Erschwerend kommt hinzu: Die Branche ist voller schlechter Menschen. Daher ist die Wahrscheinlichkeit eher gering, dass mittelmäßige Männer, sei es durch reinen Zufall oder gewollt, gute Männer holen. Außerdem wird sie immer komplexer, die Branche. Weil immer mehr Geld drinsteckt. Hinterhalte, Betrügereien, Habgier plus immer kompliziertere Geschäfte erfordern eigentlich umso kompetentere Leute in den verantwortlichen Positionen. Und bessere Menschen auch. Aber: Welcher gute Mensch bei Sinn und Verstand (außer den zahllosen anonymen Superhelden in Foren und Social Media) wollte sich einen solchen exponierten Job bei einem solchen Traditionsverein in dieser Branche antun? Wer setzt sich und die Seinen einer derart toxischen Öffentlichkeit und Atmosphäre auch im eigenen Unternehmen freiwillig aus?

Im Falle der CEOs und Cheftrainer mag das Supergehalt manchmal als Schmerzensgeld dienen. Aber im Falle eines Präsidenten und Vorsitzenden des Aufsichtsrats, der den Job quasi halbtags macht und quasi umsonst? Wie soll das gehen, wie will einer das richtig machen – außer er hat seine Schäfchen längst im Trockenen, hat nichts zu tun außer VfB? Und glaubt ihr, solche Menschen existieren? Menschen, die nie mehr arbeiten müssen, den Club nur aus Liebe zum Fußball führen – und das dann auch noch gut machen, zum Wohle des großen Ganzen? Wir finden ja nicht mal gute Leute, die das gegen gute Bezahlung – ist gleich Schmerzensgeld – machen. Leider. Dabei hatte ich anfangs kurz Hoffnung, dass der neue CEO den Laden in den Griff bekommt. Und jetzt fliegt ihm schon nach einem Jahr alles komplett um die Ohren, mehr Baustellen als Bahn und Bildungswesen zusammen. Das ist sehr schade. Und für mich als Fan ist es sehr traurig. Aber insgesamt? Insgesamt ist es doch, Sie verzeihen, scheißegal.

Es ist egal, was ich schreibe. Egal, ob die Lampen absteigen. Ist ja schließlich auch egal, ob wir bis 2030 oder erst bis 2070 oder gar nie den Deutschlandtakt bei der Eisenbahn hinbekommen. Oder bis 2027 den Rechtsanspruch eines jeden Kindes auf einen Krippen- oder Kindergartenplatz. Oder das mit den Gletschern. Oder ob der Wald stirbt. Oder die Menschen im Mittelmeer ersaufen. Oder oder oder. Alles egal. Und wenn es nicht klappt wie vereinbart, wie versprochen, wie stolz herausposaunt – komplett ohne Konsequenzen. Wer wollte sich da aufregen, über die Maßen aufregen über einen vergleichsweise kleinen Fußballclub, der seit Jahren bis Jahrzehnten in einem Schweinezyklus der Inkompetenz gefangen ist? Wer außer mir? Und den ganzen Fans? Ach, es ist wirklich ein großer Jammer.


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5 Kommentare verfügbar

  • herkenrath
    am 31.03.2023
    Antworten
    Ich finde den Artikel sehr gut geschrieben, in sich stimmig, mit nahezu lyrischen Passagen.
    Wer dem nicht zustimmen kann, hat nichts begriffen, weder von der Welt, noch von Sprache und erst recht nichts vom Fußball in Cannstatt hart an der Grenze zu Untertürkheim.
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