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Winfried Kretschmann

Was für eine Performance

Winfried Kretschmann: Was für eine Performance
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Baden-Württembergs Grüne laufen Gefahr, zum zweiten Mal in eine unerquickliche Nachfolge-Debatte zu schlittern. In der vergangenen Legislaturperiode hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann den gordischen Knoten durch Wiederantritt durchschlagen. Diesmal müssen andere ran.

Joe Biden ist 80 und liebäugelt zumindest mit einer zweiten Amtszeit, Österreichs Bundespräsident Alexander van der Bellen hat den 79. hinter und regulär noch fast sechs Jahre vor sich. Hazel McCallion, die Sportwagen bevorzugende langjährige Bürgermeisterin von Mississauga, der sechstgrößten Stadt Kanadas, trat erst mit 93 zurück und starb Ende Januar wenige Tage vor ihrem 102. Geburtstag. So weit will es Winfried Kretschmann, Baden-Württembergs grüner Regierungschef und 74 Jahre alt, denn doch nicht treiben. Spätestens in drei Jahren soll Schluss sein, wenn Kräfte und Gesundheit es überhaupt zulassen, noch so lange weiterzumachen. Aber, klar, "das weiß nur der liebe Gott".

Immer mehr Grüne wollen sich auf die beiden allein aber nicht verlassen. Strateg:innen und Taktikfreaks haben zunehmend Konjunktur. Unterschiedliche Szenarien werden ernsthaft durchgespielt. Denn der Ministerpräsident lässt immer mal wieder erkennen, dass ihm die Freude am Regieren langsam, aber sicher abhanden kommt. Obendrein drückt aufs grüne Gemüt, dass er zwar weiterhin in Treue fest zu seinem angeschlagenen Stellvertreter Innenminister Thomas Strobl (CDU) steht, vor allem um innerkoalitionäre Turbulenzen zu vermeiden. Doch das bringt für die Gestaltung des gemeinsamen Vorgehens gerade in komplizierten Fragen nicht mehr viel. Der Einfluss des CDU-Landesvorsitzenden Strobl auf die eigene Landtagsfraktion schwindet immer weiter. Längst sind andere Achsen von Bedeutung. Kommunalpolitiker:innen bekannten kürzlich in kleiner Runde, dass die beiden Fraktionschefs Andreas Schwarz (Grüne) und Manuel Hagel (CDU) ihre Ansprechpartner seien und nicht mehr Kretschmann, der Hausherr des Staatsministeriums, vor allem wenn es eilt.

Fast auf den Tag genau zwölf Jahre sind vergangen, seit Kretschmann überraschend seine Grünen bei der Landtagswahl um 1,1 Prozentpunkte an der SPD vorbei auf Platz eins des neuen Bündnisse ("Der Wechsel beginnt") führte. Politik müsse nicht Spaß machen, sondern Sinn, ist seither einer seiner immer wieder hervorgekramten Merksprüche. Es gehe gar nicht mehr um Spaß, sagt einer aus der Gruppe jener jungen Parteifreunde im Landtag, die seine Enkel sein könnten, sondern um Zuversicht und Tatkraft, die erkennbar bleiben müssten.

"Damit habe ich mich nicht beschäftigt"

Sogar engste Mitarbeiter:innen verhehlen nicht, dass der Chef – jedenfalls in ihren Augen – deutlich mehr Unterstützung braucht als früher. Auf der allwöchentlichen Pressekonferenz gehört es zu den Ritualen von Anfang an, dass der 1,93 Meter große Grüne Fragen, ungerührt und knitz zugleich, ins Leere laufen lässt. Sein "Damit habe ich mich nicht beschäftigt", eine Formulierung, die Heerscharen gewöhnlicher Politiker:innen niemals über die Lippen bringen würden, hat den Kultstatus mitbefördert. Neuerdings aber ist Regierungssprecher Matthias Gauger als Souffleur auf den Platz direkt daneben vorgerückt, um den Weg zu weisen durch die vielen vorbereiteten Papiere, die über thematische Hürden helfen sollen, oder sogar um einzuflüstern. Keine Kleinigkeit, weil die bisher als durchaus souverän wahrgenommene Eigenheit, gerade nicht den Alleswisser zu markieren, jetzt umgedeutet wird zur Schwäche.

Dabei outete sich Kretschmann gerade erst als Spezialist für Performance. Ungewöhnlich offen berichtet er bei einer dieser Pressekonferenzen über den Stand seiner Pensionierungsüberlegungen. Auf immer neue Fragen fand er immer neue Antworten, die reichlich Interpretationsspielraum eröffneten. Und kam sogar auf die Möglichkeiten zu sprechen, die sich aus der Landesverfassung ergeben. Er könne jederzeit zurücktreten, "auch nachts um zwölf – und ich muss es nicht begründen". Vor allem aber plaudert er aus dem Nähkästchen. Denn er gibt schon jetzt potenziellen Nachfolger:innen Tipps, wie sie "sich performen" sollen. Mindestens genauso wichtig wäre, den Blick mit selbigem Ziel im eigenen Staatsministerium schweifen zu lassen.

"Villa Kunterbunt" nannte der damalige Landwirtschaftsminister Alexander Bonde (Grüne) die Regierungszentrale in der ersten Legislaturperiode noch mit dem augenzwinkernden Verweis auf eine gewisse Unordnung. Inzwischen werden gerade in grüngeführten Ressorts eher die strikten Hierarchien beklagt, die Kommunikation auf Beamt:innen-Ebene im wahrsten Sinnen von oben herab in den Talkessel. Auch dass und wie sich der Herr des Hauses abschotten lässt oder dessen starke Neigung, in strittigen Koalitionsfragen eher die CDU-Position zu stützen als die der Grünen. Terminabsprachen sind kompliziert, Briefe bleiben unbeantwortet, manche Auftritte sind medioker. Nicht nur im Heidelberger Grünen Kreisverband und in der Grünen Hochschulgruppe sorgte für erhebliches Stirnrunzeln, wie der Ministerpräsident mit Grußbotschaft und persönlicher Anwesenheit einen inoffiziellen Auftritt des polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki in der Alten Aula aufwertete. Der Rechtspopulist, mit der öffentlich bekundeten Neigung zur Wiedereinführung der Todesstrafe, befindet sich im Vorwahlkampf und hat mit seinen Tiraden gegen die EU europapolitisch nichts mit der Landesregierung gemeinsam. Außerdem verantwortet er viele höchst bedenkliche Reformen: vom Umbau der Justiz bis zum Abtreibungsverbot selbst nach Vergewaltigungen.

Gerade hat Baden-Württemberg den Vorsitz in der regionalen Zusammenarbeit der von Lothar Späth (CDU) in den 1980ern gegründeten "Vier Motoren Europas" übernommen – mit Blick auf die Lombardei ebenfalls vergleichsweise werte-elastisch, denn der dortige Präsident ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt: Attilio Fontana von der rechtsnationalen Lega Nord hat nicht nur Corona kleingeredet, er sah die weiße Rasse, die "razza bianco", angesichts der Migrationsbewegungen vom Aussterben bedroht. Und er ist gegen den faschistischen "Römischen Gruß" in den eigenen Reihen nicht vorgegangen. Der Grüne Florian Hassler, Europa-Staatssekretär und noch ein engster Mitarbeiter seit vielen Jahren, misst dem "keine große Rolle" in der Zusammenarbeit bei, weil "es wirklich um Themen geht, in denen auf der Projektebene gute Ergebnisse erzielt werden können". Kretschmann selber will in Brüssel gemeinsam "auch die Starken stärken".

Für baldige Frischluftzufuhr in der Villa Reitzenstein

Als hauptverantwortlich für diese Art Performance wird in Partei und Fraktion inzwischen weniger der Ministerpräsident selbst empfunden – "weil schon entrückt" – als vielmehr der Amtschef im Staatsministerium Florian Stegmann. Zahlreiche Entscheidungen tragen seine Handschrift. Berichtet wird aber auch von Unstimmigkeiten bei zentralen Themen wie Erneuerbare Energie oder Bürokratieabbau oder von Kompetenzgerangel. So lässt die angekündigte Weiterentwicklung des Umgangs mit China weiter auf sich warten. Allen Mitgliedern gerade des für Bürokratieabbau so wichtigen Normenkontrollrats wurde vor Weihnachten plötzlich der Stuhl vor die Tür gesetzt. Ein Schelm, der Böses dabei denkt: Der frühere grüne Freiburger OB Dieter Salomon soll den Vorsitz übernehmen.

Einen "Masterplan für die Transformation Verwaltung" hat der Chef der Staatskanzlei (CDS) schon vorgelegt. In dem steht der schöne Satz "Wir leben eine Kultur der Wertschätzung". Beschäftigte im Staatsministerium stellen genau das ausdrücklich in Abrede. Teilnehmer:innen einer Delegationsreise jüngst nach Indien könnten dem Ministerpräsidenten Tipps geben, damit er Stegmann "das monarchisch Überhebliche" abtrainiert oder die Neigung, selbst einfache Handgriffe von Untergebenen erledigen zu lassen.

Özdemir am Kaltstart?

Die Namen der möglichen Nachfolger möchte der grüne Ministerpräsident vor der Landespresse nicht nennen. Nicht aus Diskretion, sondern weil sie ohnehin bekannt seien. Der aussichtsreichste ist Cem Özdemir, vor wenigen Tagen im Bundesminister:innen-Ranking auf Platz fünf ausgewiesen. Dem früheren Bundesparteichef wird zugetraut, mit einer ganz anderen Taktik den Erfolg in drei Jahren zu sichern. Dann wäre seine Bilanz als Bundesminister für Landwirtschaft und Ernährung überschaubar und der Bad Uracher könnte tatsächlich erst in zwei Jahren – bevor er erneut zum Stuttgarter Bundestagskandidaten aufstellen lässt – den Kaltstart wagen. Von gerissenen Zielmarken der Vorgänger:innen weitgehend unbelastet und in der Hoffnung, die grüne Geschichte als zehnter Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg weiterzuschreiben. Mit 65 übrigens – er hätte, wenn Wähler:in es will, also auch gut und gerne zwei Legislaturperioden vor sich. Oder noch mehr.  (jhw)

Der CDS ist in grünen Strategieüberlegungen außerhalb der Regierungszentrale nicht zuletzt deshalb eine Schlüsselfigur, weil in Partei und Fraktion davon ausgegangen wird, dass er genauso lange im Amt bleibt wie sein oberster Chef. Alle, die die Reset-Taste möglichst bald drücken wollen, hoffen auf einen Stab- wie Generationswechsel deutlich vor 2026. Dies in der Hoffnung insbesondere auf "Frischluftzufuhr in der Villa Reitzenstein". Immerhin hatte die CDU 2021 als Eintrittskarte in die Koalition versprochen, bei einem vorzeitigen Rückzug Kretschmanns nicht Neuwahlen zu fordern, sondern den grünen Personalvorschlag im Landtag mitzuwählen. CDU-Fraktionschef Manuel Hagel hat das bemerkenswerte Zugeständnis vor Weihnachten im Kontext-Interview bekräftigt, wenngleich etwas verklausuliert. Hessen wäre eine Blaupause, wo der Übergang von Volker Bouffier zu Boris Rhein (beide CDU) unspektakulär und unterstützt vom Koalitionspartner Grüne rechtzeitig vor der nächsten Landtagswahl gelang. In Baden-Württemberg könnte es im Herbst 2024 so weit sein.

Zumal der bald 75-Jährige das Thema selbst in die Berliner Politblase getragen hat und auch dort im kleinen Kreis frank und frei über die Thronfolge redet. Oder sogar darüber, welche Lebenserwartung ihm nach den Erkenntnissen der Statistiker noch bleibt, wenn er erst 2026, mit Ablauf seiner dritten Amtszeit, in den Ruhestand geht: Gut fünf Jahre sind das bei Männern seines Jahrgangs. Sogar der "Spiegel" hat sich den Vorgängen im tiefen Südwesten bereits zugewandt und – entgegen allgemeinen Gepflogenheiten – eine eigentlich interne Episode öffentlich gemacht als Beleg dafür, dass Kretschmann für alle Eventualitäten vorbereitet sein will. Kürzlich widmete er sich nach einem Gespräch beim Rausgehen im Flur den Gemälden seiner Vorgänger, vor allem jener leeren Stelle im Entree des Staatsministeriums, die er selber einmal zieren wird. Er gestand, dass er sich bereits hat malen lassen. Und dass das Portrait, sicher verwahrt, auf den Tag der Tage wartet, wenn er auf jeden Fall vor seinem Achtziger seinen Abschied nimmt.


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1 Kommentar verfügbar

  • Dietmar Rauter
    am 30.03.2023
    Antworten
    Diese inzwischen geschrumpfte -da bürgerliche- Partei muss ihre Rolle grundsätzlich überdenken. Schließlich hat sie schon bei der letzten Wahl schon vor Allem in der aktiven Wählerschaft zu viele Stimmen verloren und gescheiterte OB-Kandidaturen kommen ja auch nicht von ungefähr. Und erleben wir…
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