Dabei hätten dem grünen Zugpferd Widerworte mal richtig gutgetan. Auch weil er dann selber der Sache vielleicht nochmals nachgegangen wäre und womöglich hätte feststellen können, dass der Vorgang natürlich im Staatsministerium angelandet war. Dessen Amtschef Florian Stegmann ist die "Geschäftsstelle Lenkungsgruppe SARS-CoV-2 (Coronavirus)" direkt zugeordnet, wo das Schreiben hängen blieb, ist ungeklärt. Forsch empfiehlt Kretschmann allen Kabinettsmitgliedern, ihn über "Briefe, die wichtige Fragen betreffen" zu informieren, "denn im Team zu arbeiten, ist Fehler vermeidend".
"Mein Land", "meine Regierung", "meine Entscheidung"
Dabei neigt der 73-Jährige selber nicht zu übertriebenem Team-Spirit, wie schon seine Sprache und dieser obsessive Hang zu Possessivpronomen verraten. In seinen Reden und Statements wimmelt es nur so von "Mein Land", "meine Regierung", "meine Entscheidung". Weil Theresia Bauer Oberbürgermeisterin in Heidelberg werden will, verkündet der knorrige Ex-Pädagoge, "verliere ich eine meiner besten und profiliertesten Ministerinnen". Die Entscheidung über Bauers Nachfolge im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst werde dann getroffen, "wenn sie ansteht, von mir, wie es in der Verfassung steht". Die Betonung liegt auf "von mir".
Es steht tatsächlich in der Verfassung, genauer in Artikel 46, Absatz zwei, dass der Ministerpräsident "die Minister, Staatssekretäre und Staatsräte beruft und entlässt". Der nächste Satz offenbart den meilenweiten Unterschied zwischen geschriebenem Wort und gelebter Praxis. Denn der Ministerpräsident bestellt "seinen Stellvertreter", heißt es weiter, was natürlich Unfug ist und der gelebten politischen Praxis widerspricht. Selbstverständlich hat die CDU entschieden, dass deren Parteichef und Innenminister Thomas Strobl Stellvertretender Ministerpräsident wird. Niemand sonst, und schon gar nicht ein einzelner Grüner.
Viele Jahre gehörte das Spannungsfeld zwischen Professionalisierung und einem möglichst breiten Mitspracherecht zur Öko-Partei wie die Sonnenblume. Mit aus heutiger Sicht untauglichen Instrumenten wie der Zwangsrotation, nach der Abgeordnete der Grünen nie länger als zwei Jahre im Parlament sitzen sollten, um ihre Plätze dann für Nachrückende freizumachen, versuchte die Partei, Ämterhäufung und Machtfülle entgegenzuwirken. Kretschmann hielt schon damals wenig von solchen Ängsten, sondern warnte vor "parteibornierter Basokratie" als einem Instrument der Selbstabkapselung. Und befürchtete sogar, die Partei-Neugründung könne bald wieder Geschichte sein, wenn sie nicht Gelassenheit und einen langen Atem aufbringe.
Nirgendwo agiert ein Ministerpräsident so losgelöst
1991 legte der ehemalige Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn, damals Grünen-Fraktionschef im Landtag, ein Reformpapier vor, "damit die Grünen nicht kaputt gehen". Der Südwesten sah sich als Vorreiter für die Abkehr der Realos von Gründungsprinzipien. Nach langer Diskussion wurde die Abkehr von der "undemokratischen Bestimmung durch informelle Machtcliquen" beschlossen. Ebenso, um "eine Professionalisierung der politischen Arbeit voranzutreiben", der langsame Abschied von der Trennung von Amt und Abgeordnetenmandat. 2003 wurden auch auf Bundesebene weitere Lockerungen beschlossen, und seit vier Jahren ist es sogar erlaubt, für acht Monate beide Funktionen inne zu haben. Robert Habeck, damals Minister in Schleswig-Holstein, hatte das 2018 zur Bedingung für die Übernahme des Bundesvorsitzes gemacht.
Ohne Kretschmanns Verdienste und Popularität, ohne seine Macht und seinen Einfluss ist der dauerhafte Höhenflug als neue Baden-Württemberg-Partei unvorstellbar. Zugleich bleibt die Konstruktion des weitgehend losgelöst agierenden Ministerpräsidenten ein Alleinstellungsmerkmal der Grünen. In Union oder SPD könnten die jeweiligen Regierungschefs wichtige inhaltliche oder Personalentscheidungen niemals derart souverän treffen, oder richtiger: im Alleingang. Denn Schwarze und Rote in dieser Funktion sind immer Vorsitzende ihres Landesverbandes oder eng eingebunden und wissen genau, dass sich solche Solopartien, ohne Hinzuziehung anderer wichtiger Leute, von selbst verbieten: risikoreich, weil konfliktträchtig. Von Hans Filbinger bis Stefan Mappus musste beispielsweise die regionale Ausgewogenheit in der CDU gewahrt bleiben. Alle vier Bezirksverbände wachten penibel darüber, dass auf ihre Belange und Standpunkte Rücksicht genommen wurde und wird.
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