Mein Problem gleich zu Beginn besteht darin, wie ich eine Datei zum Thema "Zehn Jahre Kretschmann" überhaupt benennen soll: Vater unser? Grüner Gott? CDU-Versteher? Meister des Hannah-Arendt-Zitats?
So despektierlich es scheint, ich werde wohl das erste nehmen. Nicht unser Vater im Himmel, natürlich, sondern unser Vater in Baden-Württemberg. Und das ist eben nicht übertrieben, weil Winfried Kretschmann es geschafft hat, das Bild des wahrhaftigen "Landesvaters" zurück in die Politik zu holen, das Bild leuchten zu lassen. Dunkelgrüner Turmalin.
Ein Vater liebt alle.
Natürlich, es gehört zu den Phrasen von Wahlgewinnern, gleich wie polarisierend zuvor die wahlkämpferischen Auseinandersetzungen auch waren, sodann zu verkünden, für alle Bürger sich einsetzen zu wollen, für alle da zu sein. Aber wer glaubt's? Wer schafft's, einen glaubwürdigen "breiten Arm" zu verkörpern, der sich landesväterlich oder landesmütterlich um das ganze gebeutelte Land schließt? Um die Kleinen und die Großen, um die Menschen wie die Tiere, um die Gläubigen wie die Ungläubigen, um Menschen, für die die Hölle im Verlust ihres Automobils bestünde, wie für die, die meinen, längst in der Hölle zu leben und dabei nicht zuletzt im Automobil eine teuflische Fratze erkennen. Und klar hat es mich gekränkt, wie eilig er es hatte, seinen breiten Arm raschest um die Automobilindustrie zu legen, andererseits den Gegnern von Stuttgart 21 gewissermaßen zu empfehlen, trotz offenkundig gefälschter Zahlen als gute Verlierer vom Platz zu gehen, so als handle es sich um die Spieler seines geliebten VfB Stuttgart, denen grad wieder mal ein paar Elfmeter vorenthalten wurden (ohne dieses ganze Stuttgart-21-Drama, das wie jedes gute Drama wesentliche Züge der Komödie und der Groteske besitzt, wäre Kretschmann als grüne Galionsfigur – davon bin ich überzeugt – niemals so weit gekommen, auch wenn dann Fukushima gleich einem "bösen Wunder" den entscheidenden Druck verursachte). Und dann auch noch die Sache mit dem Asylgesetz.
Und doch, ein Vater ist ein Vater ist ein Vater. Und Kretschmann das Geschenk der Grünen an eine sich im Baden-Württembergischen wertkonservativ verdichtende Welt.
Wenn ich, der ich vor dreiundzwanzig Jahren nach Baden-Württemberg kam, nach Wien zu meinen Eltern fahre, dann gehört es stets zu den ersten Fragen meines achtundachtzigjährigen Stiefvaters, wie es denn dem Kretschmann gehe und ob der noch immer Ministerpräsident sei. Und wenn ich dies bejahe, dann lächelt mein sonst ganz in die Musik und die Malerei verliebter Stiefvater auf eine Weise, als würden wir gerade von einem jüngst auferstandenen Bruno Kreisky sprechen.
Bruno Kreisky, der Sozialdemokrat, der von 1970 bis 1983 Bundeskanzler der Republik Österreich war, der "Sonnenkönig", wie man ihn nannte, unter dessen Regentschaft bedeutende, nein epochale Reformen in Bildung, Arbeit, Sozialem und Strafrecht erfolgten, und der wie Kretschmann diese Gabe besaß, gleich was er tat oder nicht tat, den Eindruck zu erwecken, von einer höheren Macht begleitet und beraten zu sein, selbst noch, als Kreisky in Erwartung einer Mehrheit für die von ihm bevorzugte Atomenergie die erste österreichische Volksabstimmung stattfinden ließ und solchermaßen genau dieses Kraftwerk verhinderte (und höhere Mächte müssen natürlich nicht automatisch katholisch sein, können sie aber).
Es ist eine Aura, die solche Männer und Frauen umgibt, eine Aura, die selbst noch jene anspricht, die diese Männer und Frauen gar nicht gewählt haben. Diese Aura ist entscheidender als alle Versprechen, Vorhaben, Analysen, Handlungen und Unterlassungen. Es ist das spezielle Auftreten (selbst noch in Momenten des Fehltritts), es ist der Blick, die Mimik, es ist vor allem, wie etwas gesagt wird. In der Malerei würde man sagen: Es ist der Duktus.
Und Kretschmann verfügt nun mal über einen bestechenden Duktus. Und es ist eben gar nicht die Farbe entscheidend, mit der er hier "malt", also Grün beziehungsweise alle Nuancen von Grün bis hin zu einem Dunkelgrün, das sich von Schwarz bloß noch durch seinen durchscheinenden grünen Untergrund unterscheidet. Sondern es ist seine Pinselführung, sein Strich. Kretschmanns Strich verbindet das Joviale mit dem Konzentrierten und die große Geste mit der Bescheidenheit (und genau darin zeigt sich natürlich das Katholische dieses Mannes, indem er das Ritual, das Feierliche, das Festliche, ja, den Spaß, den Humor, die Lebensfreude mit der Heilslehre zusammenführt).
Nicht zuletzt aber verbindet er auch das Väterliche mit dem Mütterlichen. Man mag das nicht gleich erkennen, aber im Kretschmann steckt auch eine Merkel, etwas Schwebendes. Eine Güte, aber nicht ohne Strenge. Die Merkel im Kretschmann ist gewissermaßen dessen evangelisches Geheimnis.
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Als echter und langjähriger Reingeschmeckter verfüge ich selbstredend über Kretschmanns Reden (zusammengestellt von Michael Kienzle) und ziehe diese nun aus dem Regal, wobei sich das Buch, Gott weiß warum, zwischen dem Teebaumöl Praxisbuch und Die gute Küche wiederfindet. Und indem ich eine beliebige Seite aufschlage – es ist die Seite 99 – lese ich: "Uns 'wackeren Schwaben' aber ist aufgegeben, andere nicht niederzumachen und nicht im Stolz auf uns selbst zu erstarren, sondern uns aufzumachen, 'Schritt vor Schritt' gute Traditionen in die Zukunft fortzuschreiben."
Warum klingt das in meinen Ohren - und trotz des Aufrufs niemanden niederzumachen - wie eine Drohung? Warum denke ich an eine gigantische Windkraftanlage, deren Rotorblätter aus einem gewaltigen Mercedesstern bestehen und den Wind von ganz Deutschland aufsaugen?
Aber es ist eben auch die herrliche Wucht seiner vom Dialekt gleichsam aufgerauten Stimme, die man hört, auch wenn man ihn nur liest (jeder hat Kretschmanns Stimme im Ohr, als bräuchte er sehr viel weniger Fernsehauftritte als manch anderer oder andere, um sich im Gehör des Publikums festzusetzen) – wobei diese Aufrauung durch den Dialekt auch eine Verminderung des Reibungswiderstands mit sich bringt. Wie bei der Hautoberfläche schnell schwimmender Haie. Ich will nicht sagen, Kretschmann sei ein Hai, sondern dass er auch in turbulenten Strömungen gut vorwärts kommt. Zur Not ist immer ein Zitat von Hannah Arendt zur Stelle (so sehr ihm manche einen missverständlichen Gebrauch der deutschen Philosophin vorhalten, aber im Grunde gibt es selbst beim Zitat keine Wahrheit, sondern bloß das Geschick, mit dem zitiert wird, denn natürlich verwandelt sich das Zitat im Zitierenden).
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Wenn Kretschmann während des Wahlkampfes zur letzten Landtagswahl seine Auftritte auf Grund einer Erkrankung seiner Frau stark einschränkte, war keinen Moment zu zweifeln, dass er dies aus tiefer Überzeugung und echter Empathie zu seinem Lebensmenschen tat. Es war aber ebenso augenblicklich klar, wie sehr Kretschmann diese Auftritte gar nicht benötigen würde, um zu gewinnen. Auf eine gewisse Weise stand er ja bereits in jedem baden-württembergischen Wohnzimmer gleich einem Porträt an der Wand. Ich will jetzt nicht sagen gleich einer Heiligenfigur, das wäre dann doch eine schlimme Übertreibung. Aber doch als jemand irgendwie Unter-den-Leuten-Seiender. Um jetzt nicht von einer Art von Geist zu sprechen.
4 Kommentare verfügbar
Lowandorder
am 18.05.2021Als 2xBackengebliebener - ist es natürlich mit Sympathie bei einem Gumminasium Retter Persetter nicht weit her.
& Deswegen - fällt mir zu -
“ Auf eine gewisse Weise stand er ja bereits in jedem baden-württembergischen Wohnzimmer gleich einem Porträt an der Wand.“
Mit Verlaub nur…