Zurück zu Citizen Kane, dem superreichen Zeitungsherausgeber, der sich ein gewaltiges Schloss hat bauen lassen, Xanadu, um dieses mit einer unüberschaubaren Menge wertvoller Kunstgegenstände wie auch Bergen von Plunder und Kitsch zu füllen, und damit eine Sammlung erschafft, die quasi "alles" beherbergt. So heißt es etwa nach seinem Tod: "In den Kisten ist noch ein halbes schottisches Schloss, das war noch gar nicht ausgepackt." Als er stirbt, ist aber vor allem eines nicht geklärt: Was bedeutet "Rosebud"? Denn dieser Name ist es, den Kane als Letztes nannte: sein Vermächtnis, seine Sehnsucht noch im Tode. Rosebud ist das, was er suchte und nicht fand. Der Journalist im Film wie auch der Zuseher spekulieren die ganze Zeit darüber, was es sein könnte, wonach sich der, der alles hat, der, der sich alles leisten kann, so unbändig sehnt. Am Ende des Films gleitet das Auge der Kamera über das Meer von Skulpturen und Gemälden und Objekten, um sich schließlich einem Stück Holz zu nähern, einem simplen, alten Schlitten, der soeben von einem Arbeiter ergriffen und mit anderem wertlosen Plunder in einen großen Ofen geworfen wird. Im Verbrennen noch erkennt der Zuseher den Namen des Schlittens: Rosebud – und erinnert sich nun endlich an Kane als kleinen Jungen im Schnee auf seinem Schlitten, während drinnen in der Hütte sein Schicksal beschlossen wird, indem die verarmten Eltern der Vormundschaft durch einen Bankier zustimmen und damit den Umzug des Jungen nach Chicago beschließen.
In Rosebud steckt das ganze Glück von Citizen Kane
Das hat vernünftige Gründe – die bessere Erziehung, das Fernhalten eines cholerischen Vaters, der Reichtum, der dem Jungen mit fünfundzwanzig beschieden sein wird –, aber es ist eben doch ein Verlust, der nie wieder heilt. Den Reichtum der Welt zunächst lustvoll, dann mit immer mehr Verbitterung aufsaugend, kulminiert das ganze Verlangen dieses unglücklichen Mannes in einem hölzernen Schlitten, der den Namen Rosebud trägt und an einen Moment der Kindheit erinnert, an einen märchenhaften Wintertag, dem der erwachsene Millionär dann nur noch in Form einer Glaskugel begegnet: einer eingeschlossenen Imitation der Idylle.
Ich weiß schon, wir können nicht alle Kinder bleiben, Kinder können keine Flugzeuge lenken, und sie sind nicht imstande, die Filter von Klimaanlagen auszuwechseln, aber diese gewisse Sentimentalität der Erinnerung ist wohl nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass wir die Kindheit nicht einfach nur verlassen, sondern ihr geradezu den Garaus machen. Die Schule etwa ist eine einzige Kindheitsverleugnungsanstalt. (Das ist natürlich eine maßlose Übertreibung meinerseits, genährt aus eigener Erfahrung.)
Was ist es, was die mächtigen Männer und Frauen dieser Welt verloren haben und also suchen? Ist allen von ihnen eine Art von "Rosebud" abhanden gekommen, ein Schlitten, ein Winternachmittag, eine fröhliche Ausgelassenheit, die niemanden schadet, sondern nur dem nützt, der sie erlebt? Bei nicht wenigen hat man das Gefühl, die Trauer über den Verlust führe zu dem zornigen Bedürfnis, die Welt in Schutt und Asche zu legen. Es ist eben nicht die reine Profitgier, nicht einmal das reine Streben nach Macht oder Außerordentlichkeit (der Wirtschaftsverbrecher etwa hält sich stets für ein Genie), sondern ein tief empfundener Mangel, der dazu verführt, auf eine erfinderische Weise destruktiv zu sein. Wie jemand, der im Ärger über eine verlorene Tennispartie den Center-Court aufkauft und nachher einebnen lässt.
Die Welt ist so, wie sie sich der kleine Maxi vorstellt
Der Verlust ist tief empfunden, aber nicht eingestanden. Darum reden alle so viel von Sachlichkeit und Realpolitik und komplizierten Verfahren und erklären den "einfachen Leuten auf der Straße", dass die Welt nicht so funktioniert, wie der kleine Maxi sich das vorstellt (kriegen wir dann mal den Mailverkehr zwischen Banker und Politiker zu lesen oder die Telefongespräche zweier Spekulanten, dann wissen wir, dass die Welt tatsächlich so ausschaut, wie der kleine Maxi sich das vorstellt). Ich glaube, es ist so: Es sind immer die Falschen, die einen Psychotherapeuten aufsuchen.
Aber zurück zur Liebe, über die ja gar nicht genug gesprochen werden kann und die wie kein anderes Ereignis die Pole der Treue wie der Untreue einschließt. Der Verfasser des "Hagakure", des Ehrenkodexes der Samurai, Tsunetomo Yamamoto, schreibt dazu: "Die Liebe, die einer Geliebten offenbart wird, wenn man noch lebt, ist nicht tief; mit der geheim gehaltenen Liebe zu sterben ist die höchste Form der Liebe." Das hat etwas für sich, weil im Geheimen auch die Reinheit liegt: der Verzicht als eine Geste, die sich selbst genügt. Also ein Verzicht, der wahrhaftig ist (und nicht etwa wie der, eine Zigarette nicht zu rauchen, wenn man ohnedies Nichtraucher ist, oder eine Großzügigkeit zu praktizieren, die einem sein Steuerberater empfiehlt). Aber wir können nicht alle Samurai sein und allein einem Fürsten dienen, einer Kirche oder einem Gott. Wir gehen praktisch in die Liebe hinein wie in einen Wald, wo es schön ist, aber auch Gefahren lauern. Und die größte besteht eben darin, sich mittels einer Liebe – der Liebe zum Kind, zum Partner, zu einem Tier, zu einer bestimmten Stelle des Waldes – überhaupt erst in die Gefahr zu begeben, etwas zu verlieren. Der nichts und niemand Liebende braucht auch den Verlust nicht zu fürchten. In der von Kindern und Haustieren und Lebenspartnern befreiten und von einer rumänischen Putzfrau gepflegten Designerwohnung wird es immer sauber sein. Aber auch einsam.
Der Mensch kann nicht ins Wasser, ohne nass zu werden
Wer aber liebt, der bezahlt dies mit der ständigen Angst vor dem Verlust und mitunter auch mit dem Eintritt desselben. Es ist wirklich so, dass der Mensch nun mal nicht ins Wasser gehen kann, ohne nass zu werden. Oder eben seine Taucheranzüge nass zu machen oder seine U-Boote oder die Strohhalme, mit denen er das Wasser trinkt. Letztendlich ist es die Träne, die aus seinem eigenen Auge tritt, die ihn nass macht. Ich weiß schon, Tränen sind einem biochemischen Prozess zu verdanken, der auch wirksam wird, wenn wir kitschige Romane lesen oder uns ein paar Liegestütze zu viel abverlangen, und dennoch erscheinen mir Tränen wie die sichtbar gewordenen kleinen, hellen Edelsteine, die von einer unsichtbaren Krone stammen, die ein jeder Mensch trägt.
Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich zum Schluss ein Zitat aus der Populärkultur gebrauche, aus dem Star-Trek-Universum, wenn nämlich im zweiten Kinofilm dieser Serie der Halbvulkanier Mister Spock in dem Moment, da er sich für seine Gefährten des Raumschiffes Enterprise opfert, eine vulkanische Lehre zitiert, die da heißt: "Das Wohl vieler wiegt schwerer als das Wohl weniger oder des Einzelnen" – ein logischer, ein vernünftiger Satz. Spock stirbt, die anderen überleben. Doch nur einen Film weiter wird Spock zurück ins Leben geholt, allein dadurch gerettet, dass in gänzlich unvernünftiger Weise seine Gefährten wahrhaftig für ihn durchs Feuer gehen. Und als nun der wiedergeborene Spock seinen alten Freund, Captain Kirk, fragt: "Warum?", antwortet dieser: "Weil das Wohl des Einzelnen schwerer wiegt als das Wohl von vielen."
Klar, man könnte sagen, das sei Pathos aus der fiktiven Welt mit Überlichtgeschwindigkeit reisender Menschen, aber wenn man diesen Satz nicht verwechselt mit einer Art von Personenkult, dann ergibt sich daraus genau jene Wahrheit, über die ich versucht habe, hier und heute ein wenig zu erzählen.
So wie ich glaube, dass die Engel in den Büchern und Tieren stecken, und so wie allgemein behauptet wird, der Teufel stecke im Detail, meine ich, dass Gott in der Treue steckt.
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Willibald Papesch
am 14.09.2013Keine Über-, eher eine Untertreibung. "Man hat uns Arme und Beine abgeschnitten, dann ließ man uns frei herumlaufen" schreibt Antoine de…