Unser Herz vom Eisen zu befreien wäre in der Tat die Aufgabe. So wichtig für viele Menschen die Fortschritte in der modernen Herzchirurgie sind – und ich will wahrlich nicht darüber spotten –, so scheint die Bildung und Ausbildung des Herzens doch auf der Strecke geblieben zu sein. Das ist einfach kein Schulfach. Und es ist darum mehr als nur eine Dystopie, sich vorzustellen, wie am Ende unserer Epoche die einzigen zu Gefühlen und Poesie und romantischen Empfindungen fähigen Wesen die Maschinen sein werden, Maschinen, denen wir gewissermaßen unser menschliches Erbe hinterlassen haben.
Das Matchboxauto ist die Brücke zur Kindheit
In einem der wegweisenden Werke der Filmgeschichte, Orson Welles' Darstellung des im Machbarkeitsrausch sich hochschraubenden und niederstürzenden Medienmoguls Charles Foster Kane – "Citizen Kane" –, geht es im Grunde ebenfalls um einen Verlust. Den Verlust der Unschuld, den Verlust der Kindheit. Und es ist ja mehr als eine pure Sentimentalität, wenn wir anhand von Fotos, alter Familienfilme, vor allem natürlich dank aufgehobener Kinderzeichnungen und niemals entsorgter Stoffbären und Puppen und zerkratzter Matchboxautos (denn nicht wenige Männer sind den Spielzeugautos ihrer Kindheit so viel treuer zugetan als den ausgewachsenen benzinbetriebenen Automobilen, die sie eins durchs andere ersetzen), dank all dieser Objekte also mit einer Zeit verbunden sind, die uns abhanden gekommen ist. Das mag im einen Fall tatsächlich eine freudvolle Kindheit gewesen sein, im anderen von Brüchen jeglicher Hinsicht durchsetzt. Aber es geht auch nicht darum, etwas schönzureden, sondern den Verlust zu definieren, den wir erfahren, indem wir erwachsen werden.
Denn wer die Kindheit überlebt, verliert sie auch. Es ist dies gewissermaßen ein Tod mitten im Leben: Wir schauen auf unsere Kindheit, und es ist, als betrachteten wir unseren eigenen Grabstein. Wahrlich bezeichnend, wie sehr wir in unseren Träumen gerade diese "verlorene Zeit" immer wieder durchwühlen, den Schrecken wie die Idylle, die kafkaartigen Abgründe der Versagensangst genauso wie die nestartige Geborgenheit, die mit der elterlichen Liebe einhergeht oder einhergehen kann. Wobei es natürlich stimmt: Wir können uns unsere Eltern nicht aussuchen (aber bitte nicht vergessen, die Eltern auch die Kinder nicht, was einem klar wird, wenn die eigene Tochter plötzlich als Punk dasteht oder der eigene Sohn sich entschließt, Jura zu studieren, denn ob nun "Punk" oder "Jura" als schreckliche Nachricht erlebt wird, hängt ja vom Standpunkt des Betrachters ab), wir können einander also nicht aussuchen, doch die Liebe und Zuneigung (angefangen bei der Aufmerksamkeit, die wir bereits erfahren, wenn wir im Mutterleib sind) werden wir nie wieder in dieser Bedingungslosigkeit erfahren.
Lieber Gott, bewahre mich vor falschen Wertpapieren
Auf den Punkt gebracht: Auch das hässliche Baby – manche sehen ja wirklich aus wie zerdrückte Riesenchampignons – wird von seinen Eltern geliebt (die Hässlichkeit auch gar nicht als solche wahrgenommen), während wir später im Leben zumeist eine Liebe erfahren, die doch sehr von unseren Attraktionen abhängt, ja selbst der viel zitierte Satz "Es kommt auch auf innere Werte an!" bezieht sich immerhin auf die Attraktion einer moralisch hochwertigen Persönlichkeit, während die Liebe der Eltern einem auch dann begegnet, wenn man nicht zu den Allerbravsten gehört.
Ich denke, es ist genau dieses Moment der unbedingten und bedingungslosen elterlichen Liebe, die sich Menschen von Gott erwarten, die sich möglicherweise aber auch Gott von den Menschen erwartet. Somit keine an "Ergebnisse" gebundene Gegenliebe, etwa das Ergebnis, das sich aus einem erhörten Gebet ergibt. "Lieber Gott, mach mich fromm oder reich oder schön, bewahre mich vor Krankheiten oder wenigstens davor, die falschen Wertpapiere zu kaufen." Und dann kaufe ich doch die falschen und hole mir doch einen Schnupfen, mitunter Schlimmeres – und trotzdem bin ich Gott zugetan. Das ist nicht immer leicht, vor allem, wenn man sich vom Schicksal verfolgt fühlt und das Leben in seiner massiven Ungerechtigkeit erkennt (und wir erkennen natürlich eher, wenn wir uns in die falsche Schlange an der Supermarktkasse stellen). Man kann Gott verlieren. Und ich meine damit nicht einen Kirchenaustritt, sondern jene Distanz, die wir etwa auch erleben, wenn uns unsere Eltern gleichgültig oder zuwider werden und uns mitunter nichts bleibt als die Hoffnung, wenigstens mal eine Erbschaft antreten zu können.
Einsamkeit ist einer falschen Liebe vorzuziehen
All das schmerzt, denn die Lücke ist nicht wirklich zu füllen, die elterliche Liebe so wenig zu ersetzen wie die kindliche Liebe. Wie überhaupt eine Liebe nicht durch eine andere zu ersetzen ist. Wo es geschieht, ist es falsch. Einsamkeit ist einer falschen Liebe vorzuziehen. Eine wahrhaftige Lücke besser als eine trügerische Auffüllung derselben. Und in jeder Distanz die Möglichkeit der Überwindung. In jedem Weggehen das Potenzial der Rückkehr. In jedem Schmerz auch ein Keim des Trostes. Darum meint Fontane auch: "Wir hören gerne das Lob dessen, was uns verloren ging. Sonderbar, indem es uns das Gefühl des Verlustes steigert, tröstet es uns."
Heinrich Steinfest (52), Stuttgarter mit österreichischem Pass, gehört keiner Konfession an, ist ungetauft, aber nicht ungläubig. "Wenn ich nicht wählen darf, kann ich wenigstens reden", sagt er. Die Predigt hat er in der Stuttgarter Friedenskirche gehalten.
1 Kommentar verfügbar
Jue.So Jürgen Sojka
am 01.10.2022Wahrlich das, was Gastautor Steinfest erkannt hat „Die Politik ist eine Meisterin des Vergessens“.
Allerdings darf dabei die Semantik dem Tatsächlichen untergeordnet sein:
Die Politiker sind Meister des Vergessens!
Wolfgang Bosbach…