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Persil mit Gummibär

Persil mit Gummibär
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Auf Schautafeln sehe der künftige S-21-Bahnhof immer strahlend rein aus, schreibt der mehrfach preisgekrönte Stuttgarter Literat Heinrich Steinfest. Dort fühle man sich womöglich "wie ein leibhaftig gewordener Dreiwettertaft". Und dann all die Gummibärchen, mit denen die Deutsche Bahn ihn ständig abzuspeisen versucht. Ein Lamento zum Umbau des Bonatzbaus.

"Wer mit dem Geist der Traurigkeit geplagt wird", dem empfiehlt Luther, "der soll aufs höchste sich hüten und vorsehen, daß er nicht allein ist."

Ein Glück also, daß ich nicht einsam in einem Auto sitze, einsam auf dem Sattel eines Rades (volkstümlich) oder Pferdes (elitär), einsam mich dem Reisen verweigere und mich in die eingeschattete Tiefe meines Arbeitszimmers zurückziehe, sondern mich mitten auf einem stark belebten Bahnhof befinde. Dumm freilich, daß er, der Bahnhof, Grund für meine Traurigkeit ist. Wie man sich halt fühlt, wenn etwas zu Ende geht, etwas für immer verdirbt, etwas verloren geht und man – wie es oft gesagt wird – mit dem Sterbenden ein bißchen mitstirbt.

Der Bahnhof, dessen "Gliedmaßen" schon so lange fort sind, dessen benachbarte Parkanlage schon so lange Geschichte ist, daß mir vorkommt, als ich 1997 nach Stuttgart kam, war alles schon verloren – auch wenn ich mit der Naivität des frisch Zugezogenen glaubte, bei der Ausstellung im Bahnhofsturm handle es sich um eine Dokumentation glücklich gescheiterter, verquerer Architekturphantasien –, jetzt ist auch sein Herz an der Reihe. Welches freilich anders als Seitenflügel und Park nicht einfach herausgerissen werden soll, sondern eine "Verwandlung" erfährt, die notwendige Verwandlung, die sich daraus ergibt, nicht mehr "Ziel" zu sein, sondern "Durchgang" oder "Übergang" (manche meinen "Untergang"). Und solcherart wird jenes neue Herz die Zuneigung und Pflege erhalten, die dem alten Herzen verwehrt blieb.

Man könnte meinen, es sei geradezu unklug von diesem Bahnhof gewesen, so gut zu funktionieren. Das scheint bei manchen Entscheidungsträgern richtiggehend eine Wut erzeugt zu haben und das Bedürfnis, den "streberhaft Pünktlichen" wissentlich zu vernachlässigen. – Es bleibt ein ganz persönlicher Eindruck von mir, daß die weiterhin begeistertsten Anhänger der "großen Verwandlung" die sind, die gar nicht mit der Bahn fahren, oder nur dann, wenn am Ende dieser Bahn ein Flugzeug steht. Wie Leute, die es kümmert, wer Papst wird, dabei aber weder an das Christentum noch an Gott denken, sondern eher daran, was aus der Vatikanbank wird.

Wenn ich die großen Wandtafeln sehe, auf denen der neue Bahnhof mit der Anmutung eines abstrahierten Hochzeitskleides angekündigt wird – der schönste Tag Ihres Lebens!, und der darf dann auch was kosten –, dann kommt mir vor, es könnte genauso gut ein Flughafen, eine Sanitärsupermarkt oder das Entrée eines Schlafmittelherstellers sein.

Der "alte" Bahnhof  war stets eine Herausforderung für den Betrachter und es war schon recht, daß die Diskussionen um sein Aussehen zwischen den Polen Naziarchitektur und solitäres Bindeglied zwischen Historismus und klassischer Moderne lagen, denn das tut gute Architektur nun mal, uns zum Denken anregen, mit uns "sprechen", anstatt uns einfach einzuschläfern, damit wir in ihnen treiben wie ferngelenkte Sandwiches.

(Es ist eine Pointe für sich, daß Paul Bonatz, der ja so gegen das "Neue Bauen" polemisierte, sich mit diesem Bahnhof – bei aller Wucht des Baus – geradezu asymmetrisch zärtlich an seinen "Gegner" angelehnt hat.)

Ach, bin ich sentimental. Dabei ist man doch schlecht beraten, seiner Melancholie zu folgen, die einem ja nicht in die Zukunft leitet, sondern bloß den Blick auf das Vergangene lenkt. Klar, man könnte sagen, der Blick auf das Vergangene hilft, aus Fehlern zu lernen. Aber sieht man denn die begangenen Fehler als solche? War es wirklich vernünftig, sich auf eine Diskussion über Gleisbelegungen, Fahrzeitersparnisse, Ausstiegskosten, Bauzeiten etc. einzulassen? Sich mit Leuten auf eine Diskussion einzulassen, für die es keine richtigen oder falschen Zahlen gibt, sondern vermittelbare und unvermittelbare, und für die es eine gewisse Logik darstellt, nur die vermittelbaren zu nennen (niemand hat das schöner und klüger ausgedrückt als Günther Oettinger). Wer mit Leuten konkurrieren möchte, für die die Kunst der Verkleidung eine sinnvolle Profession darstellt, darf sich nicht wundern, im Wettstreit von Unter- und Übertreibungen den Kürzeren zu ziehen – und indem er das Argument der "Vernunft" vor sich herträgt, als Zukunftsverweigerer, Maschinenstürmer und Spaßbremse dazustehen. Wäre die Zukunft vernünftig, mein Gott, wir hätten weder Kriege noch Armut noch hätte dieses schwedische Mädchen mit einem Segelboot nach Amerika fahren müssen. Vernunft überzeugt keine Leute, die insgeheim darauf warten, daß ein Komet abstürzt und die bis dahin noch ein wenig Spaß haben wollen. Der Spaß, und sei es der Spaß am Abreißen und Aufbauen wie am Kriegführen und Friedenschließen, ist das stärkste Argument in der Welt, nicht die Vernunft.  

Meine Wirklichkeit als chronischer Bahnfahrer ist freilich die, daß ich gar nicht daran interessiert bin, irgendwo fünf Minuten oder fünfzehn Minuten oder noch schneller anzukommen, sondern dort, wo ich ankommen soll, pünktlich zu sein, um meinen Anschlußzug zu erreichen – und diesen nicht nur dann zu erreichen, wenn auch er Verspätung hat. Es ist wie mit der Liebe. In Wirklichkeit wollen wir gar nicht den klügsten, elegantesten, gutaussehendsten Partner, der leider gedanklich wie auch körperlich immer dort ist, wo wir gerade nicht sind, sondern jemanden an unserer Seite, mit dem wir alt werden können. Und mit ihm, dem Partner, im Alter etwas anderes verbinden als Bitterkeit.

Eine Bitterkeit von der Art, wie ich sie erlebe – Unglücksrabe, der ich bin – wenn es mir nicht gelingt, einen Bordgastronomie-Gutschein einzulösen, weil sich das Bordrestaurant im Zustand irgendeiner Unpäßlichkeit befindet (ich liebe das Wort "Kaltgetränke"). Wenn die Suche nach intakten Toiletten in eine surreale Komödie mündet. Wenn die Plötzlichkeit, mit der ein eben noch mit Verspätung angezeigter Zug ausfällt, mich auf dem Bahnsteig zurückläßt, als befinde ich mich in einem Italo-Western. Zum Trost kriege ich Dinge wie Gummibärchen.

Ich gestehe, Gummibärchen machen mich in diesem Zusammenhang wütend, erst recht, wenn ich einen Salat zu ordern versuche, von dem mir gesagt wird, er könne erst ab der Station serviert werden, an der ich den Zug verlasse. Meine Gutscheine verfallen wie Blätter in einem harschen Herbst.

Das sind Kleinigkeiten, ich weiß. Sie führen aber in Summe zu eben jener Verbitterung. Und es muß wohl eine gewisse Boshaftigkeit des Schicksals sein, daß die junge freundliche Dame an der Rolltreppe der Schalterhalle des Bonatzbaus mir nicht nur einen kleinen Informationsplan für die Zeit des großen Umbaus mit dem Titel "Übersichtsplan und Öffnungszeiten" in die Hand drückt – als dessen wichtigster Hinweis mir das mit einem * versehene "Besetzung nur bei Großstörungen" erscheint –, sondern auch ein kleines Päckchen der Firma cyber-Wear Heidelberg, darin sich sieben Stück Fruchtgummi in Form kleiner Eisenbahnzüge befinden. (Was hat bloß diese Begeisterung der Deutschen Bahn für Produkte aus Gelatine zu bedeuten? Weil sie hohe und niedrige Temperaturen besser aushalten als so mancher verweichlichte Passagier?)

Vielleicht ist mein Abschiedsschmerz aber völlig fehl am Platz. Vielleicht wird alles viel grandioser als gedacht und es erweist sich der neue Bahnhof, dessen "strahlende Reinheit" auf den Schautafeln vermuten läßt, er sei mit Persil gewaschen worden, tatsächlich als ein besserer, schönerer Flecken auf der Welt, wo ein jeder Ankommender oder Durchreisender – und also jeder Besucher der Bahnhofsfalle (es soll natürlich Bahnhofshalle heißen) – sich wie eine kunstvoll fliegende Krawatte oder ein kunstvoll fliegender Damenschal fühlt, wie ein leibhaftig gewordener Dreiwettertaft. Sodaß man später über traurige Kleingeister wie mich nur den Kopf wird schütteln können.

Leute, die alten Bahnhöfen hinterherweinen, gehören eigentlich ins Altersheim, gleich wie alt sie wirklich sind. Und es hat – so zynisch es klingen mag – etwas für sich, wenn einst die Befürworter von Stuttgart 21 den Gegnern vorhielten, sie würden in Wahrheit sich selbst, das eigene Alter und Altwerden in Schutz nehmen, und die Angst um den Bahnhof stehe für die Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust in einer Welt, wo zwar alle durchschnittlich immer älter werden, aber die Prozesse des Alterns gleichsam verpönt sind. Wir wollen keine alten Männchen und Weibchen, sondern Kreuzfahrer, also ich meine Kreuzfahrtpassagiere. Und stimmt, daran erinnern mich die Animationsbilder des neuen Bahnhofs auch, an die Atmosphäre auf Kreuzfahrtschiffen: der "neue Bonatzbau" als der Sascha Hehn unter den Durchgangsbahnhöfen.

Als ich wenig später in einem ICE nach München sitze, dessen Klimaanlage im gesamten Zug nicht funktioniert, weshalb das Personal damit beschäftigt ist, kostenfrei stilles Wasser zu verteilen (immerhin keine kleinen Züge aus Gelatine), denke ich nochmal an diesen Bahnhof, der mich und viele andere überhaupt erst dazu verleitet hat, über Bahnhöfe nachzudenken, was sie uns eigentlich bedeuten und wie sie unser eigenes Leben in Form und Bewegung und im Innehalten widerspiegeln.

Es macht mich traurig. Aber wie gut, daß ich nicht allein bin, sondern zusammen mit der großen Menge unerschrocken Reisender, die in der Hitze des Zuges ihre Würde bewahren. Kein böses Wort. Draußen der schöne Anblick oberirdischen Daseins.
 

 Am 1. Oktober erscheint Heinrich Steinfests neuer Roman mit dem schönen Titel "Gebrauchsanweisung fürs Scheitern". Am 2. Oktober wird das Buch im Literaturhaus Stuttgart vorgestellt.


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