"Wer mit dem Geist der Traurigkeit geplagt wird", dem empfiehlt Luther, "der soll aufs höchste sich hüten und vorsehen, daß er nicht allein ist."
Ein Glück also, daß ich nicht einsam in einem Auto sitze, einsam auf dem Sattel eines Rades (volkstümlich) oder Pferdes (elitär), einsam mich dem Reisen verweigere und mich in die eingeschattete Tiefe meines Arbeitszimmers zurückziehe, sondern mich mitten auf einem stark belebten Bahnhof befinde. Dumm freilich, daß er, der Bahnhof, Grund für meine Traurigkeit ist. Wie man sich halt fühlt, wenn etwas zu Ende geht, etwas für immer verdirbt, etwas verloren geht und man – wie es oft gesagt wird – mit dem Sterbenden ein bißchen mitstirbt.
Der Bahnhof, dessen "Gliedmaßen" schon so lange fort sind, dessen benachbarte Parkanlage schon so lange Geschichte ist, daß mir vorkommt, als ich 1997 nach Stuttgart kam, war alles schon verloren – auch wenn ich mit der Naivität des frisch Zugezogenen glaubte, bei der Ausstellung im Bahnhofsturm handle es sich um eine Dokumentation glücklich gescheiterter, verquerer Architekturphantasien –, jetzt ist auch sein Herz an der Reihe. Welches freilich anders als Seitenflügel und Park nicht einfach herausgerissen werden soll, sondern eine "Verwandlung" erfährt, die notwendige Verwandlung, die sich daraus ergibt, nicht mehr "Ziel" zu sein, sondern "Durchgang" oder "Übergang" (manche meinen "Untergang"). Und solcherart wird jenes neue Herz die Zuneigung und Pflege erhalten, die dem alten Herzen verwehrt blieb.
Man könnte meinen, es sei geradezu unklug von diesem Bahnhof gewesen, so gut zu funktionieren. Das scheint bei manchen Entscheidungsträgern richtiggehend eine Wut erzeugt zu haben und das Bedürfnis, den "streberhaft Pünktlichen" wissentlich zu vernachlässigen. – Es bleibt ein ganz persönlicher Eindruck von mir, daß die weiterhin begeistertsten Anhänger der "großen Verwandlung" die sind, die gar nicht mit der Bahn fahren, oder nur dann, wenn am Ende dieser Bahn ein Flugzeug steht. Wie Leute, die es kümmert, wer Papst wird, dabei aber weder an das Christentum noch an Gott denken, sondern eher daran, was aus der Vatikanbank wird.
Wenn ich die großen Wandtafeln sehe, auf denen der neue Bahnhof mit der Anmutung eines abstrahierten Hochzeitskleides angekündigt wird – der schönste Tag Ihres Lebens!, und der darf dann auch was kosten –, dann kommt mir vor, es könnte genauso gut ein Flughafen, eine Sanitärsupermarkt oder das Entrée eines Schlafmittelherstellers sein.
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