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Manhattan in Bad Cannstatt

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Bis Stuttgart 21 in Betrieb genommen werden kann, rollen Züge und S-Bahnen über die alte Eisenbahnbrücke zwischen Hauptbahnhof und Bad Cannstatt. Danach könnte das nicht mehr benötigte Bauwerk zum "Park über dem Neckar" werden. Ganz nach New Yorker Vorbild.

Abseits der riesigen Baustelle im Herzen der Innenstadt macht Stuttgart 21 unübersehbar Fortschritte: Eine neue, rund 345 Meter lange, Eisenbahnbrücke über den Neckar ist fast fertig. Zur Zeit wird die Fahrbahnplatte gegossen. Bis zum Jahresende sollen die Betonagearbeiten abgeschlossen sein. Parallel dazu wird ein Radfahr- und Fußgängersteg unter der Brücke montiert. Im ersten Halbjahr 2020 soll der 4,50 Meter breite Steg seiner Bestimmung übergeben werden.

Der Brückenneubau am Cannstatter "Neckarknie" wurde notwendig, weil sich die Trassenführung von S21 aufgrund des um 90 Grad gedrehten neuen Hauptbahnhofs ändert. Die Züge fahren künftig etwa 150 Meter weiter nördlich aus neuen Tunnelröhren aus dem Rosensteinhang und überqueren den Neckar auf dem Neubau zum Cannstatter Bahnhof. Und wenn es denn irgendwann soweit ist – S 21 soll, wenns wahr wird, Ende 2025 in Betrieb gehen – wird die alte Bahnbrücke nebenan nicht mehr benötigt.

Was mit der 320 Meter langen Rosenstein-Brücke geschieht, die am 25. November 1915 als damals längste Betonbrücke der Welt eingeweiht wurde, ist bis heute ungewiss. Sicher ist, dass das technische Denkmal im Eigentum der Deutschen Bahn steht und wie sich bereits am historischen Bonatz-Ensemble des Hauptbahnhofs zeigte, schützt Denkmalschutz nicht vor Zerstörung: Der Staatskonzern könnte die alte Cannstatter Bahnbrücke abreißen, wozu er laut Planfeststellung aber nicht verpflichtet ist. Auch könnte die Brücke einfach stehen bleiben und mit Gittertoren gesperrt werden. "Über eine mögliche weitere Nutzung ist noch nicht entschieden", teilt ein Bahnsprecher auf Anfrage mit.

Aus schnöder Brücke könnte Besuchermagnet werden

Andere haben weitaus konkretere Pläne. Peter Mielert zum Beispiel treibt die Umnutzung des Bauwerks bereits seit Ende der Neunzigerjahre um. "Zusammenwachsen braucht mehr als einen Steg", sagte der Grünen-Fraktionschef im Cannstatter Bezirksbeirat im Jahr 1998 und beantragte bei der Stuttgarter Stadtverwaltung den Erhalt. "Die Brücke steht unter Denkmalschutz. Ein unter die Neubaubrücke untergehängter 4,50 Meter breiter Steg hat keinerlei Aufenthaltsqualität und ist daher nicht vereinbar mit unseren Vorstellungen von einer 'Stadt am Fluss'." Und so wollen die Grünen die Bahnbrücke außer Diensten in Zukunft zur urbanen Verbindungsachse umgestalten.

"Der Stadt Stuttgart bietet sich mit der Übernahme und Umnutzung eine einmalige Möglichkeit", sagt auch Frank Schächner. Von einer viergleisigen Zugtrasse könnte sich die Brücke zu einer verkehrsgünstigen Fußgänger- und Radwegverbindung wandeln, schwebt dem Brückenbauingenieur vom Stuttgarter Ingenieurbüro Schlaich Bergermann Partner vor. Für das renommierte Büro plante und begleitete der 46-jährige Ingenieur die neue Cannstatter Bahnbrücke.

Die Umnutzung schafft nicht nur eine Verbindung von der Innenstadt über den Neckar bis zum Bahnhof Bad Cannstatt. Durch ihr erhöhtes Niveau über die stark frequentierte B 10 und den Fluss biete sie zusätzlich eine hohe Aufenthaltsqualität, sagt Schächner. "Als ein besonderer Ort lässt sich auf ihr auch ein 'Park über dem Neckar' schaffen, in dem auch ausreichend Raum für Plätze und Bänke zum Verweilen ist", beschreibt er die Vision eines begrünten Brückenschlags. Relativ einfach könnte so ein einzigartiger Treffpunkt für die Bevölkerung der ganzen Stadt entstehen. "Die Brücke hat das Zeug zum Besuchermagnet, der Historisches mit Modernem verbindet", glaubt Schächner.

Neue Röhre für Stuttgart

Auch für die beiden alten Tunnelröhren im Rosensteinhang, durch die momentan vier Gleise zum Hauptbahnhof führen, die später nicht mehr gebraucht werden, gibt es bereits Ideen. Eine der Röhren könnte Teil eines Radschnellweges zwischen der Stuttgarter Innenstadt und dem Stadtteil werden. "Die zweite Röhre bietet sich für eine kulturelle Nutzung an", schlägt Schächner vor. Ihm schwebt eine Neuauflage des Kultclubs "Die Röhre" vor. Die Disco hatte ihr Domizil in einer Röhre des Stuttgarter Wagenburgtunnels, aus dem sie Anfang 2012 wegen der S-21-Bauarbeiten ausziehen musste.

Das prominenteste Vorbild für die Stuttgarter Brücken-Park-Idee findet sich jenseits des Atlantiks. In New York, genauer gesagt in Manhattan. Dort wurde eine alte Hochbahntrasse für Güterzüge, die über Jahrzehnte vor sich hin gammelte, durch eine Privatinitiative seit 2006 zu neuem Leben erweckt und zur Parklandschaft umgestaltet. Der dritte und letzte Abschnitt der "High Line" wurde am 5. Juni 2019 eingeweiht. Heute wird der 2,33 Kilometer lange Hochbahn-Park nicht nur von den New Yorkern als Treffpunkt und zur Erholung in der Mittagspause genutzt. Die High Line ist zum Touristenmagnet geworden, den jährlich rund sieben Millionen Menschen besuchen.

Auch in Europa gibt es erfolgreiche Projekte mit umgenutzten Bahntrassen. Die Promenade plantée in Paris im 12. Arrondissement zum Beispiel. Der 4,7 Kilometer lange Wanderweg wurde auf einer 1969 stillgelegten Bahntrasse angelegt und erstreckt sich von der Bastille bis hin zum Périphérique, der Ringautobahn von Paris. Ein Spaziergang auf der inzwischen in Coulée verte René-Dumont umbenannten Promenade lohnt allein wegen spektakulärer Ausblicke auf die Stadt.

Als weiteres Vorbild kann die Nordbahntrasse in Wuppertal gelten, ein auf zwei ehemaligen Eisenbahnstrecken ausgebauter Fuß-, Rad- und Inlineskateweg. Mit rund 22 Kilometern gilt sie als weltweit längste innerstädtische umgenutzte Bahntrasse, die über Brücken, Viadukte und Tunnel an zahlreichen Zeugnissen der Wuppertaler Industrie- und Verkehrsgeschichte vorbeiführt.


Doch im Stuttgarter Rathaus stieß die Idee einer grünen Brücke zunächst auf taube Ohren. "Lange ignorierte die Stadtverwaltung den Umnutzungsbeschluss des Cannstatter Bezirksbeirats und präsentierte Zukunftspläne für das Neckarknie stets ohne die alte Eisenbahnbrücke", erinnert sich Peter Mielert. Erst als Frank Schächner, der 2014 mit zwei Freunden die "Initiative Rosensteinbrücke" zum Erhalt der Eisenbahnbrücke gegründet hatte, das Projekt im Stuttgarter Rathaus beim Symposium "Cities for Mobility 2014" vorstellte, kam Bewegung in die Sache. "Unsere Vision erhielt damals viel Zuspruch aus  Bevölkerung, Stadtverwaltung und Politik", blickt er zurück.

Im Mai 2014 sagte die Stadtverwaltung schließlich auf einen weiteren Antrag der Grünen, diesmal im Gemeinderat, eine detaillierte Prüfung zur Umnutzung zu. Grünes Licht kam auch von den Denkmalschutzbehörden. Demnach sei eine Umnutzung unter denkmalfachlichen Gesichtspunkten durchaus denkbar. Danach floss wieder viel Wasser den Neckar hinunter.

Brückenzustand: Note 2

Erst im Jahr 2017 lobte die Stadt einen städtebaulichen Ideenwettbewerb für das Neckarknie aus, wobei der Schwerpunkt auf der Ufer- und Verkehrsplanung lag. Der Wettbewerb sollte allerdings auch Vorschläge liefern, ob ein Abbruch der Brücke oder ihr Erhalt mit Umnutzung als öffentlicher Raum sinnvoller wäre. Die zehn eingereichten Arbeiten präsentierten ganz unterschiedliche Ideen: Den 1. Preis erhielt der Vorschlag, die Brücke abzureißen für eine "weitläufigere räumliche Wahrnehmbarkeit des Neckarknies sowie besseren Erlebbarkeit des Flusses". Das Preisgericht würdigte den Ansatz aus gestalterischer Sicht, wies aber zugleich darauf hin, dass der untergehängte Steg an der neuen S-21-Brücke zu schmal sei für den zunehmenden Fuß- und Radverkehr und empfahl zu untersuchen, wie das Radverkehrsangebot in diesem Bereich der Stadt verbessert werden könnte.

Inzwischen hat die Stadt eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, in der insbesondere Vorschläge zur besseren Verknüpfung der beiden Flussufer für den Fuß- und Radverkehr erarbeitet werden sollen. "Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Frage, ob ein Erhalt oder ein Abbruch der alten Eisenbahnbrücke erfolgen soll", erläutert ein Stadtsprecher, "die Ergebnisse der Machbarkeitsstudie sollen bis zum 2. Quartal 2020 vorliegen und dann als Entscheidungsgrundlage für den Gemeinderat dienen, wie mit der alten Eisenbahnbrücke künftig umgegangen wird."

Entscheidend ist zudem der bauliche Zustand der Brücke, über die mehr als 100 Jahre tonnenschwere Züge rollten. "Brückenhauptuntersuchungen werden alle sechs Jahre durchgeführt", erklärt Ingenieur Schächner. Dabei werden für die verschiedenen Tragwerkselemente Zustandsnoten von 1 bis 4 vergeben. "An der Rosensteinbrücke sind einige Schäden dokumentiert", erläutert er. "Sie sind nicht relevant für die Standsicherheit. Das Haupttragwerk ist in den allermeisten Bereich in einem guten Zustand mit Note 2", sagt der Fachmann. Repariert werden müssten vereinzelt verwitterte Betonoberflächen sowie die Abdichtung des Brückendecks. Größere Sanierungskosten seien nach dem Umbau mittelfristig nicht zu erwarten, die anfallenden Unterhaltungskosten seien vergleichsweise gering.

Dies bestätigt auch eine kürzlich an der Universität Stuttgart am Institut für Bauökonomie angefertigte Masterarbeit, die die Kosten der verschiedenen Optionen vergleicht. Demnach kostet der Umbau zur Parkbrücke etwa 3,8 Millionen Euro. Ihr Abriss würde 4,4 Millionen Euro kosten. Die laufenden Unterhaltungskosten des parkähnlichen Brückendecks können durch Vermietungen, etwa von Flächen für Events und eines Tunneleingangs für einen Musik-Club, nahezu gegenfinanziert werden. Was die Masterarbeit nicht berücksichtigte: Die Bahn streitet sich mit den Projektpartnern um eine Beteiligung an den Milliardenmehrkosten von Stuttgart 21. Die Übernahme der alten Eisenbahnbrücke könnte sich der Staatskonzern teuer bezahlen lassen.

Während die Stadtverwaltung zunächst die Machbarkeitsstudie abwarten will, drängen die Brückenerhalter. Bevölkerung, Stadtverwaltung und Politik sollten gemeinsam möglichst schnell über die Umnutzung entscheiden, damit ein offener Planungsprozess stattfinden kann, fordern Mielert und Schächner. Auch weil die Umnutzung bereits als Projekt bei der Internationalen Bauausstellung IBA 2027 in Stuttgart vorgeschlagen ist. Auf die lange Bank lässt sich die Zukunft der alten Eisenbahnbrücke deshalb nicht mehr schieben.
 

Weitere Informationen unter  www.rosensteinbruecke.de.


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4 Kommentare verfügbar

  • Andreas Spreer
    am 12.09.2019
    Antworten
    So schön diese mögliche Nutzung der Eisenbahnbrücke sein könnte, so muss ich in diesem Fall doch leider Peter Mielert widersprechen. Es wird hier sozusagen das Fell verteilt, bevor der Bär erlegt ist. Hauptproblem von S21 ist die zu kleine Kapazität. Das ist ein harter Fakt, an dem in der Zukunft…
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