Es passierte an einem dieser ersten wirklich heißen Tage. Alle waren sie wieder da, die immer erst ins Bad gingen, wenn es richtig warm wurde: die Zuhältertypen, die Bodybuilder, die Schwulen, die Liegestuhlfetischisten, die dünnen Frauen in Bikinis, die dünner waren als der Lack auf ihren Nägeln, all die Eincremer und Einsprüher, die aus den Löchern der Sonnenstudios gekrabbelt kamen, und natürlich die Sixpackfanatiker, die aussahen, als schnitzten sie jeden Tag mit einem scharfen Messer feine Rillen in ihre Torsi.
Nirgends gab es dann so viele gut gebaute Männer wie im Bad Berg. Und nicht wenige, deren Haut den Farbton polierter Bronze besaß. Aus diesen Männern hätte man Kanonenkugeln gießen können. Was übrigens zu einer gewissen Wehrhaftigkeit der Stammgäste gut passte. Natürlich waren auch jene "älteren Damen" vertreten, die man das ganze Jahr über sehen konnte, aber auch jüngere Schönheiten, jedoch erstaunlich wenig Silikon. Zumindest im Vergleich. Etwa im Vergleich zu Wien, wo ich zur Fortbildung gewesen war und in den dortigen Schwimmbädern das Gefühl gehabt hatte, kaum jemand laufe noch ohne Implantat durch die Gegend. Ein Großteil der Wienerinnen schien nur noch partiell aus eigener Natur zu bestehen. Nicht so im Bad Berg, ohne dass dort die Flachbrüstigkeit regiert hätte, wirklich nicht.
Dennoch, bei aller Liebe zum neuen Ort, wurde ich weder ein Stuttgarter, noch wurde ich ein Bergianer (wie die Stammgäste dieses Bades sich selbst nennen), ich wurde nicht einmal politisch (wie die Hälfte der Menschen dort im Zuge eines geplanten Bahnprojekts). Aber ich wurde nach zwei Jahren Praxis tatsächlich "Meister", vor allem aber ein Teil dieser Badeanstalt, gewissermaßen ein Teil der Architektur, jemand, den die Leute mit "Herr Sixten" ansprachen, weil "Herr Braun" viel zu banal geklungen hätte. Eine besonders wohlmeinende ältere Dame erklärte einmal, sie fühle sich angesichts meiner Erscheinung an eine Figur aus der Sixtinischen Kapelle erinnert, weshalb mich "Herr Sixten" zu rufen ganz sicher nicht falsch sein könne.
Klar, dass ich mich erkundigte, an welche Figur sie dabei denke.
"Keine Angst, nicht an den Adam", gab sie zur Antwort.
"Wieso keine Angst?"
"Na, weil der doch nackt ist. Und das sind Sie ja nicht. Alle anderen hier so gut wie, Sie nicht."
Richtig, der Bademeister war der einzig wirklich Angezogene im Bad.
Die Dame sagte: "Nein, ich denke an den Daniel."
Ich fragte sie, wofür dieser Daniel denn stehe, weil ja in einer bemalten Kapelle jeder für etwas stehen würde.
"Er ist der Prophet", verriet sie, "der, den man in die Löwengrube geworfen hat, die er aber ohne einen Kratzer wieder verlässt."
"Ach ja. Dann ist in meinem Fall Stuttgart die Löwengrube, oder was?"
"Stuttgart ist die Grube", bestätigte die Dame, "und wir, die Stammgäste, sind die Löwen, die Ihnen nichts antun." Sie lächelte verschmitzt und berührte sachte meinen Arm, wie das viele der älteren Damen hier zu tun pflegten: sehr dezent und dennoch vampirisch. Immer wenn sie mich kurz anfassten, meine Hand, meine Schulter, wenn sie ein Stück Hüfte erwischten oder ihre Fingerkuppen auf das V meines Hemdausschnitts legten, zogen sie etwas aus mir heraus. Was aber nicht schlimm war, weil ich genug zu geben hatte.
Als die Bergianerin wieder ihre Hand von mir genommen hatte, fragte ich sie: "Was hat dieser Daniel eigentlich prophezeit?"
"Den Tod des Messias, und zwar auf den Tag genau. Ein halbes Jahrtausend, bevor Christus dann tatsächlich gekreuzigt wurde."
Der Daniel-Vergleich verstörte mich ein wenig, nicht zuletzt, weil er völlig unpassend schien. Immerhin war ich überzeugt gewesen, Frau Dr. Senft würde ein langes Leben in anhaltender Schönheit beschieden sein. Und auch den Tod meines Sitznachbarn auf dem Flug nach Taiwan hatte ich nicht vorausgesehen. Nun gut, in erster Linie bezog sich der Vergleich natürlich auf die Art, wie Michelangelo diesen Daniel dargestellt hatte: das bademeisterartig weiße Obergewand und die ausgeprägten Muskeln des linken Arms. Ganz sicher aber nicht auf die wüste Beethovenfrisur, die der Prophet bei Michelangelo trug. Mein eigenes Haar hingegen war eine recht glatte, dunkelblonde Umrandung meiner Kopfform, und keine noch so wilde Nacht vermochte daran etwas zu ändern.
... Zu den Besonderheiten dieser Badeanstalt gehörte, dass ein Entenpaar mit großer Regelmäßigkeit das Außenbecken aufsuchte und in der Manier einer gewollten Bruchlandung auf der Wasseroberfläche aufkam, um dann eine Weile zwischen den Badegästen dahinzutreiben. Manche fanden das süß, andere wiederum versuchten, die beiden wegzujagen. Als Bademeister war ich eigentlich dazu angehalten, die zwei Stockenten zu verscheuchen, doch vom Beckenrand aus war das ziemlich unmöglich, und zu diesem Zweck ins Wasser zu steigen wäre absolut übertrieben gewesen. Zudem waren die Enten ein Beweis für die Qualität des Wassers. Denn das gleiche Paar besuchte auch das nahe gelegene Schwimmbad Leuze, um dort zwischen den Liegenden und in der Sonne Bratenden um Futter zu betteln oder verlorene Krumen aufzuklauben, doch soweit ich informiert war, gingen sie dort niemals zum Baden hin. Anders bei uns, wo weniger gebettelt und mehr geschwommen wurde.
Drei Tage stand ich nachmittags am Rande des mit Menschen locker bevölkerten Beckens und beobachtete die beiden Enten, wie sie auf der glatten Fläche des von mir kontrollierten Gewässers landeten. Ein älterer Mann mit blauer Badehaube beschwerte sich, hieb ins Wasser und spritzte die Tiere an. Wurde aber von anderen Badegästen aufgefordert, dies zu unterlassen. Es gab ein kleines verbales Hickhack, während die Enten in einen anderen Teil des Beckens wechselten und dort ruhig herumtrieben.
Der Enterich allerdings hatte plötzlich Schlagseite. Wie leicht betrunken. Er erinnerte mich an dieses Pferd aus dem Film Cat Ballou – Hängen sollst du in Wyoming, auf welchem ... richtig, auf welchem der betrunkene Lee Marvin sitzt, und auch das Pferd ist betrunken und lehnt schief gegen die Wand und ... Der arme Enterich hier war aber ohne Wand, kippte um und geriet mit seiner Oberseite unter Wasser.
2 Kommentare verfügbar
Ulrich Scheuffele
am 27.02.2014Ein Schriftsteller der Sonderklasse.
Mir geht es wie Gangolf, kann das neue Buch kaum erwarten.
Heinrich warum quälst du uns immer mit so langen Wartezeiten?