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Die Farce

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Die Volksabstimmung über Stuttgart 21 ist eine Farce – meint der Schriftsteller Heinrich Steinfest. Denn jetzt schon sei klar, dass das Quorum der Stimmberechtigten nicht erreicht werde. Dabei könnte die Landesregierung aus den verfassungswidrigen Verträgen, so Steinfest, einfach aussteigen. Die Betrachtungen eines Nichtstimmberechtigten.

Von der Volksabstimmung überrollt fühlt sich der Autor Heinrich Steinfest.

Die Volksabstimmung über Stuttgart 21 ist eine Farce – meint der Schriftsteller Heinrich Steinfest. Denn jetzt schon sei klar, dass das Quorum der Stimmberechtigten nicht erreicht werde. Dabei könnte die Landesregierung aus den verfassungswidrigen Verträgen, so Steinfest, einfach aussteigen. Die Betrachtungen eines Nichtstimmberechtigten.

Was bedeutet Farce? Im "Frauenzimmer-Lexicon" von 1715 wird dieser Begriff definiert als ein "in der Küche klein gehacktes Fleisch". Dieses Zerhackte, durch den Fleischwolf Getriebene ergibt sodann eine Masse, die der Füllung von Geflügel, Fleisch, Pasteten und anderem dient. Bereits seit 1398 kommt dieses Wort zudem in seiner Bedeutung als "Füllsel im Schauspiel, lustiger Zwischenakt" zur Anwendung. Doch besitzt die Farce seit jeher die Kraft, auch außerhalb der Kunst und der Küche zu wirken, ja gerade dort, im wirklichen Leben sich zu entfalten, aus der Position der bloßen "Füllung" herauszutreten und das Große und Ganze zu gestalten. Die Farce ist die dramatische Ausformung des Realen.

Während nun aber die Figuren auf der Bühne in der Regel nicht erkennen, sich in einer solchen speziellen Komödie zu befinden, und als gänzlich Getriebene durch das Stück jagen, ahnen die wirklichen Menschen um den Umstand, Teil einer Farce zu sein, einerseits; andererseits glauben sie, sie wären in selbiger hoffnungslos gefangen. Das ist der Grund, weshalb die Menschen so gerne ihre Köpfe schütteln. Über die Absurdität der Zustände wie über sich selbst, die sie diese Zustände in kleinen oder größeren Rollen mittragen.

Natürlich müssen sie sich auch hin und wieder die Sinnhaftigkeit der Farce einreden, ihre Notwendigkeit, weil sie, die Farce, manchmal ja auch Gutes hervorbringt oder wenigstens nicht so schlimm ist wie andere Formen des Theaters. Ja, in Umwandlung eines oft missbrauchten Satzes müsste man sagen, dass viele meinen, die Farce sei noch immer die beste aller schlechten Regierungsformen.

Schlichtung und Stresstest als vorbereitende Übungen

Keine Frage, wenn die "Füllung", also die Farce, sich nach außen stülpt und somit die sichtbare Hülle bildet, beziehungsweise wenn der Zwischenakt zum Hauptakt mutiert, dann entstehen auch Höhlen und Nischen und Extraräume, in denen etwas Neues entstehen kann. Die Anstrengungen der Stuttgarter Bürgerbewegung waren und sind – trotz mancher Lächerlichkeiten – solche der allgemeinen Farce sich widersetzende Ernsthaftigkeiten. Doch nun schlägt die Farce mit aller Macht zurück. Nicht zum ersten Mal, natürlich nicht, "Schlichtung" und "Stresstest" hatten bereits gezeigt, wozu sie in der Lage ist.

Yoda oder Heiner Geißler? Die Star-Wars-Figur konnte Machtblitze mit bloßer Hand abwehren, Geißler hat immerhin die S-21-Konfliktparteien an einen Tisch gebracht. Montage: Martin Storz

Aber das waren nur vorbereitende gymnastische Übungen, gleich denen dieser Leute, die am Strand stehen und unzählige Liegestütze machen, bevor sie dann endlich mit aufgeblähten Muskeln ins Wasser springen. Die Volksabstimmung (stimmt, es handelt sich um ein von oben verordnetes Referendum, aber ich bleibe beim bekannteren Euphemismus) ist der Kulminationspunkt der Inszenierung. Alle, aber wirklich alle begreifen, was Sache ist, jeder weiß um die Falle, die hier gestellt wurde und deren Sinn es eben ist, dass wir kollektiv in selbige hineinmarschieren.

Das Zustimmungsquorum wurde einst geschaffen aus einer tiefen Angst vor den Einmischungen der Bürger, doch macht diese Angst die Sache noch nicht zur Farce. Sondern vielmehr, dass genau dieses aus der Angst geschaffene Instrumentarium jetzt tatsächlich zur Anwendung kommt, um die Demokratiefähigkeit eines grün-rot geführten Landes zu beweisen. Die einstigen Schöpfer dieser "Kreation" hatten natürlich nie ernsthaft daran gedacht, sie als Instrument auch wirklich einzusetzen, weil ja ihr eigentlicher Sinn ihre Unbrauchbarkeit sein sollte, die Unmöglichkeit ihrer realen Nutzung.

Wieso auf ein Wunder warten, anstatt aus eigener Kraft S 21 zu stoppen?

Doch exakt dies haben nun die Herren Schmid und Kretschmann bewerkstelligt: eine unsinnige Maschine ins Spiel gebracht, eine Maschine, die viele Geräusche, viel Rauch und Gestank, ein Dröhnen und Hämmern, ein Klingen und Flöten und Pfeifen produziert, sich aber niemals in Bewegung setzen lässt, sondern in ihrer Startposition verharren wird. In der Tat: um diese zum Zwecke der Bewegungslosigkeit gebaute Maschine zum Laufen zu bringen, bedarf es eines Wunders.

Ich selbst bin nun durchaus ein Wundergläubiger, würde mich aber scheuen, den Herrn anzurufen, um ihn um die Erledigung einer Arbeit zu bitten, die ich ja selbst ganz gut hinbekommen könnte. Hier ein Wunder einzuklagen ist eine Provokation in der Form eines verlangten Gottesbeweises: Gott aufzufordern, eine unsinnige Maschine in Bewegung zu setzen, anstatt aus eigener Kraft den Einsatz einer sinnvollen Maschine zu bewirken!

Ho Chi Minh oder Ernst Hopfenzitz? Der ehemalige Stuttgarter Bahnhofsvorsteher und glühende Verfechter des Kopfbahnhofs wird zwar von den S-21-Gegnern mit Ho-Ho-Hopfenzitz-Rufen gefeiert. Er dürfe sich selber aber kaum als Vietkong-Kämpfer sehen. Montage: Martin Storz

Und es gibt sie ja, diese sinnvollen Maschinen, auf welche die lästigen "kleinen Männer und Frauen von der Straße" so penetrant verweisen und pochen. Ebendiese Männer und Frauen, die die Schmids und Schmiedels so sehr fürchten, für die sie so gerne die Verantwortung übernehmen und die sie so gerne in die Kindertagesstätte der Meinungsbildung verbannt sehen möchten. Nein, die Maschinen existieren bereits: eine außerordentliche Vertragskündigung, eine verbindlich gemachte Bürgerbefragung in Stuttgart, der Ausstieg aus verfassungswidrigen, somit nichtigen Verträgen, die Rückforderung vorab bezahlter Beträge, die Aufforderung zur Wiedergutmachung erfolgter Demolierungen, in jedem Fall die umfassende Untersuchung dieses Kriminalfalls namens Stuttgart 21 (anstatt qua Plebiszit das Delikt auch noch zu legalisieren). Und nicht zuletzt, sondern zuerst: eine "Volksabstimmung" zur Abschaffung des Quorums.

"Ich weiß nicht, was man will. Wir sind qualifiziert."

Da wäre zwar das Quorum noch größer, aber die Beteiligung von ganz Baden-Württemberg hätte in diesem Fall auch wirklich ihre Berechtigung, und alle Demokraten, gleich welcher Couleur, hätten die historische Chance, zu beweisen, wie demokratisch sie tatsächlich sind.

Als Österreicher, der in Deutschland lebt (und der nach vierzehn Jahren in Stuttgart nicht zur Abstimmung gehen darf, dafür bräuchte es nämlich eine andere Maschine!), denke ich beim Begriff Farce gerne an das legendäre Fußballspiel Deutschland gegen Österreich 1982 in Gijón, als man sich im Zuge eines Nichtangriffspaktes freundschaftlich den Ball hin und her schob und sämtliche Regeln der Fairness und des Anstands über Bord warf. Woraus folgte, dass die algerische Mannschaft, obwohl sie zweimal gewonnen hatte, sich aus dem Turnier verabschieden musste. Unmoralisch, ja, schon, aber praktisch. Hans Krankl (genau – der Mann, von dem der Spruch "Wir müssen gewinnen, alles andere ist primär" stammt) meinte dazu in seiner bekannt pragmatischen Art: "Ich weiß nicht, was man will. Wir sind qualifiziert."

So werden das auch, und vermutlich nicht nur, die Betreiber von Stuttgart 21 sehen und sich dann wundern, dass die "Algerier" das nicht anerkennen und sich als "schlechte Verlierer" weiterhin gegen die schöne neue Bahnhofswelt wehren und fortgesetzt mit LGNPCK-Rufen jene bedenken, die es verabsäumten, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden, ja, die angesichts der absehbaren Katastrophe ihre Kündigungspflicht vernachlässigt haben. Um es ins Private zu transferieren: wenn eine Lehrkraft mein Kind in der Schule schlägt, dann nehme ich mein Kind aus dieser Schule und zeige den Lehrer an. So einfach. (Und wenn ich sehr modern bin, dann werde ich mir über die Psyche dieses Lehrers Gedanken machen, aber mitnichten mein Kind weiterhin seiner krankhaften Obhut überlassen.)

Hände falten, Goschn halten

Übrigens: der wunderbare Sportreporter Robert Seeger empfahl damals, 1982 in Gijón, den österreichischen Zuschauern, den Fernseher angesichts der Farce abzudrehen. – Nun hätte es freilich sein können, dass irgendwann im Spiel (nach dem Abdrehen des TV-Geräts) sich die Sache doch noch zum Besseren wendet. Tat sie aber nicht. Das tun Farcen nämlich nie. Man kann Farcen verhindern, aber nicht verwandeln. Schon gar nicht in Wunder.

Und noch ein Übrigens: die Österreicher haben den so hübsch klingenden französischen Küchenbegriff "Farce" in einen sehr viel sprechenderen verwandelt, welcher bestens zum Motiv brutaler Zerstückelung passt: den des "Faschierten". Und vielleicht sollte man auch Nils Schmids autoritäre Anweisung "Wenn das Volk gesprochen hat, dann ist Schweigen" verdeutlichen, indem man ihn, diesen Satz, ins Österreichische übersetzt: "Hände falten, Goschn halten."

Ein drittes Übrigens: ich kann nicht beurteilen, ob ein Boykott dieser geplanten "Volksabstimmung" je eine Chance gehabt hätte. Jedenfalls sind wir nun alle fixer Teil der Farce geworden (selbst Leute wie Der Schriftsteller Heinrich Steinfest. Foto: Christian Hassich, die gar nicht daran teilnehmen dürfen) und damit ebenso fixer Teil der Erwartung eines Gottesbeweises. Eine andere Möglichkeit, als zur Abstimmung zu gehen und das Kreuz an der richtigen Stelle zu machen, gibt es nämlich gar nicht mehr, wenn man mal mitten auf der Bühne steht und einen Satz sagen muss.

Und ein letztes Übrigens: ich würde mich freuen wie noch nie, wenn ich gerade mit diesem Text völlig danebenliegen würde.

Heinrich Steinfest, geboren 1961, ist in Wien aufgewachsen. Er lebt heute als Schriftsteller und Maler vorwiegend in Stuttgart.

 


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3 Kommentare verfügbar

  • UBraun
    am 02.12.2011
    Antworten
    Er ist nicht danebengelegen. Was zu erwarten war. Leider.
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