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Eisige Kälte

Eisige Kälte
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Alles ist optimiert worden in den vergangenen Jahren: die krumme Nase, die Aktien-Performance, das eigene Auftreten. Nur das Gemeinsame, das wurde nicht optimiert. Das Ergebnis ist eine um viele Grade heruntergekühlte Gesellschaft.

Es mag einem sogleich wie ein Klischee erscheinen. Fast lacht man darüber, wenn man den Yoga-Guru dort am Rand des Geländes mit anderen im Kreise stehen und von Liebe predigen sieht. Wenn man das Singen und Trommeln der Protestierer in Hippie-Optik hört. Wenn man den Duft von Räucherstäbchen an seiner Nase vorbeiziehen spürt und das Schild der Frau liest, die einfach gekommen ist, um den Demonstranten zu sagen, dass sie alle Menschen lieb hat. Aber so einfach ist es nicht, hier in New York in dem kleinen Zuccotti-Park unweit der Wall Street, wo der Protest seit dem 17. September eine feste Heimat hat.

Occupy-Aufstand in New York – ein bisschen wie im Stuttgarter Schlossgarten. Foto: Sandro Mattioli

Kaum mehr ein freier Quadratmeter findet sich. Hier auf diesem Fleckchen versammelte sich die Occupy-Bewegung Mitte September, genauso wie in vielen Städten der Welt, auch in Stuttgart. Doch die baden-württembergischen Aktienhändler hatten nur kurz Besuch; in New York kamen die Demonstranten, um zu bleiben. Als Stuttgarter erinnert einen die Zeltstadt an das Camp der S-21-Gegner im Schlossgarten. Nur dass hier in New York die Zelte viel dichter aneinandergedrängt sind und es kaum Bäume gibt. Der Platz ist knapp, und die Bewegung hat auch nach zwei Monaten noch großen Zulauf. Daran ändert auch die nächtliche eisige Kälte in Manhattan nichts.

Diese Bewegung gering zu schätzen wegen ihrer doch so idealistischen Motive, wegen ihrer Romantiksehnsucht und wegen ihrer Heterogenität, wo sich zig Unzufriedenheiten zu einem großen Groll zusammengefunden haben – das wäre ein Rückzug auf Reflexe, die einem jahrelang beigebracht worden sind, in einer Zeit, in der so ziemlich alles optimiert worden ist, was man optimieren kann: der Body-Mass-Index, die Oberweite und die krumme Nase, die Aktien-Performance, der Shareholder-Value, Gewinne, Ausgaben, Bilanzen, das eigene Auftreten und die eigene Karriere, kurzum: das Ich.

Eine um viele Grade heruntergekühlte Gesellschaft

Nur das Wir, das Gemeinsame, das Verbindende, das wurde nicht optimiert. Dabei ist viel auf der Strecke geblieben, was sich nicht berechnen lässt. Und das Ergebnis ist eine um viele Grade heruntergekühlte Gesellschaft. Nur dass lange Zeit niemand bemerkte oder bemerken wollte, dass die Menschen anfangen zu frieren.

Umso spannender ist, was derzeit passiert: Bürger organisieren sich dezentral, nutzen dafür soziale Netzwerke. Es gibt in den Bewegungen kein Oben und Unten mehr, kein Wichtiger und weniger Wichtig. Jede und jeder kann sich einbringen. Anschaulich wird das bei der Occupy-Vollversammlung in New York: Einzelne rufen etwas in die Runde. Dann wiederholen alle gemeinsam das soeben Gesagte, so dass es auch bis in die letzte Reihe gut zu verstehen ist.

Unsere Themen in dieser Ausgabe fügen sich bestens ins Bild: Es geht nicht ums Rechthaben (<link internal-link>Rechthaber), sondern darum, dass man gemeinsam aufpasst – was auch für den Einsatz der Polizei gilt, wenn Südflügel und Parkbäume wie geplant gleichzeitig für S 21 fallen sollten (<link internal-link>Der Stuttgarter D-Day).

Heinrich Steinfest beschreibt, wie man die Macht der Gemeinschaft als potemkinsche Schein-Macht politisch institutionalisiert hat (<link internal-link>Die Farce). In einer Reportage aus dem Jugendamt Stuttgart wird anschaulich, was soziale Kälte ist (<link internal-link>Ein Krake, der lacht). Und die Geschichte über Fatuma Abdulkadir Adan aus Kenia zeigt, wie es besser sein könnte (<link internal-link>Die Ballkönigin). Deshalb wird sie auch mit dem Stuttgarter Friedenspreis ausgezeichnet.

Kontext-Redakteure lesen im Café Stella Texte über die Mafia

Zuguterletzt noch eine Ankündigung: Wir von der Kontext-Redaktion rufen eine neue Reihe ins Leben. Künftig wollen wir an jedem zweiten Donnerstag im Monat unseren Lesern vorlesen: aus Büchern, die wir geschrieben haben, aber auch Artikel, die unserer Meinung nach besonders gelungen sind. Im Anschluss daran soll Zeit bleiben, über das Gehörte zu diskutieren – oder auch sich zu beschweren, wenn es etwas über die Kontext:Wochenzeitung zu meckern gibt.

Den Anfang machen Rainer Nübel und Sandro Mattioli an diesem Donnerstag, 10. November. Die beiden lesen im Café Stella in Stuttgart zum Thema Mafia – Sandro Mattioli aus seinem eben erschienenen Buch "Die Müll-Mafia", das von einem kriminellen weltweiten Netzwerk aus Mafiosi, skrupellosen Unternehmern, Politikern und Geheimdienstagenten handelt; Rainer Nübel berichtet über die Mafia in Deutschland, eine Gefahr, die seit Jahren systematisch verharmlost wird.

Die Lesung beginnt um 20 Uhr im Café Stella, Hauptstätter Straße 57, 70178 Stuttgart (U-Bahn Österreichischer Platz). Der Eintritt ist frei.


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