Es ist ein strahlender Vormittag, als ich mich vor dem Verlagshaus von Kontext einfinde, dort, wo bereits der Mercedes wartet, silbern, mächtig, aber kein Pfeil, eher ein Rammbock, allerdings ein schlanker, denn bei aller Masse wirkt dieses Ding doch recht schmal und schnittig, das muss man ihm lassen. Besitzt die Anmutung eines Rammbocks, der nicht wirklich rammt, es einfach nur könnte, wenn er wollte. So wie diese Hunde, die angeblich nicht beißen, aber ein mächtiges Gebiss offerieren. Man sieht diesem Auto den Windkanal an, vor allem von der Seite her, als hätte der Wind geradezu eine elegante Furche in die Flanke des Wagens hineingeweht. Dennoch stellt sich später, als wir den Wagen vor dem Le-Corbusier-Haus in der Weißenhofsiedlung postieren und die beiden "Kunstwerke" vergleichen, die Frage, ob dieser Mercedes auch nach über achtzig Jahren noch eine ähnlich moderne und stilistisch überzeugende Wirkung haben wird wie dieses Gebäude (was ja beim legendären Silberpfeil der Fall ist, aber etwa auch bei dem so gar nicht eleganten VW Käfer). Ich muss das in diesem Fall doch sehr bezweifeln, zu sehr fehlt dieser Mercedeshülle – wie vielen Automobilen unserer Zeit – eine unverwechselbare Form, eine zeitlose Eleganz, ein genialer Duktus, eher scheint dieses Fahrzeug sehr fest in der Zeit einzusitzen, wie einige durchaus berühmte Schriftsteller und Maler, die aber sofort nach ihrem Tod in Vergessenheit gerieten. – Wann sterben Autos? Manche nie, wenn sie nämlich Oldtimer werden. Aber das werden ja nicht alle. Viele sterben praktisch bereits nach Jahren oder siechen zumindest dahin.
Doch hier soll nicht vom Tod, sondern vom Leben die Rede sein. Vom Leben im Inneren eines Wagens, in einem Raum, den viele nach dem eigenen Hüllorgan sowie ihrer Kleidung als ihre dritte Haut bezeichnen oder empfinden. Oder als Rüstung. Wobei es freilich ein gravierender Unterschied ist, ob man, in dieser Haut einsitzend, das Vehikel auch lenkt oder nur darin sitzt. Viele Autos definieren sich natürlich in erster Linie über den Fahrer. Klar, da gibt es dann noch die Ehefrau oder den Ehemann als mehr oder weniger lästige Beifahrer, die Kinder auf dem Rücksitz, Speiseeis verteilend, sich übergebend, laut, im besten Fall schlafend, aber wie gesagt, der Wagen ist in erster Linie dem Fahrer verpflichtet, er ist es, mit dem die symbiotische Beziehung Maschine-Mensch möglich wird. Ähnlich wie bei Hunden und ihren Besitzern hat man das Gefühl, Auto und Fahrer würden sich immer ähnlicher werden.
Der Beifahrer ist die wichtigste Person in diesem Vehikel
Aber bei diesem Wagen hier liegen die Dinge doch anders, da es sich bei einem möglichen Beifahrer – vor allem auf einem der beiden Rücksitze – um die wahrscheinlich wichtigste Person in diesem Vehikel handelt. Einen Menschen, der soeben einen Termin bewältigt, wichtige Entscheidungen getroffen hat, anderen in den Hintern getreten hat oder mit allem Charme der Welt auch ohne Tritte zu überzeugen wusste, jedenfalls einiges in Schwung brachte. Und sich nun auf den Weg macht, um anderswo anderen Schwung zu bewerkstelligen. Sich vielleicht ausruhen mag, vielleicht Dokumente studieren möchte, Fakten ordnen, telefonieren, ein Brötchen verspeisen, an seinen Memoiren arbeiten, jedenfalls nicht auf einem Sitz sitzen will, der sich gegen seinen Benutzer sperrt. Oder zumindest recht gleichgültig gegen diesen Benutzer ist. Was man nun wirklich nicht von diesen S-Klasse-Sitzen behaupten kann. Eher wirken sie organisch, wie ein Partner, der sich von hinten anschmiegt. Und man per Knopfdruck auch bestimmen kann, ob dieser "Partner" eher warm oder gekühlt sich annähert, so wie man dank der schematisch die drei Sitzteile kopierenden Hebel an der Innentüre diesem Partner die absolut richtige Gestalt verleihen kann. Genau so, wie man ihn haben möchte, was man ja von anderen, weniger willfährigen Partnern nicht behaupten kann. Und nicht alle haben das Glück, von ihren Partnern massiert zu werden. Dieser Sitz aber tut es, wobei jedoch kein wildes Gerüttel erfolgt wie bei so vielen Massagegeräten, wo man sich dann fühlt wie im Inneren eines Staubsaugers, nein, diese Massage ist wohldosiert, einfühlsam, berücksichtigt verschiedene Partien von Rücken und Schulter und ist natürlich von jener Geduld und Ausdauer, die nun mal den Charakter von Maschinen bestimmt. Und gerät der Mercedes mal ein wenig in die Kurve, so bläst sich der Sitz rechts oder links etwas auf, um einen leichten Gegendruck zu erzeugen. Ein freundlicher Geist, der gar nicht erst zulässt, dass man aus der Idealposition gelangt. Klar, in diesem Auto gibt es keine Vorschriften, welche Musik gespielt werden darf, doch Kammermusik würde in solcher Umgebung sehr viel besser passen als irgendwelche schlagenden Töne.
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Ralph Sobetz
am 06.02.2017http://polpix.sueddeutsche.com/bild/1.3082333.1468829778/560x450/weissenhofsiedlung-weltkulturerbe.jpg