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Cem Özdemir

Zielstrebig und ausdauernd

Cem Özdemir: Zielstrebig und ausdauernd
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Hungersnöte, Erderhitzung, Krieg in Europa: Die Agrarkonferenz der G-7-Staaten in Hohenheim zeigt, dass die globale Landwirtschaft vor riesigen Herausforderungen steht. Gastgeber Cem Özdemir ist als Minister schnell zu einem der beliebtesten Politiker der Republik geworden.

Es gibt Kritik, die auf die Kritiker:innen zurückfällt. Und die zugleich belegt, dass die Nervosität steigt, im vorliegenden Fall in der CDU. Der Grüne Cem Özdemir hat sich als Bundesagrarminister in der Demoskopie rasch hochgearbeitet ins Spitzentrio der beliebtesten Politiker:innen und belegt Platz drei hinter den Parteifreund:innen Robert Habeck und Annalena Baerbock. Steffen Bilger (CDU), früher mal Staatssekretär von Andreas Scheuer (CSU), reagierte prompt und kofferte den Grünen an, weil dieser zwar in Talk-Shows auftrete, aber"für Landwirte, Verbraucher oder die weltweite Ernährungssicherung" keinerlei Perspektive eröffne.

In diesem Zusammenhang empfahl Bilger Österreichs ÖVP-Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger als Vorbild, weil die 9.000 Hektar Brachflächen zum Anbau freigegeben und damit "beherzt die Zeichen der Zeit erkannt" habe. Inzwischen ist Köstinger Geschichte – zwar nicht deshalb, sondern weil sie als enge Vertraute des abgetretenen Kanzlers Sebastian Kurz mit abgewickelt wurde und am 9. Mai ihren Rückzug aus der Politik bekannt gab. Davor allerdings gingen noch viele Fachleute, angeführt vom österreichischen Biodiversitätsrat, hart mit ihr ins Gericht: Eine solche Beackerung der Brachflächen sei kurzsichtig und gerade nicht im Sinne einer nachhaltigen Landwirtschaft, denn so drohten wegen schwindender Artenvielfalt erst recht Einbußen für den Berufsstand.

Ganz so tief wollte Bilger dann allerdings doch nicht ins Thema einsteigen. Ein Luxus, den sich "der fachfremde Azubi" Özdemir, wie ihn das "Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben" nach seiner überraschenden Ernennung zum Minister nannte, nicht leisten kann. Schon vor Putins Überfall auf die Ukraine reichten die Anforderungen an sein Amt von der Neuausrichtung der Förderungsprogramme bis zu einer Strategie gegen Lebensmittelverschwendung, vom sterbenden Wald bis zur Überfischung, von ehrlicheren Preisen bis zur Verringerung von Fleischproduktion und -verzehr.

Der Blick von außen kann hilfreich sein

In seiner Jugend wurde der in Bad Urach geborene und aufgewachsene Özdemir aus Abscheu gegen Tierfabriken und gegen den Widerstand seiner Eltern Vegetarier. Jetzt beäugen ihn sogar den Grünen prinzipiell nahestehende Landwirt:innen mit einiger Skepsis. Zugleich sind aber die Hoffnungen groß, der frische Blick von außen könnte disruptive Entwicklungen anstoßen: Wie damals in den Achtzigern in Wien, als ein Verkehrspolitiker und Stadtplaner ohne Führerschein entscheidende Weichen für die heute in ganz Europa gelobte Mobilitätswende stellte.

"Zwischen Landwirtschaft und Umwelt gehört kein oder", beteuerte der neue Minister Özdemir gleich nach seiner Ernennungszeremonie im Schloss Bellevue. Zu der er, taktisch geschickt, per Fahrrad anreiste, vorbei an den vielen Dienstwagen und direkt auf die Seite eins etlicher Zeitungen.

Inzwischen ist Özdemir auch auf internationalem Parkett unterwegs. Etwa am vergangenen Wochenende in Hohenheim, wo die Agrarminister:innen der G7-Staaten – Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, die USA und das Vereinigte Königreich – neben Folgen des Krieges in der Ukraine über eine Reaktion auf den indischen Exportstopp für Weizen berieten. "Wenn jetzt alle anfangen, solche Exportbeschränkungen zu machen oder gar Märkte zu schließen, wirkt das krisenverschärfend", warnte der Gastgeber.

Am Montag danach kletterte der Preis für eine Tonne Weizen auf nicht nur für ärmere und arme Länder unvorstellbare 435 Euro – ein Sprung um etwa 20 Euro in nicht einmal 72 Stunden und ein neuer Höchstwert. Schon zum Auftakt der beiden Tage auf den Fildern appellierte Özdemir, nicht die eine Krise, die im Ukraine-Krieg entstandene, durch die Vernachlässigung anderer lösen zu wollen, denn "die Klimakrise macht keine Pause", wie sich am Horn von Afrika und an der schlimmsten Dürre seit 40 Jahren zeige.

Ein Ziel, auf das sich die G7 verständigt haben, ist nicht mehr und nicht weniger als eine "langfristig angelegte und notwendige Transformation unseres Ernährungssystems". Im Abschlusskommuniqué steht ein Bekenntnis zum "fortlaufenden Wandel hin zu nachhaltigen Ernährungssystemen auf nationaler als auch auf internationaler Ebene". Und ausdrücklich hervorgehoben wird die Bedeutung "des ökologischen Landbaus, der Agrarökologie und sonstiger innovativer Ansätze, ebenso wie anderer der biologischen Vielfalt dienlicher Verfahren, die zur Erhaltung und Verbesserung der biologischen Vielfalt weltweit beitragen können". Ein Grüner, sagt einer der Beobachter nach dem Abschluss der Beratungen, sei da "einfach zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort".

Noch drei Jahre, um Kretschmanns Nachfolge zu regeln

Dass er jetzt und noch da ist, liegt auch an Özdemirs Beharrlichkeit. Den ganz großen Karrieresprung hatte der Einwanderersohn mit der oft beschriebenen Geschichte von der letzten Bank für die angeblich schwächsten Schüler:innen bis zur grünen Spitzenkandidatur schon 2017 fest im Blick. Unter anderem mit markigen Attacken auf Putin, Assad, Trump und erst recht Erdoğan hatte sich der studierte Sozialpädagoge damals in Stellung gebracht. Dann ließ FDP-Chef Christian Lindner die schon fast sicher geglaubte Jamaika-Koalition platzen, und Bundesaußenminister wurde Heiko Maas (SPD), der im Amt farblos blieb.

Özdemir fand sich indessen als Vorsitzender im Verkehrsausschuss wieder und scheiterte 2019 erneut: Als er Chef der Bundestagsfraktion werden wollte. Winfried Kretschmann, der einzige grüne Regierungschef in Deutschland, schäumte nicht nur hinter verschlossenen Türen: "Cem ist einer der Besten bei den Grünen, und wir müssen aufpassen, dass solche Talente nicht zwischen Baum und Borke hängen." Aber Qualität setze sich irgendwann immer durch, fand er, "das ist meine langjährige Erfahrung".

Baden-Württembergs Ministerpräsident ist gerade 74 Jahre alt geworden, manche im Landtag, wie die Grünen Felix Herkens (Pforzheim), Erwin Köhler (Eppingen), Niklas Nüssle (Waldshut) oder Alena Trauschel (FDP) könnten seine Enkel:innen sein. Offene Kritik aus den Reihen seiner Partei verbietet sich weiterhin, am Habitus, an Kretschmanns zunehmender Unnahbarkeit oder wenn er reichlich derb gegen "die verlogene Seite des Pazifismus" poltert. Er selber sieht sich dagegen gerade in einer "Frischzellenkur", weil er nach Corona endlich wieder "unter Leut'" kommt, sich "unterhalten, streiten und fetzen kann", was eine sehr schöne Sache sei. Trotzdem wird neuerdings intern über einen Weg in die Ära nach Kretschmann diskutiert. Realistischerweise bleiben maximal drei Jahre, um die Nachfolge zu ordnen.

In der vergangenen Legislaturperiode drängte es den Regierungschef öfter mal zu erzählen, wie er zum Parteifreund Dieter Salomon pilgerte, der damals noch Oberbürgermeister in Freiburg war. Schlussendlich erfolglos hatte Kretschmann den Super-Realo überreden wollen, wieder nach Stuttgart zu wechseln und als grüner Spitzenkandidat in die Landtagswahl 2021 zu gehen. Diesmal muss die Suche nach einer Nachfolger:in funktionieren, auch weil die Grünen der CDU in den Koalitionsverhandlungen das bemerkenswerte Zugeständnis abgerungen haben, einen Stabwechsel an der Spitze noch vor dem Ende der Legislaturperiode zu akzeptieren, ohne Neuwahlen stattfinden zu lassen.

Anwärter:innen gibt es viele

Umweltministerin Thekla Walker werden die Chancen einer Außenseiterin eingeräumt, Finanzminister Danyal Bayaz und Landtagsfraktionschef Andreas Schwarz sind im Rennen. Erste Wahl für viele ist aber Özdemir. Nicht obwohl, sondern weil er – auf Kretschmanns intensives Drängen hinter den Kulissen – den letzten freien Sessel am Kabinettstisch der Ampelkoalition ergattert hat. An Bekanntheit und Gewicht reiche niemand an ihn heran, schreibt die "Süddeutsche Zeitung", als Minister könne er Exekutiverfahrung sammeln, und dann stelle sich nur noch die Frage: "Will sich ein derart eminenter Mann die Provinz überhaupt antun? Wird der nicht langfristig in Berlin gebraucht?"

Grüne, die über eine Antwort nachdenken, kommen auch hier aufs Alter zu sprechen. Die Stichtage erzwingen eine Entscheidung vor der Bundestagswahl 2025, weil ein:e Nachfolger:in nur dann das Amt und den sich daraus ergebenden Startvorteil bei der Landtagswahl 2026 so richtig nutzen könnte. Der in seinem Wahlkreis Stuttgart I mit 40 Prozent der Erststimmen gewählte Özdemir – das beste Ergebnis in Baden-Württemberg – ist am Ende der Legislaturperiode 60 Jahre alt. "Passend für einen Landesvater", sagt ein Vorständler.

Der solcherart Hochgelobte hält sich offiziell bedeckt. Unbestritten ist, dass er als Landwirtschaftsminister seinen Wirkungsgrad erweitern und Regierungserfahrungen sammeln kann, die ihm auf den Weg zum Regierungssitz in der Villa Reitzenstein behilflich sein dürfte. Zudem ist ihm der strebsame Kampf um Anerkennung als erstem Kabinettsmitglied mit türkischen Wurzeln zur zweiten Natur geworden. "Ich bin Inländer", lautete schon 1999 der Titel eines Buches, in dem er vom Leben zwischen zwei Kulturen erzählt. "Dass er trotz all der Intrigen und Hetzjagden gegen ihn sein Herz für Menschen in Not offen halten konnte, grenzt an ein großes Wunder", staunte ein Rezensent. Ein kleines zumindest würde er brauchen, um gerade im traditionsverbundenen Südwesten, lange Jahrzehnte unanfechtbare CDU-Hochburg, als erstes Gastarbeiterkind ins höchste Amt gewählt zu werden. Das passende Zitat, natürlich von Hannah Arendt, hat sein möglicher Vorgänger Winfried Kretschmann schon seit Jahrzehnten im Gepäck: "Wo, wenn nicht in der Politik, sollen Wunder geschehen?"


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6 Kommentare verfügbar

  • Reinhard Muth
    am 19.05.2022
    Antworten
    Zuerst kauft der grüne Energieminister Robert Habeck den Indern in Katar das Flüssiggas weg, sodass sie trotz mehr als 50° C keinen Strom mehr für Kühlschränke und Klimaanlagen haben. Nun will der güne Landwitschaftsminister auch noch den letzten Weizen aus Indien auf dem "freien" Markt verkaufen.…
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