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Vergessene Krisen und unser Wohlstand

Zugrunde gerichtete Menschen

Vergessene Krisen und unser Wohlstand: Zugrunde gerichtete Menschen
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Alle Augen sind auf die schrecklichen Ereignisse in der Ukraine gerichtet, die Hilfsbereitschaft ist riesig. Und trotzdem bleibt es wichtig, die Teile der Welt nicht zu vernachlässigen, in denen sich die Katastrophe seit Jahrzehnten als Dauerzustand verfestigt hat. Zum Beispiel: das Horn von Afrika.

Es ist der Ausdruck in den Augen, der für immer in der Erinnerung haften bleibt. Die Blicke der Eltern, die zwischen Hoffnung und Verzweiflung changieren, wenn sie nach vielen Tagen, zu Fuß oder auf den Ladefläche von Lastwägen, endlich die einzige Kinderklinik weit und breit in Somalias Hauptstadt Mogadischu erreicht haben. Mit ihrem Baby, das vom Hunger gezeichnet ist. Die Überlebenschancen des Kindes sind gering, zu lange hat Nahrung gefehlt, dazu sind Krankheiten gekommen. Die junge Ärztin hat wenig Hoffnung, die Eltern beten für ein Wunder.

Krisen der Welt

Die Folge unseres hiesigen Wohlergehens ist eine enorme ökologische und soziale Verelendung in anderen Teilen der Welt. Der Krieg in der Ukraine könnte ein Anstoß zum Umdenken sein, darüber, dass unser Lebensstil genauso wenig selbstverständlich ist wie unser Leben in einer friedlichen Welt. Die Spirale aus Konflikten, Krisen und Klimakatastrophen dreht sich immer schneller. In unserer losen Serie "Vergessene Krisen und unser Wohlstand" wollen wir betroffene Regionen beleuchten, die in der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zu kurz kommen.

Die Szene hat sich vor gut zehn Jahren abgespielt. 2011 war das damals vom Bürgerkrieg gezeichnete Land am Horn von Afrika am stärksten betroffen von einer Dürre und Hungersnot biblischen Ausmaßes. Die Szenen wiederholen sich alle paar Jahre. Aktuell ist Somalia erneut das Land in Ostafrika, das am meisten unter extremer Trockenheit und einem Mangel an Lebensmitteln leidet. Doch es ist bei Weitem nicht das einzige Land. Nach drei ausgefallenen Regenzeiten in Ostafrika sind in Somalia, Kenia, Äthiopien und dem Südsudan insgesamt 21 Millionen Menschen vom Hunger betroffen.

"Die Situation ist dramatisch. Die Menschen drohen zu verhungern, wenn keine schnelle Hilfe erfolgt", sagt Kevin Shingles, der Landesdirektor der Welthungerhilfe in Kenia. Wenn auch die jetzige Regenzeit ausfällt, kommt es noch schlimmer für die Menschen, warnen Hilfswerke wie Oxfam – dann seien bis zu 28 Millionen Menschen bedroht.

Manche Gebiete sind bereits völlig menschenleer

Martin Größ-Bickel, Referatsleiter Ostafrika beim evangelischen Hilfswerk Brot für die Welt, ist gerade von einem Besuch in Äthiopien, Solamias Nachbarland, zurückgekehrt. Er berichtet, dass manche Gebiete im Süden des Landes schon völlig entvölkert sind.

Die Menschen haben keine Existenzgrundlage mehr, wenn das Vieh verhungert ist und die Felder nicht mehr bestellt werden können. Und die Lage verschärft sich weiter durch die Auswirkungen des Ukrainekriegs. Die Preise für Lebensmittel sind schon vorher gestiegen. Jetzt schießen sie endgültig in Höhen, die für große Bevölkerungsteile unbezahlbar sind. Sonnenblumenöl ist kaum noch zu bekommen, Benzin wird teurer, ebenso wie der Dünger, den es dringend für bessere Ernten braucht. Die Schicksale hinter den erschütternden Zahlen nimmt kaum jemand wahr. Manchmal flackert das Interesse der Weltöffentlichkeit auf, aber nur kurzweilig, sogar wenn die  Krisen so  gehäuft auftreten, wie in den vergangenen drei Jahren: Corona, eine Heuschreckenplage von riesigem Ausmaß und die anhaltende Dürre. In all den betroffenen Ländern, vom Südsudan über Äthiopien und Kenia bis zu Somalia ergibt sich ein Muster, das zeigt, dass die Ursache für das Leiden der Menschen nicht alleine im Klima und der Erderhitzung liegt, sondern an auch an sozialen und politischen Auseinandersetzungen, die aber niemand ernsthaft lösen kann oder will.

Die krisengeplagten Länder sind seit Jahrzehnten Schauplätze heftiger politischer Konflikte, die den Nahrungsmittelmangel meist verschärfen oder dessen Ursache sind. Etwa wenn Äcker wegen Kämpfen nicht bestellt werden können. Reformen auf dem Land, eine Verbesserung ländlicher Strukturen, standen nie im Fokus der dort Regierenden. Sie bauten lieber den Militärapparat aus und versorgten ihre Clan-Mitglieder.

Das hat dazu beigetragen, dass heute – im Gegensatz zu früher – die Mehrzahl afrikanischer Staaten auf Nahrungsmittelimporte angewiesen ist. Vor allem konnte die heimische Landwirtschaft sich nicht entwickeln, ja positive Ansätze wurden vielfach im Keim erstickt, wegen hochsubventionierten Billigimporten von landwirtschaftlichen Produkten aufgrund von Handelsverträgen, die afrikanische Länder benachteiligen. Ein Skandal ist der Export von Hähnchenteilen nach Afrika aus der EU, die selbst auf Märkten in Ländern zu finden sind, die den Import inzwischen untersagt haben. Lokale Hühnerfarmen haben dagegen keine Chance. Genauso ist es beim Export von Magermilchpulver. Faire Handelsbeziehungen mahnen Hilfswerke seit Jahrzehnten an, aber trotz anderslautender Bekenntnisse hat noch immer das Wohlergehen der eigenen Bauern in reichen Ländern Priorität.

Drei Jahrzehnte der Verwüstung

Die Länder am Horn von Afrika sind seit langem Spielball der globalen Großmächte. Beispielhaft zeigt sich das in Somalia:

Seit drei Jahrzehnten dauern die Wirren, Kämpfe und vor allem des Leiden der Menschen dort an. Und daran hat die Einmischung von außen einen maßgeblichen Anteil.  1961 wurde Somalia, früher britisch-italienische Kolonie, unabhängig. Zunächst sollte ein demokratisches Staatswesen entstehen. Doch 1969 putschte sich Siad Barre an die Macht, der das Land mehr als 20 Jahre diktatorisch regierte. Unterstützt wurde er während des Kalten Krieges zunächst von der Sowjetunion. Später von den USA, als Barre schließlich einen Krieg gegen Äthiopien führte und die Sowjetunion den Nachbarstaat unterstützte.

Ausgabe 575, 6.4.2022

Raus aus der Wohlstandsblase

Von Rainer Lang

Krieg in der Ukraine, der Klimawandel wird auch nicht besser und Deutschland diskutiert über Spritpreis-Entlastungen. Wir Deutschen leben in einer Wohlstandsblase, schreibt unser Autor. Und müssen dringend über Verzicht sprechen, gerade jetzt.

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Als die äußere Machtstütze 1990 wegbrach, zerfiel der Staat in seine Einzelteile. Es folgten Kämpfe und wechselnde Allianzen zwischen regionalen und lokalen Warlords in einem zuvor schon von beiden Blöcken des Kalten Krieges massiv aufgerüsteten Land. Versuche der internationalen Staatengemeinschaft, vor allem der westlichen Staaten, von oben und außen, mit weiterer militärischer Unterstützung, Waffenlieferungen und Finanzspritzen, eine "nationale Regierung" nach westlichem Vorbild auf die Beine zu stellen, scheiterten immer wieder kläglich. Äthiopien und Kenia intervenierten mit der Begründung, radikalislamische Gruppen zu bekämpfen, die sie als Gefahr für das eigene Land betrachteten.

Die EU  finanziert bis heute die Friedensmission der Afrikanischen Union. Dass der Erfolg  der Maßnahmen für Somalia nur mäßig ist, bescheinigt sogar der Europäischen Rechnungshof. Denn im  Vordergrund des Engagements stehen bei allen Akteuren die eigenen Interessen, seien sie machtpolitisch oder sicherheitstechnisch begründet – das heißt konkret Befriedung und damit Einfluss sichern. Aber ohne die Unterstützung der Bevölkerung ist selbst nach einem staatlichen Neustart 2012, als es gelungen war, die radikalen Gruppen zurückzudrängen, nur eine oberflächliche und äußerst brüchige Befriedung gelungen. Der aus kolonialen Bruchstücken notdürftig gezimmerte Nationalstaat ist bis heute ein künstliches Gebilde geblieben.  In den Jahren 1991/92 kämpften Clans um die Kontrolle Süd-und Zentralsomalias. Zusammen mit einer schweren Dürre führte dies zu einer schlimmem Hungersnot mit mehr als 200.000 Toten. Eine  Intervention im Jahr 1993 unter Führung der USA hatte das offizielle Ziel, Hilfe für die hungernde Bevölkerung durchzusetzen, die Milizen zu entwaffnen und die staatliche Ordnung wieder herzustellen. Es endete in einem Fiasko, führte 1994 zu einem hilflosen Rückzug der Truppen und hinterließ Somalia in einem katastrophalen Zustand mit ungelösten Problemen.

Der Sommer der Hoffnung war kurz

2006 kam es zu einer kurzen politischen Entspannung im Land, als in Süd- und Zentralsomalia eine gemäßigte islamische Regierung der "Vereinigten Islamischen Gerichte" (UIC) die öffentliche Ordnung wiederherstellte und mit Unterstützung der Bevölkerung die mächtigen Warlords vertrieb. Die Gerichte hatten ganz unterschiedliche Ausrichtungen, von moderat bis streng-gläubig, manche träumten sogar von einer Eingliederung der ebenfalls von Somalis bewohnten äthiopischen Region Ogaden. Es gab jedoch keine radikal-islamische Wende, sondern vielmehr einen Sommer der Hoffnung in Somalia.

Doch für die US-Regierung waren die UIC ein islamistisch-terroristischer Feind im Rahmen der Anti-Terror-Strategie nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Somalia galt als Rückzugsort für islamistische Terroristen. Mit Unterstützung der USA und unter Bruch des UNO-Waffenembargos ging die "Allianz für die Wiederherstellung des Friedens und gegen den Terrorismus", eine Vereinigung von Clanführern, gegen die UIC vor. Äthiopien vertrieb die UIC letztlich bei einer militärischen Intervention 2006 und installierte eine Übergangsregierung. Dies wiederum brachte den radikalislamischen Al-Shabaab-Milizen, der UIC-Jugendorganisation, enormen Zuspruch in der Bevölkerung, die 2008 Äthiopien zum Rückzug zwangen.

Seit 2012 gibt es wieder eine somalische Zentralregierung. Erst kürzlich ist es zum offenen Streit zwischen Präsident und Premierminister gekommen. Anschläge der radikalen Al Shabaab-Milizen haben wieder zugenommen.

Aus all dem folgt: An einer Lösung der Dauerkrise zum Wohle der Bevölkerung in diesem gebeutelten Land scheint seit Jahrzehnten niemand wirklich interessiert zu sein. Zu viele scheinen weiterhin von den instabilen und unsicheren Zuständen im Land zu profitieren.

Über Jahrzehnte haben diejenigen, die sich von außen in diesem Land engagieren, mit ihrem Eigeninteresse und den von ihnen installierten Strukturen das Land zugrunde gerichtet. In 20 Jahren Bürgerkrieg hat es keine Entwicklung gegeben, vor der Küste Somalias wurde jahrelang illegal Giftmüll im Meer versenkt, fremde Fangflotten fischten die Küstengewässer leer und trieben die heimischen Fischer in die Piraterie. Zurückgeblieben ist ein völlig verarmtes Land, in dem die Hälfte der Kinder nicht zur Schule geht und arbeiten muss.

Und dazu kommt die Erderhitzung

Im Zuge des sich verschärfenden Klimawandels werden sich die Krisen in Somalia in noch kürzeren Abständen wiederholen. Und nicht nur dort: 

Seit Jahrzehnten spitzt sich im Norden Kenias die Lage der dort lebenden Menschen zu. Schon vor Jahren haben die Viehhirten kaum Nahrung für ihre Tiere gefunden. Und die Ackerbau betreibenden Kleinbauern hatten zu wenig Wasser für ihre Felder und versuchten, die Tiere der Viehhirten von ihren Feldern fern zu halten. Die Regierung Kenias interessiert sich für diese trockenen und wenig fruchtbaren Landstriche nur wenig und überlässt die Versorgung der Mensch weitgehend Hilfsorganisationen.

In Äthiopien ist nicht nur der Süden, sondern auch der Norden vom Hunger betroffen, wo in der Region Tigray Bürgerkrieg herrscht und Nahrungsmittelhilfe von der Regierung systematisch unterbunden wurde. Äthiopien und der frühere Erzfeind Eritrea haben sich zusammengetan im Kampf gegen die Rebellen. In Folge des Konflikts leiden Hunderttausende an Hunger. Auch diese Katastrophe wird die Erderhitzung weiter befeuern.

Allein die Stärkung der Versorgungssicherheit durch Hilfen für Kleinbauern wäre ein großer Schritt zur Unterstützung armer Menschen. Viel von dem herrschenden Leid ließe sich durch eine gerechtere Verteilung beseitigen: Nach den Zahlen der Welthungerhilfe landen jedes Jahr weltweit 1,3 Milliarden Tonnen Essen im Müll – ein Drittel dessen, was global an Lebensmitteln produziert wird.


Kontext-Autor Rainer Lang hat viele Jahre in der kirchlichen Katastrophenhilfe gearbeitet, unter anderem für Brot für die Welt, die Diakonie und den Weltkirchenrat.


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