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Utopien für die Zukunft

Transformation gelungen

Utopien für die Zukunft: Transformation gelungen
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Im Jahr 2045 hat Deutschland die Klimaziele erreicht und Stuttgart ist eine regenerative Stadt. Eine solche Zukunft möchte ein Bildband des Vereins "Reinventing Society" vor Augen führen, der sich 2020 im zweiten Corona-Lockdown gegründet hat.

Stuttgart, 2022. Nach zwei Jahren Baustelle ist die Sanierung des Marktplatzes abgeschlossen. Die gesamte Fläche ist bedeckt von einem Belag aus hellem, gelblichem Granit aus dem Bayrischen Wald. Nur um den historischen Marktbrunnen von Nikolaus Friedrich von Thouret stehen acht alte Platanen. Zu mehr Grün konnte sich die Stadt mit den Grünen als stärkster Gemeinderatsfraktion und dem zur Zeit der Beschlussfassung noch grünen Oberbürgermeister Fritz Kuhn nicht durchringen.

2018 war in der Gemeinderatsvorlage noch festgehalten: "Um den Marktplatz in stadtklimatischer Hinsicht zu verbessern, wird vorgeschlagen zu untersuchen, ob vier neue Baumstandorte möglich sind." Daraus ist wohl nichts geworden. Um zu verhindern, dass sich der Platz, wie der bereits 2003 neu gestaltete Stuttgarter Marienplatz (Betonwüste), im Sommer stark aufheizt, hat die Stadt ein Fontänenfeld installiert. 1,50 Meter hoch spritzen 36 bei Nacht illuminierte Düsen feine Wasserstrahle empor. Bäume aber sind im Schwabenland unbeliebt. Sie machen Dreck, heißt es. Gemeint ist: Man muss das Laub zusammenkehren.

Bambusstege führen von einem Dach zum anderen

Stuttgart, 2045, wir befinden uns in einer Utopie: Sechs Bäume stehen vor dem Rathaus, weitere auf dem Platz davor. Kletterpflanzen ranken an der Rathausfassade empor. Alle ebenen Dachflächen sind weitgehend begrünt und begehbar. Von den Cafés auf den Dachterrassen bietet sich ein herrlicher Blick auf die Stadt und die Hänge. Schwankende Bambusstege führen von einem Dach zum anderen.

Städte und urbane Räume sind eines der wichtigsten Themen einer zukünftigen sechsteiligen Ringvorlesung im Jahr 2045, die Studierenden und Interessierten rückblickend vor Augen führt, wie diese Transformation gelang. Die ehemalige Bürgermeisterin, die am zweiten Termin zu diesem Thema referiert, hat selbst miterlebt, wie sich die Atmosphäre mit fortschreitendem Klimawandel immer mehr aufheizte. Städte wie Stuttgart erstickten früher im Autoverkehr, erzählt sie. Aufgrund der Immobilienspekulation wurden die BewohnerInnen immer mehr in Randzonen gedrängt. Die Reaktion der Studierenden schwankt zwischen Entsetzen und Erleichterung, sah es doch 2022 so aus, als erliege die Menschheit dem Klimawandel. Zum Zeitpunkt der Ringvorlesung ist Deutschland klimaneutral und hat die 17 Sustainable Development Goals, die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, geschafft.

Ein Bilderbuch für eine gelungene Zukunft

Anfang nächsten Jahres soll ein Bildband erscheinen, der die fiktive Ringvorlesung in der Zukunft dokumentiert, 22 Jahre bevor sie stattfindet: "Zukunftsbilder 2045. Die Geschichte einer gelungenen Transformation" heißt das Buch. Denn um sich eine positive Entwicklung vorstellen und auf sie hinarbeiten zu können, braucht es Zukunftsvisionen: Real-Utopien, wie die Herausgeber sagen.

"Tiefgreifende Veränderungsprozesse können nur dann Erfolg haben und Unterstützung mobilisieren, wenn das Neue in Form von positiven Zukunftsbildern ermutigt und Lust macht", heißt es aus dem Verein "Reinventing Society", ein "Zentrum für Realutopien" oder auch "Think-and-Do Tank", ursprünglich gegründet von sieben jungen Menschen aus unterschiedlichen Berufsfeldern, die im zweiten Corona-Lockdown im November 2020 in Berlin zusammengefunden haben.

"Wir sind ein relativ junges Team", erklärt Stella Schaller, "gegründet, um Menschen in eine regenerative Zukunft zu begleiten, die sich in Krisen oft hilflos fühlen." Die Coronakrise sei ein "Gelegenheitsfaktor", meint sie. Krisen versetzen Menschen in Angst und Schrecken, im schlimmsten Fall in Schockstarre. Aber: "In Krisen werden Strukturen aufgebrochen und neue bilden sich." Eine gemeinsame Vorstellung, ein Bild, wie die Zukunft aussehen soll, kann dagegen ungeahnte Energien mobilisieren.

Von den sieben GründerInnen sind im Moment noch vier dabei – Max Kretschmer studiert noch, Katharina Beck ist inzwischen Bundestagsabgeordnete für die Grünen und Verena Emme ihre Mitarbeiterin. Die vier anderen arbeiten hauptberuflich für Reinventing Society, unterstützt von freiberuflichen oder ehrenamtlichen MitarbeiterInnen, die sie Fellows nennen. Das geplante Buch steht in enger Verbindung mit anderen Projekten des Vereins. Zugleich spiegelt die Publikation die Erfahrungen, welche die vier Hauptbeteiligten mitbringen.

Schaller, die das Projekt managt, hat zunächst Medien- und Kommunikationswissenschaften und Politologie sowie Entwicklungswissenschaften und Nachhaltigkeit studiert. Sie war unter anderem im Auftrag des Auswärtigen Amts, der UNO und des Gemeinwohlökonomie-Dachverbands unterwegs. Lino Zeddies interessiert sich, von seinem Volkswirtschaftsstudium enttäuscht, für Plurale Ökonomik und Geldwende, hat als Coach, Therapeut und Organisationsberater gearbeitet und vor zwei Jahren bereits ein Buch geschrieben: "Utopia 2048", das in eine ähnliche Richtung geht wie der nun geplante Bildband.

Zukunftsfähige Ideen brauchen Durchsetzungskraft

Was neu dazukommt, ist die Arbeit von zwei Fellows: Sebastian Vollmar und Ute Scheub. Scheub schreibt die Texte. Sie war einst Mitbegründerin der taz und hat seit Ende der neunziger Jahre als freie Autorin 23 Bücher veröffentlicht. Vollmar ist Grafikdesigner und für die Bebilderung zuständig, unterstützt wird er von einer Reihe externer Büros, weil die detaillierten Bilder von geplant dreißig bis fünfzig Städten aufwendig sind. Ein Crowdfunding soll die Mittel einwerben. Von den benötigten 10.400 Euro ist bereits mehr als die Hälfte eingesammelt.

"Die Lösungen für eine neue Welt sind eigentlich alle schon da", sagt Zeddies und nennt unter anderem Permakultur, Demokratiereform und Gemeinwohlökonomie. Eine "Infothek für Realutopien" soll solche Ansätze auf einer Website versammeln. Sie ist bereits fertig programmiert und soll demnächst online gehen. Reinventing Society will die Welt also nicht neu erfinden, sondern bestehende Ansätze verknüpfen und ihnen zu mehr Durchsetzungskraft verhelfen.

Hier kommen auch die beiden anderen Mitglieder des Kernteams ins Spiel: Anna Reisch und Simon Mohn. Sie nennen sich Organisationsberaterin und Gesellschaftsentwickler. Reisch ist gelernte Goldschmiedin und Ökonomin, Mohn hat nach einem Jahr in Kenia einen Unesco-Studiengang zur Konfliktforschung absolviert. In Workshops und Vorträgen nehmen die vier ihr Publikum mit auf eine Reise in die Zukunft: auf Einladung und in eigenen Projekten wie dem "Transformation Bootcamp", das an zwölf Zoom-Terminen im Herbst nun schon zum dritten Mal stattfindet.

Beteiligt sind auch AkteurInnen aus Stuttgart

Ein weiteres Projekt des Teams heißt "ZukunftFindetStadt". Das "transformative Bildungsprogramm" bringt alle an der Entwicklung einer Stadt oder eines Stadtteils Beteiligten – Politik und Verwaltung, Zivilgesellschaft und Branchenverbände – zusammen, um ein positives Leitbild für die Zukunft zu erarbeiten. Es besteht aus variablen Modulen, unter anderem einem "Schnellkurs im utopischen Prototyping" oder dem "City Marketing durch utopische Stadtgrafiken" – und da kommen wieder die Zukunftsbilder ins Spiel.

Beteiligt sind auch AkteurInnen aus Stuttgart. Zum Projektbeirat gehören Stephan Anders von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) und Franziska Schreiber vom Städtebau-Institut der Universität Stuttgart, die zugleich am "Bauhaus der Erde" beteiligt ist, einer wegweisenden Initiative unter der Leitung des Klimaforschers Hans Joachim Schellnhuber.

Eigentlich hat Stuttgart bereits eine solche Zukunftsvision: das Stadtentwicklungskonzept STEK. Es stammt allerdings aus den Jahren 2004 bis 2006 und ist in vieler Hinsicht mittlerweile veraltet. Die Architektenkammer hat vor einigen Jahren mit einem Positionspapier und einer anregenden Veranstaltungsreihe eine Aktualisierung angestoßen.

Stadtentwicklungskonzept wird überarbeitet

Der aktuelle Stand: Zwei Büros haben das alte Konzept evaluiert und, wie es in der Gemeinderatsvorlage vom 19. November 2021 heißt, "gemeinsam mit dem Amt für Stadtplanung und Wohnen auf Grundlage der Qualitätsansprüche und in Abhängigkeit zu weiteren Konzepten einen möglichen Prozess für Stuttgart vorskizziert".

Wenn man sich den Methodenbaukasten der Initiative "Reinventing Society" anschaut, fällt auf, dass technische Lösungen eher nicht im Mittelpunkt stehen. Vielmehr spielen auch psychologische und gruppendynamische Ansätze eine große Rolle: von Mediation und Konfliktlösung über Aufmerksamkeitsfokussierung und Entspannung bis hin zum selbst entwickelten Methodenkanon "Utopian Mindset". Genau das sei sehr wichtig, sagt Stella Schaller: "Das Innen und Außen zusammen zu denken."


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1 Kommentar verfügbar

  • Dietmar Rauter
    am 27.04.2022
    Antworten
    So wichtig positive Beispiele sein mögen, aber ohne die Rückschau auf die Ursachen der Klimakatastrophe kann es keine Chance geben, sich auf ein Überleben auf diesem Planeten einzurichten. Das hört sich alles ganz gut an mit Projekten, Energie alternativ zu gewinnen, aber es ist ein reines…
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