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Der Neckar in Stuttgart

Die uferlose Unverschämtheit

Der Neckar in Stuttgart: Die uferlose Unverschämtheit
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Einst inspirierte der Neckar zu schillernden Hymnen, in Heidelberg ist er noch heute geschätzt. Wie aber Stuttgart seinen Fluss zurichtet, ist ein Verbrechen gegen Genuss und Ästhetik.

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"Zwischen den grünen, duftenden Ufern" dahinzugleiten, vorbei an "prächtigen Bergen, bis zum Gipfel dicht mit Laub bekleidet", an "offenen Ebenen, flammend von Mohn oder vom satten Blau der Kornblume bedeckt", manchmal umhertreibend "im Schatten der Wälder und manchmal am Rande langer Strecken samtigen Grases dahin, frischen, grünen und leuchtenden Grases" – diese Eindrücke begeisterten den Schriftsteller Mark Twain so sehr, dass er die deutsche Landschaft in seinem Reisebericht "Bummel durch Europa" als Gipfel der Schönheit anpries und bei dieser Gelegenheit notierte: "Niemand hat das höchste Ausmaß dieser sanften und friedvollen Schönheit begriffen, wirklich wahrgenommen und genossen, der nicht auf einem Floß den Neckar hinabgefahren ist."

Ein so hymnisches Urteil drängt zu dem Schluss, dass der Erfinder von Tom Sawyer und Huckleberry Finn bei seiner abenteuerlichen Flussfahrt das trostlose Grauen in Stuttgart umschiffen konnte. Und tatsächlich: Ausgangspunkt von Twains literarischer Reise im Jahre 1878 war Heilbronn, heute zwar nicht minder hässlich als die Landeshauptstadt, aber damals geeignet, sich dem Anblick einer industrialisierenden Stadt-, Land-, Fluss-Verunstaltung zu entziehen. Duftende Ufer existieren in Stuttgart schon lange nicht mehr. Wiesen und Weideflächen suchen Wandernde vergeblich. Wo der Übergang zum Wasser nicht unmittelbar an dürftig bepflanzte Böschungen anschließt, wird das Flussbett durch stählerne Kanalwände ersetzt. Stuttgart kennt kein frisches, grünes und leuchtendes Gras – höchstens ein bisschen garstiges Gestrüpp.

Eine Smogglocke über der Stadt, die alle Aussicht auf prächtige Berge raubt. Stadtautobahnen, die den Flusslauf umzingeln und vom genüsslichen Verweilen abschrecken mit ihrem Lärm und einer Abgaslast, die Naherholung zur Strapaze für die Gesundheit macht. Und dann diese Bebauung bis an den äußersten Rand, die keinen verwertbaren Zentimeter schont und beim ohnehin kompromissbereiten Naturerlebnis unausweichlich verallgegenwärtigt, dass Schönheit und Ästhetik, Umwelt und Menschheit sich als zweit-, dritt- oder viertrangig einzugliedern haben, wo das ökonomische Prinzip greift: Jener grundsätzlichste Grundsatz also, der die Natur in ein Zahlenwerk verwandelt, rechnet, was sich rechnet, alles Lebenswerte an und in Landschaften unter den Vorbehalt der Finanzierbarkeit stellt und bei jedem Wald, Berg oder Fluss unablässig überprüft, ob sie sich nicht noch irgend lukrativer gestalten ließen, sei es durch Umgraben oder durch Abholzen.

Was grässlich ist, lässt sich zur Kunst erklären

Nicht nur hat das ökonomische Prinzip die Gestaltung von Szenerien und Siedlungen stärker geprägt als alle Architekten und Stadtplanerinnen zusammengerechnet. Es bestimmt die Rahmenbedingungen, unter denen Architektur und Stadtplanung überhaupt gestalten dürfen. Ohne Bruch mit dem Prinzip muss also, was das Problem verursacht hat, zu seiner Lösung werden: "Die Region Stuttgart muss sich im globalen Wettbewerb um Unternehmen, um Fachkräfte positionieren – und da spielt die Freizeitqualität des Neckars eine ganz große Rolle", sagt Nicola Schelling, nach einer Karriere als Anwältin, Richterin und Nationaler Expertin bei der Europäischen Kommission, nun als Regionaldirektorin des Verbands Region Stuttgart. Denn wo Stadt lebenswert gestaltet werden soll, geschieht das primär mit der Absicht, die Konkurrenz auszubooten – und so ein Fluss ist ein herausragender Standortvorteil. Folgerichtig hat Stuttgart bereits 2012 den "ökonomischen Mehrwert von Revitalisierungsprojekten" untersucht, also Kosten und Nutzen von mehr Lebensqualität in einer Tabelle gegenübergestellt.

Im Fall des Neckarufers hat die Rechnung ergeben: Jawohl, ein bisschen mehr attraktiver Lebensraum würde sich rentieren, das wäre eine Investition, die sich höchstwahrscheinlich amortisiert. Also wird fleißig am "Masterplan Erlebnisraum Neckar" gefeilt. Das ist eine dringliche Angelegenheit. Denn sogar in offiziellen Verlautbarungen der Stadtverwaltung sind Dinge zu lesen wie: "An den Neckar zu gelangen, ist in Stuttgart nicht immer einfach", "Orte am Fluss, die zum Verweilen einladen, gibt es in Stuttgart nur wenige" oder: "Besonders im Südosten der Stadt (...) bilden Produktionshallen, Kaianlagen, Kräne, Gleisanlagen sowie Anlagen der Bundeswasserstraße einen dichten Flickenteppich aus Stahl und Beton." Zumindest mit letzterem Makel ist ein pragmatischer Umgang schnell gefunden: "Diese stadtprägenden Strukturen werden nicht als 'Unorte' betrachtet und ausgeblendet, sondern vielmehr als Teil des 'Erlebnisraums Neckar' gesehen und so erlebbar gemacht. Entlang wichtiger Wegeverbindungen entstehen 'Galerien der Industriekultur'." Ein genialer Kniff: So wird der Flickenteppich kurzerhand zur Kunst.

Weil Hamburg eine Elphi hat, will Stuttgart auch

Wie sich das Stuttgarter Neckarerlebnis aufwerten lässt, ist eine Frage, die die Landeshauptstadt (ohne erkennbare Fortschritte) schon seit geraumer Zeit umtreibt. Bereits bis 2035 soll das 1998 erarbeitete Konzept "Stadt am Fluss" verwirklicht worden sein. Und die CDU wäre nicht die CDU, wenn sie nicht noch eine besondere Idee in petto hätte: Alexander Kotz, Fraktionsvorsitzender im Stuttgarter Gemeinderat, ist 2019 mit der Forderung nach einer Neckar-Philharmonie in den Kommunalwahlkampf gezogen, einer "Konzerthalle direkt am Wasser" nach Hamburger Vorbild. Wenn man schon Geld in die Hand nimmt, muss es wenigstens ein Leuchtturm sein und auf drastische Kostenexplosionen ist die Stadtgesellschaft ohnehin eingestellt.

Doch abgesehen davon, dass so ein Fluss prima als Kulisse für einen Prunkbau fungieren kann, gibt es noch weitere Vorzüge, wie auch Nicola Schelling vom Regionalverband Stuttgart erkannt hat. Der Neckar erinnert sie an den erleuchteten Siddhartha von Hermann Hesse: "Der Fluß lernt ihn (sic), dass es keine Zeit gibt. Er lernt ihn (sic) das Zuhören. Das Lauschen mit stillem Herzen, mit wartender, geöffneter Seele – ohne Leidenschaft, ohne Wunsch, ohne Urteil, ohne Meinung."

Wo Meinungslose nicht urteilen, finden sie sich vielleicht auch mit entstellter Natur ab. Dabei zeigt sich ein paar Kilometer flussabwärts, dort, wo Mark Twain eine "tiefe und beglückende Freude" übermannte, als er sah, "wie Sonne den neuen Morgen schuf, und wie sie ihn allmählich, geduldig, liebevoll mit einer Herrlichkeit nach der anderen und einem Glorienschein nach dem anderen bekleidete, bis das Wunder vollkommen war" – dort, in Heidelberg zeigt sich, wie ein Ufer zum attraktiven Erholungsraum und Sammelpunkt für eine Stadtgesellschaft werden kann. Der große Vorzug der Neckarwiese ist, dass sie niemand von vorne bis hinten zubetoniert hat.


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6 Kommentare verfügbar

  • Nik
    am 20.02.2022
    Antworten
    Recht hat der Artikel. Falls jemand etwas macht, unterstütze ich gerne. Das ist auch ein schönes Beispiel aus Heidelberg. Remseck mit dem Strand ist ein weiteres schönes und nahes Beispiel. Immer einen Ausflug wert. ;)
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