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Der Globale Süden in den Medien

Unter den Opfern waren Deutsche

Der Globale Süden in den Medien: Unter den Opfern waren Deutsche
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Hat die deutsche Auslandsberichterstattung blinde Flecken? Der Historiker und Germanist Ladislaus Ludescher hat mehr als 1.300 Stunden Tagesschau ausgewertet und Leitmedien analysiert. Ein Gespräch über vergessene Welten und doppelte Standards.

Herr Ludescher, für Ihre Langzeitstudie haben Sie über 5.000 Folgen Tagesschau angeguckt und ausgewertet. Hängt einem das nicht irgendwann zu den Ohren raus?

Zugegeben: Man muss es in Dosen machen. Ich habe dafür häufig längere Zugfahrten genutzt, Folgen aus dem Archiv heruntergeladen und dann zum Beispiel zehn davon am Stück angesehen.

In Ihrer Studie stellen Sie eine mediale Marginalisierung des Globalen Südens fest. Wie sind Sie denn zu dem Thema gekommen?

Am Anfang war es das Gefühl, wenn ich Nachrichten verfolgt habe, dass manche Teile der Welt in der Berichterstattung sehr selten vorkommen. Bei Boulevard-Medien wie der Bild-Zeitung ist das wenig verwunderlich. Aber ich dachte, wenigstens die Tagesschau sollte als wichtigstes Nachrichtenformat im deutschsprachigen Raum umfangreicher und auch differenzierter über den Globalen Süden berichten. Diesen Eindruck wollte ich mit validen Daten erhärten. Und als die Ergebnisse vorlagen, war ich, muss ich ehrlich gestehen, sogar selbst überrascht und tatsächlich geschockt, wie stark die Vernachlässigung ist.

In Ihren Untersuchungen haben Sie Sendungen seit 2007 ausgewertet. Welche Langzeit-Trends konnten Sie dabei erkennen?

Ladislaus Ludescher, Jahrgang 1983, studierte Germanistik, Geschichte und Europäische Kunstgeschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Frankfurter Goethe-Universität und Lehrbeauftragter am Historischen Institut Mannheim. Zu seinen Schwerpunkten zählt die Medien- und Öffentlichkeitsforschung. Für die Studie "Vergessene Welten und blinde Flecken" wertete er circa 5.500 Sendungen der Tagesschau im Zeitraum von 2007 bis 2021 aus. Die Studie als pdf sowie weiterführende Informationen gibt es hier (min)

Die Pandemie mal ausgeklammert, würde ich sagen: Das Berichtschema ist sehr stabil. Beiträge über den Globalen Süden sind selten, und wenn überhaupt berichtet wird, dann fast nie als Top-Thema, sondern in der zweiten Sendungshälfte – sogar, wenn wie im vergangenen Jahr der Präsident von Haiti ermordet wird, was ja normalerweise doch als ein gewichtiger politischer Vorgang eingestuft werden kann. Da hätte ich schon gedacht, dass die Meldung dazu weiter vorne im Programm platziert wird. Aber der entsprechende Bericht wurde erst in der Mitte der Sendung ausgestrahlt.

Aber 2020 gab es doch zum Beispiel viele Berichte über die verheerende Heuschreckenplage in Ostafrika und Südasien.

Ja, es gibt immer wieder Gebiete und Themen, die für einen gewissen Zeitraum aufflackern. Ich nenne das in meiner Studie ein Punktuelles-Interesse-Phänomen. Das heißt, dass der Fokus kurz auf eine Region gesetzt wird und es durchaus Aufmerksamkeit dafür gibt – aber das Interesse dann auch schnell wieder nachlässt. Etwa bei der Heuschreckenplage oder insbesondere auch nach Terroranschlägen. Bezeichnend finde ich zum Beispiel die Berichterstattung über Hungerkrisen. Das Problem wurde ja durch die Heuschrecken massiv verschärft, da sind mehrere Katastrophen zusammengekommen. Der Welternährungsbericht hat darauf hingewiesen, dass unter anderem durch die Pandemie die Zahl der weltweit Hungernden um über 100 Millionen Betroffene gestiegen ist – da gibt es doch eigentlich kaum ein relevanteres Thema! Aber auch das ist keine Spitzennachricht, es ist nur einen 30-sekündigen Kurzbericht wert oder vielleicht mal zwei Minuten, und dann ist das abgehandelt.

Kein Einzelfall, sagen Sie?

2017 hatten viele Hilfsorganisationen auf die Hungersnot in Somalia hingewiesen, auch Nigeria, der Südsudan, der Jemen und weitere Staaten litten unter Nahrungsmittelknappheit. Die Vereinten Nationen sprachen von der schlimmsten drohenden humanitären Krise der Nachkriegszeit. Der Bundespräsident hatte einen Aufruf gestartet, mit der Bitte zu spenden. 2011 hatten wir die Hungersnot am Horn von Afrika. Damals sind 260.000 Menschen verhungert, davon die Hälfte Kinder unter fünf Jahren. Das sind jeweils so massive Katastrophen, dass eigentlich reihenweise Sondersendungen angebracht gewesen wären – aber das war überhaupt nicht der Fall. Es war auch kein Thema bei Anne Will oder Maybrit Illner, also den politischen Talkshows, wo man vielleicht auch tiefgreifender über Lösungsansätze hätte diskutieren können als in der Kurzmeldung einer Nachrichtensendung.

Mit der Erderhitzung, vermehrten Missernten und Weltregionen, die unbewohnbar werden, steht zu befürchten, dass sich die Krisen Hunger und Flucht gegenseitig zuspitzen.

An diesen Komplexen zeigt sich die Problematik deutlich: Das Klimaproblem ist zwar inzwischen in den Köpfen der Leute verankert. Aber der Fokus auf die bereits massiv betroffenen Gebiete ist in der hiesigen Berichterstattung doch eher von sekundärem Rang. So ähnlich ist das mit der Situation von Geflüchteten. Die sogenannte "Flüchtlingskrise" war ja ein riesiges Thema, 2015 und in den folgenden Jahren. Aber Berichte haben sich vornehmlich mit den Flüchtlingen, die nach Europa gekommen sind, beschäftigt. Dabei ist komplett in den Hintergrund geraten, dass der größte Teil der Flüchtlinge Binnenflüchtlinge sind, die gar nicht die Möglichkeit haben, nach Europa zu gelangen.

Aber ist es nicht auch naheliegend, dass deutschsprachige Medien zuerst einmal geografisch nahe Themen aufgreifen?

Natürlich. Neben der geografischen Nähe sind auch kulturelle Verbundenheit oder die geopolitische Bedeutung eines Landes Faktoren, die bei den Berichten berücksichtigt werden. China etwa nimmt auch medial eine immer größere Rolle ein und ist deutlich präsenter als zum Beispiel Indien, wobei die Staaten, gemessen an der Bevölkerungsgröße, gleich vertreten sein könnten. Dass nicht alles gleichermaßen abgebildet werden kann, ist klar. Für problematisch halte ich das Ausmaß der Einseitigkeit.

Und Corona verschlimmert die Tendenz, sagen Sie?

Ja. Für das Jahr 2020 habe ich auch untersucht, welchen Stellenwert die Pandemie in der Berichterstattung der Tagesschau einnimmt. Da lässt sich grob sagen, dass ungefähr 50 Prozent der Sendezeit auf dieses Thema entfielen. Zwei Drittel beleuchteten die Situation in Deutschland und 29 Prozent die Lage im Globalen Norden. Aber lediglich 5 Prozent widmeten sich dem Globalen Süden – obwohl ja auch dort viele Staaten wirklich heftig betroffen waren und sind. Und es kommt noch dazu: Bei diesen 5 Prozent sind auch die Berichte über China enthalten, die den Großteil ausgemacht machen.

Ist dieser Fokus eine deutsche Besonderheit? Oder lässt sich das international verallgemeinern?

Ich habe auch einige außerdeutsche Medien exemplarisch untersucht, zum Beispiel die "Washington Post", "Le Monde" und den "Guardian". Tatsächlich entspricht das Muster ungefähr dem Berichtschema Deutschlands. Natürlich ist das Heimatland immer am stärksten präsent. Aber die starke Konzentration auf den Globalen Norden, "den Westen", das ist bei all diesen untersuchten Medien sehr stark zu spüren gewesen. In einer meiner nächsten Studien will ich versuchen, herauszufinden, wie Medien außerhalb des sogenannten Westens über die Welt berichten.

Welche Ursachen vermuten Sie denn hinter einer einseitigen Schwerpunktsetzung?

Ganz wichtig ist mir an dieser Stelle, dass ich kein Journalismus-Bashing betreiben will. Es gibt durchaus auch Beispiele für umfangreiche und differenzierte Auslandsberichterstattung, etwa beim "Weltspiegel", "Monitor" oder "Arte Journal". Bei ganz vielen Leuten aus der Branche gibt es authentisches Interesse für den Globalen Süden. Ich bin also sicher niemand, der hier eine große Verschwörung wittert oder irgendwelche Vorwürfe von wegen "Lügenpresse" befeuern will. Ich glaube auch nicht, dass jemand diese Themen intentional in den Hintergrund rückt, eher, dass es eingefahrene Automatismen sind, die hier reproduziert werden. Eine Art Teufelskreis: Bestimmte Themen, Regionen und Personen sind so etabliert, dass darüber immer berichtet wird, wenn es größere Neuigkeiten gibt. Aber es kann sehr schwierig sein, daneben noch andere und neue Themen in den Diskurs einzuspeisen.

Im öffentlichen Diskurs sieht man auch häufig die gleichen Gesichter.

Ja, das spielt da mit rein. Alle kennen Karl Lauterbach. Der Wiedererkennungsfaktor ist ein ganz wichtiger Punkt dabei, wer in politische Talkshows eingeladen wird. Nehmen wir an, in Frank Plasbergs "Hart aber Fair" sollten ein paar Spitzenpolitiker aus Burkina Faso über die dortige Lage diskutieren – dann würden die allermeisten Zuschauer mit ihren Gesichtern gar nichts anfangen können. Man müsste schon sehr viel Vorarbeit leisten, um in diese Diskurse einzuführen. Das ist sicherlich auch eine Schwelle. Was bei der Auslandsberichterstattung dann noch erschwerend hinzukommt, ist, dass sich viele Medien keine oder nur wenige Auslandskorrespondenten leisten können und häufig auf das Material von Agenturen zurückgreifen müssen.

Bei Kontext haben wir als Regionalzeitung mitunter Schwierigkeiten, das Geschehen in Baden-Württemberg zu überblicken, geschweige denn abzubilden.

Genau dazu ein pointiertes Beispiel, in meiner Studie habe ich auch Korrespondenten-Netzwerke ausgewertet. Für das ARD-Studio in Nairobi gibt es zwei Korrespondenten und die sind für 38 afrikanische Staaten verantwortlich mit 870 Millionen Einwohnern. Im Fernsehstudio in Prag sitzen auch zwei ARD-Korrespondenten, und die haben als Gebiet Tschechien und die Slowakei mit 16 Millionen Einwohnern. Das zeigt die Relationen – und gibt natürlich auch ein Stück weit vor, welche Regionen wie stark abgebildet werden.

Der Kollege Emran Feroz, der regelmäßig über Afghanistan berichtet und regionale Dialekte beherrscht, beklagt, dass die hiesige Auslandsberichterstattung oft vorurteilsbehaftet sei. Sehen Sie das auch so?

Meine Forschung arbeitet quantitativ, und wie gesagt: Ich sehe durchaus auch Positiv-Beispiele. Aber vom subjektiven Eindruck her muss ich sagen, dass zum Beispiel über Afrika manchmal berichtet wird, als ob es sich um ein einheitliches Land handeln würde und nicht um einen Kontinent, der aus über 50 Staaten besteht. Da erscheint mir das Bild doch etwas einseitig und von Stereotypen geprägt.

Haben Sie gerade noch andere Projekte?

Ich habe auch mal untersucht, wie der Zyklon Nargis wahrgenommen wurde. Ich vermute, dass Sie wahrscheinlich noch nicht von ihm gehört haben.

Nein, sagt mir tatsächlich nichts.

Daran arbeite ich momentan im Hintergrund: Welche Katastrophen bleiben im kollektiven Gedächtnis präsent? Und was sich schon jetzt feststellen lässt: Es hängt nicht nur von den Opferzahlen ab. Sondern erst einmal damit zusammen, wo etwas passiert ist, mit welchen Bildern davon berichtet wurde und wer betroffen ist. Der Zyklon Nargis hat sich 2008 im Golf von Bengalen gebildet und vor allem Myanmar verwüstet. Es gab 140.000 Tote. Aber das ist komplett aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Es hat überhaupt keine Präsenz mehr bei uns. Anders sieht das aus, wenn beliebte Reiseziele der Deutschen betroffen sind, etwa Bali.

Haben Sie Erkenntnisse, wie es die Wahrscheinlichkeit einer Berichterstattung beeinflusst, wenn unter den Opfern auch Deutsche waren?

Ja, das ist ein sehr massiver Faktor. Und durchaus zynisch. Aber auch hier ist Ausland nicht gleich Ausland. In der "Süddeutschen Zeitung" hat Arne Perras 2017 einen Kommentar zum Thema verfasst, er wurde auch auf Seite 4 abgedruckt. Da schreibt er: "Existenzielles Leid per se reicht nicht, um konsequentes Interesse auszulösen." In Texas hatte Hurrikan Harvey damals etwa 100 Todesopfer gefordert – das lief überall. Zeitgleich haben Fluten in Bangladesch, Indien, Nepal und Pakistan, von denen über 45 Millionen Menschen betroffen waren, über 2.100 Tote verursacht. Aber das war kaum ein Thema. Perras kommentierte: "Wenn mediale Aufmerksamkeit auch ein Gradmesser für Werte einer Gesellschaft ist, muss sich Europa einige Sorgen machen."


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2 Kommentare verfügbar

  • Woody
    am 24.01.2022
    Antworten
    Ohne der Analyse widersprechen zu wollen, siehts bei uns ,wenigstens bei den öffentl.rechtlichen, noch ganz gut aus. In Italien, Spanien und am schlimmsten in Griechenland, gibts nur innerpolitische Themen, darunter ganz viel Banales. Ich weilte im vergangenen September zur Bundestagswahl in…
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