"Miststück" hat Pintér 2010 geschrieben, als Viktor Orbán erneut zum Ministerpräsidenten Ungarns gewählt worden war und das Land umzubauen begann. Neue rechtsextreme Gruppen attackierten von Roma bewohnte Dörfer. Diese Parteien seien inzwischen verboten, erklärt Bagossy: "Orbán macht das jetzt selbst: sehr raffiniert." Pintér klagt aber nicht an. Er will die Motive sichtbar machen, warum Menschen so handeln. Das Stück ist ein Wechselbad der Gefühle. Die Zuschauer:innen müssen häufig lachen. Doch dann bleibt ihnen das Lachen im Hals stecken.
Wie inszeniert man ein solches Schauspiel, wenn man das Original kennt? Bagossy sagt, er habe kein Stück über Ungarn aufführen wollen, sondern eines für das hiesige Publikum. Die ungarische Volksmusik hat er weggelassen und stattdessen die Reibetrommel eingeführt: Alle gehen in die Kirche, außer einem. Er glaubt nicht an Gott. Titelfigur Roszi holt ihm einen runter. Sie reibt an dem Stab, der in dem Resonanzkörper steckt, und erzeugt damit quietschende, brummende Geräusche. Von nun an denken die Zuschauer:innen bei der Reibetrommel immer nur an das eine.
"Miststück" sei für das Ensemble der Tri-Bühne wie geschaffen, sagt Bagossy. Damit meint er alle, vom Dramaturgen bis zum technischen Leiter: Sie alle sollen sich mit dem Theater identifizieren. Im Gespräch, einige Tage nach der Premiere, wirkt der Regisseur sichtlich gelöst. Mit der Premiere ist er in Stuttgart angekommen. Ein halbes Jahr, bevor er das Theater übernehmen wird.
Operneinakter aus der Fabriketage
Beim diesjährigen SETT und gleich am Eröffnungswochenende inszeniert auch ein Schüler Bagossys, Sándor Dániel Máté. Máté war dabei, als Studierende im September 2020 die traditionsreiche Film- und Theaterhochschule SZFE besetzten, die Orbán an eine von Parteigängern kontrollierte Stiftung übertragen hatte. Bagossy, der die Theaterabteilung geleitet hatte, war wie die Mehrzahl der Dozent:innen zurückgetreten. An der Free SZFE unterrichteten sie ohne Honorar weiter, konnten aber keine Diplome vergeben. Fünf europäische Hochschulen sprangen in die Bresche, darunter das Mozarteum in Salzburg, wo Máté im vergangenen Jahr seinen Abschluss gemacht hat.
Der Operneinakter "Gianni Schicchi" von Giacomo Puccini den Maté auch in Stuttgart beim SETT zeigt, ist sein erstes freies Projekt. Ein Film, für dessen Produktion er in Budapest eine Fabriketage gemietet hatte, zu den Nachbarn gehörten Techno-Clubs, Heavy-Metal-Bands, ein chinesisches Lebensmittellager und ein Möbelrestaurator, der für das Bühnenbild einige Stücke zur Verfügung stellte. Ein komplettes Orchester spielte, Opernsänger:innen sangen, während Schauspieler:innen die Handlung übernahmen und synchron die Lippen bewegten. Zwei Kameramänner schwirrten ständig um sie herum, um die Aufnahmen draußen simultan auf die Fassade zu projizieren.
Ein enormer Aufwand, den Máté finanziert hat mit Mitteln aus einem Wettbewerb der Partei Magyar Kétfarkú Kutya Párt – zu deutsch: Ungarische Partei des zweischwänzigen Hundes. Eine Satirepartei, ähnlich wie "Die Partei" in Deutschland, die mit parodistischen Mitteln auf Orbáns Politik reagiert. Bei der letzten Wahl kam sie auf vier Prozent, von den Wahlkampfgeldern schrieb sie den Wettbewerb aus, den Máté gewann.
Und trotzdem: Alle Rollen doppelt, Sänger:innen und Schauspieler:innen; die Live-Aufführung nach draußen projiziert – warum diese Umstände? Máté hatte schon in der Corona-Zeit aus seiner Wohnung Theater gestreamt und Gefallen daran gefunden. Er hat Theater studiert, ist aber auch ein Filmfan. In "Gianni Schicchi" finden sich Anspielungen auf Stanley Kubrick und Rainer Werner Fassbinder. Als eine Frau beim Publikumsgespräch sagt, es habe sie an Fellini erinnert, fühlt er sich sichtbar geschmeichelt.
Die freie Szene lässt sich nicht unterkriegen
Statt wie bei Filmdrehs jede Szene mehrfach einzeln aufzunehmen, ist hier alles in einem Zug entstanden und live am Laptop geschnitten. Die Handlung, die dem Rhythmus der Musik folgt, gewinnt aufgrund der vielen Blickwechsel enorm an Tempo. "Gianni Schicchi" ist eine Komödie um einen Erbschaftsstreit. Doch so verkommen die Familie auch ist, es ist vor allem unterhaltsam. Dies scheint die verbliebene freie Szene in Ungarn zu charakterisieren, die entschlossen ist, sich nicht unterkriegen zu lassen.
Orbán pumpe viel Geld in pompöse Filmproduktionen in Game-of-Thrones-Ästhetik, sagt Máté. Er weiß nie, wie lange er sein Ensemble noch zusammenhalten kann: Der eine wandert aus, der andere wechselt die Seiten, wie ein Freund, der sich für einen solchen Historienschinken hat kaufen lassen. Auch die meisten Theater hat Orbán unter Kontrolle. Schüler, die da hingehen müssen, so Bagossy, seien für das Theater für immer verloren. Doch immerhin gibt es noch Leute wie Pintér. Er hat eine eigene Spielstätte, ist unabhängig, Orbán kann ihm nichts anhaben. "Wenn er ein Geld-Problem hat, schickt er einen Spendenaufruf", so Bagossy. "Und wenn er sagt, er braucht 500.000 Forint" – das sind 1300 Euro – "kriegt er das Zehnfache."
So intensiv und wichtig die Ungarn-Connection ist, gerade beim SETT wird deutlich, wie viel mehr Verbindungen die Tri-Bühne pflegt. Mit der ersten Auflage des Festivals 1993 erweiterte sich die Perspektive auf ganz Europa. Und dem Namen zum Trotz ging das SETT 2003 noch einen Schritt weiter nach Afrika. Henning Mankells Teatro Avenida aus Maputo, Mosambik, wurde nun zum zweiten langjährigen Partner.
Abschiedsvorstellung für Tri-Bühne-Gründerin
Mit dem diesjährigen SETT gibt Edith Koerber auch ihre Abschiedsvorstellung. Alte Weggefährten sind wieder dabei, aber auch Debütant:innen wie die knapp 25-jährige Mu Wang: Im chinesischen Nanjing geboren, studiert an der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg, lädt sie nun zu ihrer eigenen Totenfeier ein. Von der ebenso jungen italienischen Autorin Letizia Russo stehen gleich zwei Stücke auf dem Programm. Der gebürtige Chilene Alejandro Quintana, der in der Tri-Bühne schon einige Stücken inszeniert hat und jetzt in Mecklenburg-Vorpommern sein eigenes Theater leitet, kommt am 23. April mit einem Stück über eine Parkbank.
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