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Stuttgarter Kabelattentat 1933

Widersprüchliches Erinnern

Stuttgarter Kabelattentat 1933: Widersprüchliches Erinnern
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Vor 90 Jahren stoppten vier junge Kommunisten mit Hilfe eines Beils die Radio-Übertragung einer Hitler-Rede in Stuttgart. Ihre Namen kennt heute kaum jemand. Der Journalist Rolf Schlenker hat ein Buch über das "Kabelattentat" geschrieben, das an dessen Jahrestag im Theaterhaus vorgestellt wird.

Für Bundeskanzler Helmut Kohl, CDU, war die Sache klar: Der deutsche Widerstand gegen Hitler bestand aus der Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg und aus der Weißen Rose. Das schrieb er 1987 in einem Brief an den Diplomaten Hartmut Schulze-Boysen, den Bruder von Harro Schulze-Boysen. Letzterer hatte ab Mitte der 1930er-Jahre ein linkes Netzwerk mit aufgebaut, von der Gestapo "Rote Kapelle" genannt. Für Kohl gehörte dieses allerdings nicht zum erlauchten Kreis. Heute gelten Schulze-Boysen und seine Gruppe, nachdem sie lange nur als Sowjetagenten betrachtet worden waren, als "eines der wichtigsten Widerstandsnetzwerke im Dritten Reich", schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung.

Dass Kohls Urteil mit der Realität wenig zu tun hat, war schon in den Achtzigern klar. Gerade damals wurde intensiv zum Widerstand aus unterschiedlichen Milieus geforscht. Besonders zu dem aus der Arbeiterbewegung, innerhalb der wiederum die Kommunisten der KPD die aktivsten waren – und die mit dem höchsten Blutzoll. 150.000 von ihnen kamen zwischen 1933 und 1945 unterschiedlich lange in Haft, 25.000 bis 30.000 sollen ermordet worden oder an Haftfolgen gestorben sein. Allein in Stuttgart förderten in der ersten Achtzigerhälfte die Recherchen rund um die Ausstellungsreihe "Stuttgart im Dritten Reich" vieles zutage.

Doch was das Wissen, das Bewusstsein in großen Teilen der Bevölkerung angeht, hatte Kohl vermutlich recht und sein Diktum gilt teils heute noch. Das hat viel mit dem Kalten Krieg und mit der unterschiedlichen Entwicklung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten zu tun. Während in Westdeutschland vor allem der militärische und bürgerliche Widerstand überbetont wurden, wurde in der DDR, jenseits des Eisernen Vorhangs, in erster Linie an den Widerstand der KPD erinnert – und der ist auch Teil des eigenen kommunistischen Gründungsmythos.

Das getrennte Erinnern trieb mitunter seltsame Blüten, wie sich etwa bei der Stuttgarter Kommunistin Lilo Herrmann zeigte: "Während sie in der Bundesrepublik, wo in erster Linie die Opfer des 20. Juli 1944 um Stauffenberg geehrt wurden, als Kommunistin mehr oder weniger totgeschwiegen wurde, stilisierte man sie in der DDR mit mythenhafter Ausschmückung ihres Leidenswegs zur ‚Ikone’ des antifaschistischen Widerstands", schreibt Jörg Kurz von der Stolperstein-Initiative Stuttgart-Nord in einer biographischen Notiz zu Herrmann. Längst gibt es auch in Stuttgart einen Gedenkstein für Lilo Herrmann, ein linkes Zentrum im Stadtteil Heslach hat sich nach ihr benannt. Doch als Ende der 1980er der Gedenkstein aufgestellt wurde, stritten sich in Stuttgart die Historiker um Herrmanns Rolle. So wie es analog auf Bundesebene 1994 zu scharfer Kritik und Empörung bei DDR-Opferverbänden führte, dass in die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin nun auch Kommunisten aufgenommen wurden.

Ausgeschmückte Legenden, vergessene Täter

Kein Totschweigen, aber ein sehr selektives, verzerrtes und widersprüchliches Erinnern zeigt der Umgang mit einer Widerstandshandlung in Stuttgart: Dem Kabelattentat vom 15. Februar 1933. An diesem Tag hält Adolf Hitler in der Stadthalle eine im Rundfunk übertragene Rede, es ist sein Wahlkampfauftakt für die Reichstagswahlen am 5. März. Doch nach 55 Minuten ist Stille an den Radios, denn vier junge Kommunisten haben das Übertragungskabel mit einem Beil gekappt. Vielleicht eine nur symbolische, dennoch mutige Tat.

Die Art, wie nach dem Krieg daran erinnert wurde, wirkt wie ein Versuch, die politische Herkunft der Akteure so weit wie möglich auszublenden: Das Kabelattentat wurde gewissermaßen kollektiviert und mit Legenden umkränzt. So sei die Aktion ein Beleg dafür, dass Stuttgart im Nationalsozialismus eine liberalere, weniger gleichgeschaltete Stadt war, ein Hort widerständigen Handelns gegen das totalitäre Regime – ein Bild, das auch der ehemalige Stadtarchivar Paul Sauer gelegentlich in Veröffentlichungen malte. Hitler sei hier weniger beliebt gewesen, und aus Verärgerung über die Sabotage vom 15. Februar habe er die Stadt auch in der Folge nie mehr besucht. Oder er habe zumindest nie wieder eine Rede in Stuttgart gehalten, wie es etwa Matthäus Eisenhofer, Mitbegründer des "Süddeutschen Rundfunks" (SDR), in seinen 1970 erschienenen Erinnerungen behauptet. Doch das alles sind Legenden. Stuttgart war eine recht durchschnittliche Stadt in der NS-Zeit, die Gleichschaltung schien hier eher noch reibungsloser und geräuschloser funktioniert zu haben als anderswo. Und Hitler war nach dem Kabelattentat noch mehrmals in der Stadt, die er seit der Frühzeit der NSDAP sehr schätzte, und hielt hier auch öffentliche Reden.

Andererseits bleiben die Attentäter nach dem Krieg fast vergessen. Wer kennt schon Eduard Weinzierl, Wilhelm Bräuninger, Alfred Däuble aus Stuttgart und Hermann Medinger aus Stetten im Remstal, die vier, die die Tat ausführten. Oder ihren Ideengeber Theodor Decker, kommunistischer Gewerkschafter und Betriebsratsvorsitzender im Telegrafenbauamt, der durch seine Tätigkeit genau wusste, an welchen Stellen das Kabel oberirdisch verlief. Es gibt keinen Ort, der an sie in Zusammenhang mit dem Attentat erinnert. Für Decker, der wegen seine KPD-Mitgliedschaft von den Nazis verhaftet wurde und 1940 im KZ Mauthausen ums Leben kam (ob er hingerichtet wurde oder an den Folgen der Haft starb, ist unbekannt), gibt es immerhin einen Stolperstein in der Schönbühlstraße im Stuttgarter Osten.

Mehr als zehn Jahre Recherche

Warum blieben diese Namen im Stadtgedächtnis weitgehend unbekannt? Im Gegensatz zu den ausgeschmückten Legenden? "Vielleicht, weil es Kommunisten waren", mutmaßt Rolf Schlenker, "und es im beginnenden Kalten Krieg nicht opportun war, Linke zu ehren." Schlenker, Sachbuchautor, Fernseh- und Wissenschaftsjournalist, hat den Kabel-Attentätern vor zwei Jahren mit seinem Buch "Ein Beil gegen Hitler" immerhin literarisch ein Denkmal gesetzt (Kontext berichtete). Ihn faszinierte die Geschichte schon lange. "Das Kabelattentat war die erste und für lange Zeit letzte nennenswerte Widerstandsaktion gegen Hitler", sagt er, "im Grunde bis zu dem Attentat am 9. November 1939 durch Georg Elser." Mehr als zehn Jahre recherchierte er. Und weil die Quellenlage teilweise so schlecht war, wurde es nicht wie geplant ein Sachbuch, sondern ein "Tatsachenroman" – dort fiktiv ergänzt, wo sich keine Dokumente finden ließen.

Weil die Veröffentlichung Anfang 2020 kurz vor den ersten Corona-Lockdown fiel, eine geplante Buchpräsentation dann in den dritten, wird der Band erst jetzt der Öffentlichkeit vorgestellt – am 90. Jahrestag des Kabelattentats, dem 15. Februar, im Stuttgarter Theaterhaus. Neben einer Lesung von Buchpassagen wird es in einem Podiumsgespräch auch um die historische Einordnung gehen.

Schlenkers vor zwei Jahren geäußerte Hoffnung, dass sich die Stadt Stuttgart zu diesem Jahrestag um ein angemesseneres Erinnern bemüht, hat sich derweil nicht erfüllt. Im Rahmen des Stuttgarter Bürgerhaushalts 2023 wurde dafür immerhin ein Vorschlag eingereicht, der ab dem 16. Februar bewertet werden kann.

Doch wer sich auf die Spuren der Attentäter vor Ort begeben will, kann dies am 15. Februar auch so  tun: Am Nachmittag bieten Schlenker, Ebbe Kögel und Gudrun Greth einen Erinnerungsrundgang zum Jahrestag durch den Stuttgarter Osten an, vom Parkplatz des Zeppelingymnasiums bis zur Werderstraße, wo das Kabel durchtrennt wurde. Kögel, Lokalhistoriker und Aktivist (Allmende Stetten), hat einen der Attentäter, Alfred Däuble, noch persönlich kennengelernt und viel zu einem anderen, Hermann Medinger, geforscht. Die bei den Stolpersteinen und im Hotel-Silber-Verein engagierte Gudrun Greth wiederum forscht und schreibt seit Jahren zum Arbeiterwiderstand im Stuttgarter Osten – bei dem Rundgang gibt es also noch ein paar weitere vergessene Namen zu entdecken.
 

Transparenzhinweis: Kontext-Autor Oliver Stenzel sitzt bei der Veranstaltung im Theaterhaus mit auf dem Podium.
 

Info:

Auf den Spuren des "Kabelattentats" – Erinnerungsrundgang zum 90. Jahrestag; 15. Februar, 14.30 Uhr; mit Gudrun Greth, Rolf Schlenker und Ebbe Kögel; Treffpunkt am Parkplatz des Zeppelingymnasiums (Neckarstraße 149, U-Bahn Haltestelle Stöckach). Die Teilnahme ist kostenlos, um Anmeldung unter anmeldung--nospam@hotel-silber.de wird gebeten.

"1933 - Ein Beil gegen Hitler" – Lesung mit Rolf Schlenker. 15. Februar, 19:30 Uhr,  Theaterhaus, Stuttgart-Feuerbach. Tickets (10 Euro) gibt es hier.

Rolf Schlenker: 1933 – Ein Beil gegen Hitler, Silberburg-Verlag, 128 Seiten, 15,99 Euro


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2 Kommentare verfügbar

  • Philipp Horn
    am 08.02.2023
    Antworten
    Das Buch ist unbedingt lesenswert .
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