Der zweite Versuch ist erfolgreich gewesen. Medinger und Weinzierl haben sich mit ihren Co-Saboteuren Wilhelm Bräuninger, Hilfsarbeiter aus Stuttgart-Zuffenhausen, und Alfred Däuble, Zimmermann aus Stuttgart-Münster, erst in einem Restaurant getroffen, ehe sie gemeinsam zur Werderstraße 14 gehen, wo das Kabel auch oberirdisch verläuft. Auch hier stehen zwei Posten, sie werden von Weinzierl und Bräuninger abgelenkt, während Däuble auf Medingers Schultern steigt und das Kabel durchhaut. Es ist 21:17 Uhr.
Nur acht Minuten später endet die Rede Hitlers, der wie viele seiner Zuhörer von der Aktion gar nichts mitbekommt und sich auch später nicht dazu äußert. Doch für die lokalen NS-Größen ist es eine furchtbare Blamage, und auch Goebbels ist empört. Er lässt, wie er in sein Tagebuch schreibt, noch am Abend "die verantwortlichen Herren vom Rundfunk antanzen und geige ihnen die Meinung, dass ihnen Hören und sehen vergeht." Am nächsten Morgen kursiert schon ein Flugblatt der KPD: "Wir Antifaschisten haben Hitler das Wort entzogen!", heißt es darauf.
Widersprüchliche Erinnerung
Vier junge Kommunisten, die Hitler zum Schweigen bringen – "das Kabelattentat war die erste und für lange Zeit letzte nennenswerte Widerstandsaktion gegen Hitler", sagt Rolf Schlenker, "im Grunde bis zu dem Attentat am 9. November 1939 durch Georg Elser". Dennoch sei es in Stuttgart immer eine kleine Geschichte gewesen. Deswegen hat Schlenker, Sachbuchautor, Fernseh- und Wissenschaftsjournalist, ein Buch über die Ereignisse und Beteiligten geschrieben: "Ein Beil gegen Hitler."
Nun ist es nicht so, dass das Kabelattentat ein schwarzer Fleck im Stadtgedächtnis ist. Aber die Erinnerung daran ist bis heute seltsam widersprüchlich. Einerseits wird die Aktion mitunter mythisch überhöht, als Ausdruck eines vermeintlich kollektiven Charakters: Das Attentat sei Beleg dafür, dass Stuttgart im Nationalsozialismus eine liberalere, widerständigere, weniger gleichgeschaltete Stadt gewesen, Hitler hier weniger beliebt gewesen sei – und der Führer habe nach der Sabotage vom 15. Februar aus Verärgerung die Stadt auch nie mehr besucht. Alles Legenden. Stuttgart war eine recht durchschnittliche Stadt in der NS-Zeit, die Gleichschaltung schien hier eher noch reibungsloser und geräuschloser funktioniert zu haben als anderswo. Und Hitler war danach noch mehrmals in der Stadt, die er seit der Frühzeit der NSDAP sehr schätzte.
Andererseits bleiben die vier Attentäter und ihre Hintermänner nach dem Krieg weitgehend vergessen, ihre Namen sind unbekannt, es gibt keinen Ort, der an sie erinnert. "Vielleicht, weil es Kommunisten waren", mutmaßt Schlenker, "und es im beginnenden Kalten Krieg nicht opportun war, Linke zu ehren." So wie überhaupt der kommunistische Widerstand gegen die Nazis im Westen während der Zeit des Kalten Krieges fast totgeschwiegen wurde. Und nach 1989 blieb es weitgehend dabei – die Erinnerungstraditionen fehlten, es konnte an wenig angeknüpft werden.
Wegen Quellenmangels wurde es ein Roman
Schlenker hat den Beteiligten nun zumindest literarisch ein kleines Denkmal gesetzt. Über zehn Jahre arbeitete er an dem Buch, die Recherchen zogen sich lange hin. "Ein Aha-Effekt war das Buch 'Endstation Mauthausen' von Elmar Blessing, der den Leidensweg von Theodor Decker recherchiert hatte." Decker war der Ideengeber des Attentats, kommunistischer Gewerkschafter und Betriebsratsvorsitzender im Telegrafenbauamt. Durch seine Tätigkeit wusste er genau, an welchen Stellen das Übertragungskabel oberirdisch verlief. Blessings Buch brachte Schlenker auf die Idee, die beiden Geschichten zu kombinieren – die teils sehr gut dokumentierte von Decker und die der vier Attentäter, über die nur sehr wenig bekannt ist.
Was Schlenker an dem Thema schon früh faszinierte, war die Frage der Motivation, der Zivilcourage: "Durch diese Geschichte wird man sofort hineingezogen in eine Diskussion", so der Autor. "Wie hätte ich mich in dieser Situation verhalten? Hier eine politisch-moralische Überzeugung, für die man einzutreten bereit war, dort eine Familie, für die man Verantwortung trug."
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Fabricius
am 27.02.2021