KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Heimkinder aus der Ukraine

Sechsundsechzig kleine Leben

Heimkinder aus der Ukraine: Sechsundsechzig kleine Leben
|

 Fotos: Wolfgang Schmidt 

|

Datum:

Vor beinahe einem Jahr sind 66 Heimkinder vor dem Krieg aus der Ukraine evakuiert und nach Böblingen gebracht worden. Der Fotograf Wolfgang Schmidt hat sie begleitet.

Wenn Wolfgang Schmidt von den Heimkindern aus der Ukraine erzählt, bekommt er immer noch Gänsehaut. Als er sie das erste Mal sah, standen sie auf einer Bühne in der Böblinger Wildermuth-Kaserne und sangen zum ukrainischen Kindertag Lieder aus ihrer Heimat. "Mit Gesichtsausdrücken, die hätten zu Siebzigjährigen gepasst", sagt Schmidt, der Fotograf, der die Kinder von da an mit der Kamera begleitet hat. "Ich hab schon viel gesehen und bin normalerweise ein harter Hund. Aber das ging mir an die Nieren."

Insgesamt 77 Personen, darunter Kinder, Jugendliche und Betreuerinnen aus zwei Kinderheimen nahe Kiew, leben seit Beginn des Krieges im Kreis Böblingen. Damals, beinahe genau ein Jahr her, wurden alle Kinderheime in der Ukraine evakuiert. Der Notruf, einen Teil der Heimbewohner nach Baden-Württemberg zu holen, kam an einem Freitag von einem Ukrainer aus dem Kreis Böblingen. Das Landratsamt schaltete sich ein, das Waldhaus in Hildrizhausen, eine sozialpädagogische Einrichtungen der Jugendhilfe, stellte zwei Kollegen ab, die bereits am Sonntagnachmittag mit Bussen nach Rumänien starteten, die Kinder dort einsammelten und über Ungarn und Österreich nach Böblingen brachten. Bei Vanessa Frey klingelte zu diesem Zeitpunkt das Telefon: "Mach dich auf was gefasst", sagte ihr Chef.

"Es war der achte März, ein Dienstag, als die Kinder hier ankamen", erinnert sich Frey, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit beim Waldhaus, sie wird diese "Mammutaktion" nicht so schnell vergessen. Die Polizeihochschüler in der alten Böblinger Kaserne machten Platz für die Kinder und Jugendlichen zwischen 4 und 17 Jahren. "Das war ein echter Glücksfall", erzählt Frey, Glück im Unglück, denn "es war zum dem Zeitpunkt mit dem Krieg eh alles schon so tragisch und dann kommen diese schutzlosen Lebewesen hier an."

Kleine Menschen, die die Sprache nicht verstanden, "und ich konnte ja auch kein Ukrainisch", erzählt Fotograf Schmidt. Manchmal aber genügten wohl Emotionen und Gesten zur Kommunikation, sagt er. "Ich bin durch die Hallen gelaufen und hatte immer eine kleine Hand an mir, die mir etwas zeigen wollte."

Es sei ein mords Gewusel gewesen, erzählt auch Vanessa Frey. "Ohne Ehrenamtliche hätten wir das nicht geschafft. Schon allein alle Kinder ins Bett zu bringen, ist eine echte Aufgabe." Weil kleine Menschen ganz andere Bedürfnisse haben als große, haben die Jugendarbeiter:innen die Erstversorgung über Spenden organisiert. Kleidung, Spiele, vor allem Kinderstühle, denn die Stühle in der Polizeihochschule seien alle für Erwachsenen gewesen, sagt Frey, "das sind die Kleinen runtergerutscht". Die Spendenbereitschaft der Böblinger:innen und darüber hinaus sei überbordend gewesen, "eine tolle Erfahrung". Irgendwann habe sogar jemand angerufen, der Stofftiere aus der Nachbarschaft gesammelt habe – eine ganze Garage voll.

Seit Sommer vergangenes Jahr sind die Kinder in Weil der Stadt untergebracht und werden dort betreut. Hans Artschwager, Geschäftsführer des Waldhauses, hat dafür 14 neue Mitarbeitende eingestellt, teils selbst aus der Ukraine Geflüchtete mit entsprechender Ausbildung im Betreuungsbereich, Leute, die die Sprache können, den Tagesablauf begleiten, es gibt eine Art Kindergarten und einen kleinen Schulbetrieb. An den Abenden und Wochenenden kommen Ehrenamtliche zur Unterstützung. Die Zukunftsaussichten der Kinder und jungen Menschen? Artschwager nennt sie eine "Herausforderung". "Wir versuchen für jedes einzelne Kind zu kucken, was es braucht", sagt er. Aber allein Plätze an öffentlichen Schulen zu finden, sei momentan nicht einfach.

Aus den Bildern, die Wolfgang Schmidt über die Zeit gemacht hat, ist eine eindrucksvolle und emotionale Fotoserie geworden. Gemeinsam mit der Grafikerin Birgit Egenter und dem Texter Roy Bien hat er eine Wanderausstellung konzipiert und auf Reisen geschickt. Und weil sich seit deren Ankommen so viele Ehrenamtliche mit Herz und Hand für die Kinder einsetzen, ist diese Ausstellung auch ihnen gewidmet.

"Fremde. Freunde. Der lange Weg zurück ans Licht" heißt sie, Untertitel: "Eine Fotoausstellung – aus Wertschätzung für ehrenamtliches Engagement." Bis zum 27. Februar ist sie noch im Rathaus Hildrizhausen zu sehen, danach zieht sie ins Schloss nach Flehingen bei Karlsruhe, später wird sie in Gültstein und dann in Böblingen zu sehen sein.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!