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Alte Seegrasspinnerei

Bunte Insel im grauen Ozean

Alte Seegrasspinnerei: Bunte Insel im grauen Ozean
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Wo früher Seegras gesponnen wurde, wird heute gewerkelt, gespielt und geträumt. In der Alten Seegrasspinnerei in Nürtingen können Kinder und Jugendliche sich kreativ ausleben. Doch in der Kasse des Trägervereins herrscht zunehmend Ebbe.

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Ein grauer Tag Ende November. Zwischen den Gebäuden neben dem Nürtinger Bahnhof aber knallen die Farben: ziegelrote und senfgelbe Häuserfassaden, dazwischen bunte Farbkleckse von selbstgebastelten Kinderfiguren und Spielsachen. Die Alte Seegrasspinnerei ist ein Ort zum Wohlfühlen. Noch. Kunst, Kultur und Soziales treffen sich hier auf 5.600 Quadratmetern: Kinder- und Jugendwerkstatt, Schülerhort, Künstlerateliers, Yogaklassen, Tanzgruppen, psychosoziale Beratungen, Kulturkantine. Gepachtet vom Trägerverein Freies Kinderhaus (TVFK) wird ein Teil des Geländes vom Verein selbst genutzt, der andere weitervermietet. Einer der Grundsätze: "Den Menschen Raum für ihre Entwicklung zur Verfügung stellen", sagt Pit Lohse, Geschäftsführer des TVFK. Das klingt schön, doch auslaufende Förderprojekte erschweren die Finanzierung. Entmutigen lassen sich die Mitarbeiter:innen davon nicht.

Pit Lohse, ein gemächlicher Herr mit grauem Bart und runder Drahtbrille, führt gemeinsam mit der sich selbst als "Sozialplastikerin" bezeichnenden Julia Rieger den Verein. Die beiden – er Sozialpädagoge, sie studierte Bildhauerin – sind die Gründer des Kulturzentrums und verwalten den Trägerverein vom ehemaligen Kontorhaus aus. Aus dem ersten Stock des Gebäudes deutet Rieger, Jahrgang 1965, durch das Fenster Richtung Innenhof auf das gegenüberliegende Ziegelhaus: das ursprüngliche Kesselhaus, seit 1991 ist dort die Kinderkulturwerkstatt (KiKuWe) untergebracht. "Pit und ich haben früher Kultursommer mit Kinderaktionen in der Stadt veranstaltet. Immer öfter wurden wir gefragt, ob wir so etwas nicht ganzjährig anbieten könnten." Gesagt, getan. Großzügige Spenden machten das Ganze möglich.

"Mehr Autos als Kinder"

Beim Aus- und Umbau halfen im Rahmen von Arbeitsbeschäftigungsmaßnahmen arbeitslose Jugendliche, unterstützt vom Jobcenter. Über die Zeit vergrößerte sich das Zentrum, heute sind alle drei historisch erhaltenen Gebäude – das ehemalige Kontorhaus, das Kesselhaus und das Fabrikationsgebäude – vom TVFK gepachtet. "Uns war wichtig, den Charme der Gebäude zu retten", sagt Lohse.

Der Charme geht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Damals war auf dem Gelände die Schmid’sche Seegras- und Rosshaarspinnerei angesiedelt. Während der großen Depression in den 1920er Jahren ging das Unternehmen pleite und das Gelände wurde bis in die 70er Jahre zum Sitz der Möbelfirma Alex Linder. Nach deren Produktionsverlagerung nach Frickenhausen wurden viele der Gebäude auf dem Gelände in Nürtingen abgerissen. Stehen blieben nur die drei denkmalgeschützten. Der Denkmalschutz hinderte die Post als neuen Pächter daran, noch mehr niederzureißen und zu einem großen Paketzentrum umzubauen. Mit Überzeugungskraft und dem Versprechen, den Denkmalschutz zu pflegen, erhielten Lohse und Rieger schließlich das Nutzungs- und Umbaurecht für das Verwaltungsgebäude. Das war acht Jahre nach Eröffnung der Kinderkulturwerkstatt.

Die leuchtend rote Eingangstür führt ins Warme der KiKuWe. Hier wird gemalt, gebastelt, gewerkelt und gespielt. Es gibt einen Indoorspielplatz, einen Spiegelsaal mit Kletterwand, Sportmatten und ein verstimmtes Klavier, Kunstutensilien, eine Werkbank und alles Erdenkliche an Werkzeug. "In einer Welt mit zehn Mal mehr Autos als Kindern fehlt es an Freiräumen, wo sie unpädagogisiert spielen und handeln können", sagt der 66-jährige KiKuWe-Gründer Lohse. "Wir bieten hier eine Insel." Für jeweils zwei Euro Materialaufwand kann ein Kind hierherkommen und alles frei, ohne nachzufragen benutzen. Die wenigen Regeln sind einfach: Respektvoller Umgang mit den anderen Kindern und den Materialien steht ganz oben.

"Bildung in der reinsten Form"

Ein kleines Mädchen, etwa sieben Jahre alt, steckt den Kopf durch die Tür und hüpft sogleich durch die Hintertür hinaus auf die zwei, drei Meter schmale Grünfläche zu einem kleinen Bach hinter dem Haus. Über ein wacklig wirkendes Holzbrett balanciert sie gekonnt auf die andere Bachseite zu den hauseigenen Hühnern. Ganz schön gefährlich. "Wir sollten die Kinder nicht ständig in Watte packen", sagt Lohse.

Diese Denkweise wird auch in der Werkstatt vertreten: Durch Experimentieren sollen die Kinder möglichst vieles selbst erfahren. "Sie erkennen, dass der Mensch schwach ist und es deshalb sinnvoll ist, einen Akkuschrauber zu verwenden, oder dass der Mensch faul ist und das Bohren mit dem Akkubohrer viel einfacher ist", sagt Rieger. Sie führt eine aus Gips gegossene Hand vor: "Beim Gießen haben die Kinder das Konzept vom Positiv- und Negativabdruck kennengelernt, ohne dass es ihnen jemand gezeigt hat." Für die zwei Geschäftsführer ist das "Bildung in ihrer reinsten und höchsten Form".

Beim Sägen, Bohren und Löten entstehen unperfekte Kunstwerke, aber "die Produkte sind wirklich vom Kind gemacht", sagt Lohse. Trotzdem liege der Sinn nicht im produktorientierten Arbeiten. "Die Eltern sollen ihr Kind nachher nicht fragen, was es gebaut oder gebastelt hat, sondern ob es glücklich war", sagt Rieger. "Manche Kinder spielen nur, reden mit Fremden und Freunden, langweilen sich oder entwickeln Ideen. Das ist nicht weniger wert."

Um mehr Produktivität geht es ein Stockwerk darüber. Dort befindet sich seit 1994 der vom Verein geführte Schülerhort. "Die schönste Anerkennung ist, wenn ehemalige Hortkinder nach Jahren mit den eigenen Kindern wiederkommen und sagen: Das war eine geile Zeit", sagt Hortleiterin Christine Roos. Sie ist eine der 56 Angestellten des Trägervereins, zwölf davon arbeiten in Kitas außerhalb des Geländes der Seegrasspinnerei.

Von der Fabrikation zum Jugendzentrum

Die Kinder kommen aus den unterschiedlichsten umliegenden Schulen in den Hort, die ältesten sind 14 Jahre alt. "Es ist fast wie in einer Familie: Die Großen helfen den Kleinen." Parallel in Zweierreihen aufgestellte Tische erinnern an ein Klassenzimmer. Hier sind auch die Regeln ähnlich: leise sein und Hausaufgaben machen.

Um auch für Jugendliche etwas zu schaffen, pachtete der Verein schließlich auch das dritte Gebäude, die ursprüngliche Fabrikation, welches bis 2004 als Moschee genutzt wurde. "Beim Umbau des Kontorgebäudes mit den Jugendlichen vom Jobcenter haben wir gemerkt, dass diese jungen Menschen keinen Job haben, weil sie oft nicht wissen, wo sie hinwollen", sagt Rieger. "Um das herauszufinden, müssen wir den Menschen Entwicklungsflächen bieten." So entstand die Jugendwerkstatt.

Wiederum wurden für die Renovierung junge arbeitslose Menschen einberufen. Der Umbau dauerte sechs Jahre und war in seiner Art ein Vorzeigemodell: Verschiedene Lehmtechniken – von marokkanisch bis japanisch – wurden im Sinne einer energetischen Sanierung angewandt und das denkmalgeschützte Gebäude konnte so nach außen in seiner Form erhalten und nach innen gut gedämmt werden. "Viele Firmen haben mitgemacht und es wurden sogar Handwerkschulungen hier veranstaltet", erzählt die gelernte Bildhauerin. "Die Jugendlichen waren die Fachleute, was natürlich eine hohe Anerkennung bedeutete."

Neben den von der Jugendwerkstatt genutzten Räumen werden etwa 60 Prozent des Gebäudes vermietet, vor allem an Institutionen mit ökologischem oder therapeutischem Charakter. So findet man hier das Wahlkreisbüro der Grünen oder eine psychosoziale Beratung für Geflüchtete.

Der Schein trügt, das Geld fehlt

Der zweite Teil der Jugendwerkstatt – die Werkstatt an sich – befindet sich im Postlager hinter dem Verwaltungsgebäude. Zwei junge schwarze Männer schleifen konzentriert eine aus Holzresten zusammengebaute Tischplatte, bis die glatte Oberfläche glänzt. "In die Jugendwerkstatt kommen Geflüchtete, die oft traumatisiert sind, Schulverweigerer, Menschen, die Sozialstunden leisten müssen, aber auch Jugendliche, die einfach Bock haben, etwas Künstlerisches zu schaffen", sagt Ralf Kuder, Leiter der Werkstatt.

Zum ersten Mal an diesem Tag liegt eine gewisse Schwermut in der Luft. Die Finanzierung der Seegrasspinnerei sei derzeit schwierig. "Die kommunalen Mittel sind zu knapp und für eine 80- oder 90-prozentige kommunale Finanzierung fehlt die gesellschaftliche Anerkennung", sagt Lohse. Das betrifft vor allem die Jugendwerkstatt: Von den jährlichen 1,5 Millionen Euro Vereinsbudget fließen knapp 23.000 aus öffentlicher Hand in die Jugendwerkstatt. Der weitaus größere Rest kommt in erster Linie über Projektförderungen, doch viele der Anträge scheitern. Wie letztens die Anschlussfinanzierung von einem Aktion-Mensch-Projekt, weshalb nun etwa 50.000 Euro im Jahr fehlen würden. "Wir wissen nicht, wie wir die Werkstatt nächstes Jahr finanzieren sollen." Wie viel Geld die Kommune 2023 für die Seegrasspinnerei vorsieht, ist derzeit noch unklar.

"Was braucht der Mensch?"

"Unsere Mitarbeiter haben in den letzten Jahren immer wieder auf Lohn verzichtet. Das zeigt, dass das Monetäre nicht als Schmerzensgeld gesehen wird", sagt Lohse. Ein weiterer Grund zur Sorge ist das nahende Ende des Pachtvertrags zwischen der Post und den privaten Besitzern des Geländes. "Was nach 2026 passiert, weiß niemand. Vielleicht können wir nicht hierbleiben", wirft Rieger ein.

Jungen Menschen werden in der Jugendwerkstatt neue Perspektiven geöffnet, wer Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hat, kann technische Fachbegriffe lernen. Werkstattleiter Kuder hebt einen augenscheinlich handelsüblichen Feuerlöscher auf den Tisch: Längs aufgeklappt, verwandelt sich der Löscher in einen Minigrill. "Die Jugendwerkstatt ist produktorientiert." Auch die Feuerschalen und die kleinen Bronzeskulpturen sind wahre Kunstwerke und jedes ein Unikat. Sowohl im Keramik-, im Holz- als auch im Metallbereich wird meist altes Material wiederverwertet.

Trotz finanzieller Schwierigkeiten ließen sich die Beteiligten die sichtliche Begeisterung für das Projekt Seegrasspinnerei bisher nicht nehmen. Sie halten an ihrer Philosophie fest. "Was braucht der Mensch?", wirft Lohse fragend in den Raum. Und gibt selbst eine Antwort: "Die Chance, an dieser Welt gestalterisch mitzuwirken."


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