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Klima-Protest in Lützerath

An der Abbruchkante

Klima-Protest in Lützerath: An der Abbruchkante
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 Fotos: Julian Rettig 

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Das Symbol Lützerath: Zehntausende Demonstrant:innen fuhren am vergangenen Wochenende ins rheinische Braunkohlerevier, vor Ort waren auch mehrere Busse aus Stuttgart. An Bord: Aktivist:innen aus ganz Baden-Württemberg. Und mit ihnen die Hoffnung, etwas verändern zu können.

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Um halb sieben Uhr morgens blinkt die Straße bunt. Polizeikontrolle. Der Bus hat an diesem Samstagmorgen gerade erst die Autobahnausfahrten bei Stuttgart-Vaihingen erreicht, das Stadtgebiet noch nicht einmal verlassen, da ist schon erstmal Schluss. Es ist noch keine zehn Minuten her, dass ein Aktivist namens Marius über die Lautsprecheranlage erklärt hat, wie man sich bei einer Polizeikontrolle verhalten sollte. "Außer euren Personalien müsst ihr nichts preisgeben", erklärt er.

Anlass der Rechtsbelehrung ist ein Hamburger Reisebus, der in der vorangegangen Woche zum Dorfspaziergang nach Lützerath aufgebrochen war und mehrere Stunden von der Polizei festgehalten wurde – mit Durchsuchungen im gesamten Fahrzeug. Das hat sich in den aktivistischen Netzwerken herumgesprochen. Doch soweit kommt es auf dem Vaihinger Standstreifen nicht. Die Polizei fragt nach der Passagierliste, die hat der Busfahrer nicht. Die Busse sind wild zusammengewürfelt mit Aktivist:innen aus Reutlingen, Tübingen, Herrenberg und Stuttgart. Dann darf die Fahrt weitergehen. Der Bus rollt durch drei Bundesländer ins rheinische Braunkohlerevier. Mehrere Stunden lang. Nach Lützerath.

Ein greifbares Thema mobilisiert von selbst

Lützerath ist schon lange nicht mehr nur ein Dorf. Der Weiler ist zum Symbol für die deutsche Klimapolitik, für deren Handeln und Nichthandeln geworden. Das unter ihm liegende Kohlenflöz im Tagebau Garzweiler II ist besonders dick. Jetzt, im Januar 2023, verfügen Bagger und Polizeisperren über die Klimabemühungen eines ganzen Landes. Aktivist:innen stellen sich dem in den Weg. Für sie entscheidet sich hier vieles.

In Lützerath entscheidet sich, ob das 1,5-Grad-Ziel mehr ist als ein leeres Bekenntnis zum Klimaschutz, mehr ist als Deals mit dem Energiekonzern RWE, einem der größten Klimasünder der Welt. Ob es nicht doch nur um das Durchboxen von Kapitalinteressen geht, ob sich ein Bundesland hier im Schwitzkasten eines Konzerns befindet. Dass die Kohle für die Aufrechterhaltung der Energieversorgung in Deutschland nicht notwendig ist, belegen Studien, erklären die Aktivisten Elgin, Dennis und Marius. Was sie besonders wütend macht: Dass zur Einhaltung des 1,5 Grad-Ziels weniger CO2 ausgestoßen werden darf, als dort unter der Erde ruht. Eine Mobilisierung, um genügend Menschen in die Busse zu bringen, gab es nicht: "Es ist endlich ein greifbares Thema. Das hilft und mobilisiert eigentlich von allein."

Heute geht es ihnen, wie so vielen, um die Existenzsicherung künftiger Generationen. Denn schon im Jahr 2022 lag die Erderhitzung bei 1,2 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter. Indes hält die Wissenschaft derzeit ein Szenario für am wahrscheinlichsten, bei dem sich die Erde bis 2100 zwischen drei bis fünf Grad erhitzt. Eine Katastrophe, in die man laut Elgin, Marius und Dennis sehenden Auges steuert.

Widerstand als Lebensaufgabe

Elisabeth Hoffmann-Heinen hat 45 Jahre in Venlo gelebt. Heute harrt sie im Regen in Lützerath aus, wuselt durch das Gedränge und verkauft Anstecker des gelbes Kreuzes, das unter Aktivist:innen den Tag X markiert. Seit Räumungsbeginn am Mittwoch, dem 11. Januar, ist es zum Zugehörigkeitssymbol geworden, überall zu sehen, es findet sich tausendfach an Hosen, Jacken und Mützen, an Zäunen, auf Äckern und in Fenstern. Hoffmann-Heinen stattet aus, sammelt so Geld für die Initiative "Alle Dörfer bleiben". Auch die kleine Gruppe aus Herrenberg stoppt bei ihr. Die 76-jährige engagiert sich seit 1984 gegen den Braunkohleabbau in ihrer Heimat – damals noch in einer Bewegung, die den schmucklosen Namen "Vereinsinitiative gegen den Tagebau West" trug. Die letzten Tage seien für sie "emotional stressig" gewesen, erzählt sie. Vergangene Woche habe sie deswegen nicht geschlafen, davor harrte sie im besetzten Lützerath aus.

Hoffmann-Heinen ist studierte Volkswirtin. Bis zu ihrer Pensionierung war sie Lehrerin am Berufskolleg in Grevenbroich. Sie hat ihr ganzes Leben im Braunkohlerevier verbracht. Zwischen bestehenden, ausufernden und gefluteten Tagebauen kämpfte sie für das Überlebensrecht der Dörfer. Und gegen den, wie sie es nennt, "Betrug an meiner Heimat". Über die Jahre saßen auch Auszubildende der RWE in ihren Klassenzimmern. Dass sie gegen den Tagebau Stimmung machte, war ein offenes Geheimnis. Irgendwann kam es dazu, dass Unbekannte ihr Auto beschmierten. "Wer dem Geld verfällt, verfällt auch RWE", sagt sie. Unterkriegen ließ sie sich nie. Heute sei ein Tag der Hoffnung, betont sie. Das hier eine "kritische Jugend" heranwächst, sei ein wichtiges Signal.

Gerettet und trotzdem verlassen

Keyenberg heißt nicht mehr Keyenberg. Sondern "Neu-Lützerath". Das Ortschild ist kunstvoll überklebt. Hier, wenige Kilometer nördlich von Lützerath, startet die Großdemonstration. Der Ort ist eigentlich totes Gewebe in der Peripherie der Wunde Garzweiler II. Dass es Keyenberg noch gibt, war weder vorhersehbar noch geplant. Dass hier noch Menschen leben, ist kaum zu spüren. Heute marschieren, je nach Quelle, zwischen 15.000 und 35.000 Demonstrant:innen durch die Straßen. Aus leerstehenden Gebäuden baumeln matschbeschmierte Doc Martens, kaum ein Haus hat noch Klingelschilder, kalter Wind peitscht durch offene Fenster in die verlassenen Räume. Das Schild Richtung Friedhof zeigt auch in Richtung der Abbruchkante des Tagebaus – weil die überall ist.

Die Verwaltung der Stadt Erkelenz, zu der Keyenberg gehört, bemisst die Einwohnerzahl der quasi aufgegebenen Siedlung am 31. Dezember 2022 mit 146 Personen, Tendenz sinkend. Von den 1970er bis Mitte der 2010er Jahre lebten hier stets zwischen 700 und 800 Menschen. Dann sollte der Ort dem Tagebau weichen. 2016 begann der Umsiedlungsprozess, die Neubauten für die Einwohner wurden nördlich von Erkelenz hingestellt, acht Autokilometer entfernt. Das neue Keyenberg hat heute 446 Einwohner. Dass das alte bestehen bleiben würde, wurde im Oktober 2022 klar, als Bund, Land und RWE sich auf den Kohleausstieg 2030 geeinigt hatten. Wie auch Kuckum, Berverath, Oberwesel und Unterwesel. Zum Entscheidungszeitpunkt waren allerdings bereits 85 Prozent der Ursprungsbevölkerung umgesiedelt oder weggezogen. Lützerath wird Garzweiler II noch weichen.

Blutige Nasen, Schläge auf den Kopf

Von Keyenberg zieht die Demonstration Richtung Lützerath. Und trifft dort auf die Polizei, die den Weiler schon vor einigen Tagen komplett abgesperrt hat. Weiter geht es zur provisorischen Bühne, wo musiziert und geredet wird. Von dort pilgern immer mehr Demonstrant:innen in Richtung Lützerath. Der Boden wird langsam unbegehbar. Beine versinken im Schlamm, eine Schranke, die an normalen Tagen den Zugang zur Abbruchkante einschränkt, ist schon lange hochgedrückt. Im Chaos fällt sie zurück in Richtung Menschenmenge und trifft zum Glück niemanden. Die Blaulichtfrequenz wird höher. Im Minutentakt brüllt Martinshorn über die einspurigen Feldwege. Von einem kleinen Erdwall, vielleicht einen Kilometer entfernt, sieht man, wie sich eine Kette von weiß-blau-folierten Kastenwägen um das abgeriegelte Dorf schnürt. Davor die Polizei, ihnen gegenüber die Aktivist:innen. Es gibt keinen koordinierten Kampfaufruf – Menschen schwappen in die Polizeiketten, jedes Mal werden sie zurückgedrängt.

Am Ende werden über 100 Verletzte gezählt. Aggression gab es wohl von allen Seiten. Zwischen 16 und 18 Uhr reist ein Großteil der Demonstrant:innen wieder ab. Im Bus gibt es endlich wieder Handyempfang. Danach mehren sich die Videos von Polizeibeamten, die "unmittelbaren Zwang" anwenden – Schlagstöcke, Tritte, Fäuste, Pfefferspray. Auch Wasserwerfer kamen zum Einsatz, doch wegen des starken Windes wehte das meiste Wasser bei den ersten Versuchen in Richtung Polizei zurück.

Die Videos zeigen auch Aktivist:innen, die mit erhobenen Händen zwischen den Ketten laufen, die von Einsatzkräften gestoßen werden, über den Schlamm schlittern, von Mitstreiter:innen in Sicherheit gezogen werden. Blutige Nasen sind keine Seltenheit, es kommt zu mehreren Knochenbrüchen. Demo-Sanitäterin Iza Hofmann berichtet gegenüber einem ARD-Team von einer Vielzahl an Kopfverletzungen und systematischen Angriffen der Polizei auf die Köpfe von Demonstrant:innen. Peer Vlatten von den Demo-Sanitätern der Sanitätsgruppe Süd-West bestätigt das. Angaben über die Zahl der Verletzten will er nicht machen – auch, weil die in seiner Gruppe sich nicht auf das Gesamtbild projizieren lassen. "Das häufigste Verletzungsbild, das wir hatten, waren Kopfverletzungen durch stumpfe Gewalteinwirkung. Also tatsächlich Schläge auf den Kopf", erzählt Vlatten. "Das beunruhigt uns natürlich. Gerade weil die Polizei die Vorgabe hat, nicht auf den Kopf zu zielen."

Die Bilanz: gemischte Gefühle, Ernüchterung, Verwunderung, Enttäuschung, Wut, Ratlosigkeit. Videos von Polizisten, die knietief Schlamm versinken und über die in zentralen Chatgruppen herzhaft gelacht wird, stammen teilweise von Rechtspopulisten und Erdogan-Sympathisanten. Auch das war Lützerath.

Bedrückt in Botnang

Wiederankunft am Stuttgarter Karlsplatz gegen 22:30 Uhr. Dann U2 gen Botnang. Die Stimmung ist bedrückt. Vielleicht ein Erschöpfungssymptom, vielleicht war der Tag auch zu konfus. Nach 18 Stunden auf den Beinen helfen gegen die Ernüchterung warmes Bier, trockene Reiswaffeln und frische Socken. Stimmungsbild: "Das heute war eigentlich Massentourismus."

Bei den Gesprächen in der S-Bahn, der U-Bahn, am Bahnsteig, im Bus, in der Küche geht es um Familien, die Erinnerungsbildchen an der Abbruchkante knipsen, wo wegen des durchweichten Lössbodens akute Lebensgefahr herrscht. Es geht um das Dorf, das "Ideal Lützerath", das jeden Moment vollständig von Baggern verschluckt sein könnte. Es geht darum, dass die "echten" Aktivisti:innen wie die Tunnelgräber Pinky und Brain vor Ort im Stich gelassen wurden, von allen, die um 16 Uhr wieder zum Reisebus gingen. Es geht darum, dass heute der Tag der Klimawende erwartet und ausgerufen wurde, um das historische Signal, das es gebraucht hätte, das man hätte senden sollen, können, müssen. Darum, dass die Kohle in die Erde gehört, wenn es zukünftig eine Welt geben soll, in der Mensch und Natur koexistieren können. Es geht darum, dass all das dieser Tag heute nicht war. Auch das war Lützerath.

Küchengespräch, ein Zitat: "Zur Einhaltung des 1,5 Grad-Ziels, an dem weltweit Millionen von Menschenleben hängen, kam es heute darauf an, dass sich im niederrheinischen Nirgendwo ein Cop und ein Antifaschist auf die Schnauze hauen." Gedankenpause: "Und am Ende haben alle verloren."

Lützerath wird verschwinden. Pinky und Brain verlassen am Montag den Tunnel, in dem sie sich verschanzt hatten. Freiwillig. Als letzte Besetzer, bevor RWE das Dorf abreißt. Der "Rückbau", wie RWE die Zerstörung nennt, dürfte laut Konzernsprechern noch etwas acht bis zehn Tage dauern. Danach soll die Braunkohle darunter abgebaggert werden. Damit dürfte auch das 1,5 Grad-Ziel gestorben sein. An die Gretchenfrage einer ganzen Generation traut sich derweil seit Tagen niemand so richtig heran:

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2 Kommentare verfügbar

  • Christoph Behrendt
    am 19.01.2023
    Antworten
    Sehr guter Artikel, Danke!
    Der Artikel nimmt einen mit auf die Reise, das finde ich sehr gut, denn ich hatte selbst überlegt mitzukommen, stellte aber fest, dass alle Busse bereits ausgebucht waren…
    „Rückbau“ wäre ein Kandidat für das „Unwort des Jahres“.
    Tja, die Hoffnung. Mit Hoffnung hatte…
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