Um halb sieben Uhr morgens blinkt die Straße bunt. Polizeikontrolle. Der Bus hat an diesem Samstagmorgen gerade erst die Autobahnausfahrten bei Stuttgart-Vaihingen erreicht, das Stadtgebiet noch nicht einmal verlassen, da ist schon erstmal Schluss. Es ist noch keine zehn Minuten her, dass ein Aktivist namens Marius über die Lautsprecheranlage erklärt hat, wie man sich bei einer Polizeikontrolle verhalten sollte. "Außer euren Personalien müsst ihr nichts preisgeben", erklärt er.
Anlass der Rechtsbelehrung ist ein Hamburger Reisebus, der in der vorangegangen Woche zum Dorfspaziergang nach Lützerath aufgebrochen war und mehrere Stunden von der Polizei festgehalten wurde – mit Durchsuchungen im gesamten Fahrzeug. Das hat sich in den aktivistischen Netzwerken herumgesprochen. Doch soweit kommt es auf dem Vaihinger Standstreifen nicht. Die Polizei fragt nach der Passagierliste, die hat der Busfahrer nicht. Die Busse sind wild zusammengewürfelt mit Aktivist:innen aus Reutlingen, Tübingen, Herrenberg und Stuttgart. Dann darf die Fahrt weitergehen. Der Bus rollt durch drei Bundesländer ins rheinische Braunkohlerevier. Mehrere Stunden lang. Nach Lützerath.
Ein greifbares Thema mobilisiert von selbst
Lützerath ist schon lange nicht mehr nur ein Dorf. Der Weiler ist zum Symbol für die deutsche Klimapolitik, für deren Handeln und Nichthandeln geworden. Das unter ihm liegende Kohlenflöz im Tagebau Garzweiler II ist besonders dick. Jetzt, im Januar 2023, verfügen Bagger und Polizeisperren über die Klimabemühungen eines ganzen Landes. Aktivist:innen stellen sich dem in den Weg. Für sie entscheidet sich hier vieles.
In Lützerath entscheidet sich, ob das 1,5-Grad-Ziel mehr ist als ein leeres Bekenntnis zum Klimaschutz, mehr ist als Deals mit dem Energiekonzern RWE, einem der größten Klimasünder der Welt. Ob es nicht doch nur um das Durchboxen von Kapitalinteressen geht, ob sich ein Bundesland hier im Schwitzkasten eines Konzerns befindet. Dass die Kohle für die Aufrechterhaltung der Energieversorgung in Deutschland nicht notwendig ist, belegen Studien, erklären die Aktivisten Elgin, Dennis und Marius. Was sie besonders wütend macht: Dass zur Einhaltung des 1,5 Grad-Ziels weniger CO2 ausgestoßen werden darf, als dort unter der Erde ruht. Eine Mobilisierung, um genügend Menschen in die Busse zu bringen, gab es nicht: "Es ist endlich ein greifbares Thema. Das hilft und mobilisiert eigentlich von allein."
Heute geht es ihnen, wie so vielen, um die Existenzsicherung künftiger Generationen. Denn schon im Jahr 2022 lag die Erderhitzung bei 1,2 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter. Indes hält die Wissenschaft derzeit ein Szenario für am wahrscheinlichsten, bei dem sich die Erde bis 2100 zwischen drei bis fünf Grad erhitzt. Eine Katastrophe, in die man laut Elgin, Marius und Dennis sehenden Auges steuert.
Widerstand als Lebensaufgabe
Elisabeth Hoffmann-Heinen hat 45 Jahre in Venlo gelebt. Heute harrt sie im Regen in Lützerath aus, wuselt durch das Gedränge und verkauft Anstecker des gelbes Kreuzes, das unter Aktivist:innen den Tag X markiert. Seit Räumungsbeginn am Mittwoch, dem 11. Januar, ist es zum Zugehörigkeitssymbol geworden, überall zu sehen, es findet sich tausendfach an Hosen, Jacken und Mützen, an Zäunen, auf Äckern und in Fenstern. Hoffmann-Heinen stattet aus, sammelt so Geld für die Initiative "Alle Dörfer bleiben". Auch die kleine Gruppe aus Herrenberg stoppt bei ihr. Die 76-jährige engagiert sich seit 1984 gegen den Braunkohleabbau in ihrer Heimat – damals noch in einer Bewegung, die den schmucklosen Namen "Vereinsinitiative gegen den Tagebau West" trug. Die letzten Tage seien für sie "emotional stressig" gewesen, erzählt sie. Vergangene Woche habe sie deswegen nicht geschlafen, davor harrte sie im besetzten Lützerath aus.
2 Kommentare verfügbar
Christoph Behrendt
am 19.01.2023Der Artikel nimmt einen mit auf die Reise, das finde ich sehr gut, denn ich hatte selbst überlegt mitzukommen, stellte aber fest, dass alle Busse bereits ausgebucht waren…
„Rückbau“ wäre ein Kandidat für das „Unwort des Jahres“.
Tja, die Hoffnung. Mit Hoffnung hatte…