Immer wenn ich mich länger mit politischen Dingen beschäftigt habe, beispielsweise als Helfershelfer bei einer politischen Aktion, erwacht mein Bedürfnis nach dem kleinen Glücksgefühl. Dann lese ich in einem Roman meines Lieblingsautors, und wenn ich genug habe von den Wörtern, lege ich eine Platte auf. Und wenn ich kein Lied mehr hören kann, gehe ich ins Kino, einen Song der Kinks im Kopf: Because celluloid heroes never feel any pain / And celluloid heroes never really die ...
Neulich habe ich wieder versucht, mein Ritual zu pflegen, aber dann blieb ich schon an der ersten Zeile in Richard Fords neuem Roman "Valentinstag" hängen: "In letzter Zeit denke ich öfter als früher über das Glück nach." Das sagt Fords berühmteste Figur, Frank Bascombe, er ist inzwischen 74 und dem Ende statistisch näher als ich.
Ich bin 69 und meine noch zu wissen, dass diese Zahl etwas Glück verheißt. Fords erster Satz war für mich ein Tiefschlag. Ich kann mich nicht erinnern, jemals ernsthaft über "das Glück" nachgedacht zu haben. Ich bin kein Philosoph. Bin ein besorgter Bürger.
Zwar habe ich vom Unterschied von "Glück haben" und "glücklich sein" gehört, luck & happiness, aber mich nicht weiter damit befasst. Ich bin schon glücklich, wenn ich mal wieder auf die Schnauze falle und mir nicht die Nase breche. Glück ist, wenn dir eine Taube auf den Kopf scheißt und du einen ohnehin bekackten Hut aufhast. Und so bin ich mit diesen Worten aus dem "Valentinstag" absolut happy: "Alles, was nicht niederknüppelndes Unglück ist, zählt als Glück." Ich muss nicht sagen, dass ich generell zu überschäumendem Optimismus neige.
In meinem Allerweltsmenschsein gab es sogar mal Phasen, in denen ich mir einbildete, etwas Glückseligkeit zu spüren. Bis sich herausstellte, dass ich nur eine Lektion in Schöntuerei und Heuchelei erhalten hatte. Das Glück ist ein Hure? Heinrich Heine hat es schöner gesagt: Das Glück ist eine leichte Dirne / Und weilt nicht gern am selben Ort / Sie streicht das Haar dir von der Stirne / Und küßt dich rasch und flattert fort …
Am Abend, bevor ich diese Zeilen aufgeschrieben habe, war ich mit großem Plan zu einem Spaziergang aufgebrochen: Ich wollte es suchen, das Glück. Das gute Leben. Kaum aber hatte ich das Haus verlassen, knüppelten mich die Boten des Klimawandels nieder. Vielleicht war es auch nur der Herbst, dieser verdammte Harlekin. Unberechenbar wie ein Killer im Halloween-Kostüm. Kurt Tucholsky hat es poetischer ausgedrückt: "Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert – und doch alles."
Ja, alles. Mehrfach hat der Wind mein billiges, ausbeuterisch produziertes Schirmgestänge umgebogen. Und mein guter Hut flog mir davon, weil ich ihn nicht tief genug in die Stirn gezogen hatte. Vermutlich wäre er von einem SUV überrollt worden, hätte ich nicht Schwein gehabt: Er wurde von einem dieser beschissenen, auf dem Gehsteig herumlungernden E-Scooter gestoppt.
Wo ist jetzt das verdammte Glück?
Mit verbogenem Schirm und verbeultem Hut kämpfte ich mich zurück nach Hause. Und glaub's oder glaub's nicht: Unterwegs auf dem Bordstein sah ich in einem dieser unsäglichen Kartons mit dem Hinweis "zum Verschenken" ein Buch, dessen Titel orangefarben in die Nacht brüllte: "Schrei vor Glück". (Es erzählt die Erfolgsgeschichte des Online-Dealers Zalando.)
Zurück in meiner Bude, kümmerte ich mich erst mal nicht um Frank Bascombe, den sein todkranker Sohn "mein Lieblings-Arschloch" nennt. Mit sicherem Griff zog ich Robert Walsers Buch "Der Spaziergang" aus dem Regal und fand sofort diese Stelle, die mein Herz vor Glück immer wieder höher schlagen lässt: "Eisig kalter Wind brüllte und sauste durch die düsteren Straßen. Unbarmherziger Wind, und alles war finster, hoffnungslos und düster … Alles Gute, Milde und Schöne war hoffnungslos verloren. Die Seele war verloren. Alles kalt und tot, und die Welt gestorben … Die langen Straßen voll scheußlicher Freudlosigkeit, voll entsetzlicher Leere zogen sich ins Ungeheure, ins Namenlose, ins Unendliche und Unfassbare hinaus … Niemand traute mehr dem anderen."
Dieses Walser-Kapitel würde meine komplette Kolumne füllen, ich bin mir nur nicht sicher, ob die lieben Leser:innen so viel Glück hätten, seine Sätze unbeschadet zu überstehen. Mich beglücken sie, geben mir das Gefühl, nicht allein auf der Straße zu sein, wo niemand dem anderen traut.
Ich weiß nicht, wo mein radikal positives Denken herkommt, vermutlich aus dem Bewusstsein, ein "besorgter Bürger" zu sein. Diese Floskel haben Medien und Politik seit Jahren auch für Arschlöcher parat, die nicht zu den Lieblings-Arschlöchern der Nicht-Arschlöcher zählen. Als längst klar war, dass sich immer mehr Rassisten und Antisemiten, Völkische und Nazis ausbreiten, sprach man, um deutsches Lotto-Glück nicht zu stören, von "besorgten Bürgern". Von denen, die sich vom Glück verlassen fühlen. Diese Leute wussten so wenig wie ich, was Glück bedeuten könnte – außer ohne Rücksicht auf andere das zu bekommen, was sie wollen. Jeder ist seines Glückes Waffenschmied. Für ihr Unglück machen sie Menschen verantwortlich, die ihnen nichts getan haben. Und zu diesen "besorgten Bürgern" gehören auch die, die im Glück leben, aber von der Angst und Hetze gebeutelt werden, ihr Glück könnte ihnen gestohlen werden von den Unglückseligen, die auf der Suche nach Glück in ein fremdes Land fliehen.
Als 69-er habe ich das Pech, mich der Illusion hinzugeben, mit einem Buch, ein paar Songs und einer Liedzeile im Kopf auf dem Weg ins Kino könnte ich düstere Gedanken ausknipsen wie nach zwei Minuten einen "Tatort". Aber kaum habe ich meinen Hut auf die Heizung gelegt, finde ich in meinem Taschentelefon all das, was die "besorgten Bürger" demnächst anrichten können. Und weshalb es inzwischen eine Menge besorgter Bürgerinnen und Bürger gibt, die niemand so nennt, obwohl sie zu Recht fürchten, dass die Tage der Demokratie gezählt sind.
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Ursula
am 01.11.2023