Wie haben Sie dieses Denken abgelegt?
Ich habe vor elf Jahren in Deutschland an einem Dialog mit Palästinensern teilgenommen. Wir saßen zwei Wochen da und haben über alles gesprochen, und ich habe gesehen, wie emotional sie waren und wie viel Schmerz sie hatten, als sie mir von ihrer Geschichte erzählten, von ihrer Katastrophe. Und irgendwie konnte ich ihrem Leid nicht gleichgültig gegenüberstehen. Ich wollte mehr über sie und ihre Geschichte erfahren, von der ich noch nie zuvor gehört hatte, also von der Nakba. So wurde ich aktiv. Zunächst habe ich mich auf meine persönliche Veränderung konzentriert. Denn um die Realität zu ändern, musste ich erst Frieden in mir finden. Ich musste mich mit mir selbst versöhnen und mit meiner Gesellschaft, der israelischen Gesellschaft.
Am Anfang war ich sehr voreingenommen meinen eigenen Leuten gegenüber. Ich habe verstanden, dass es ein sehr schmerzhafter und schwieriger Prozess ist, den wir Israelis durchmachen müssen. Und ich habe zu Mitleid mit meinen Leuten gefunden, die immer die Täter zu sein scheinen. Aber – es geht darum, Mitleid mit allen zu empfinden. Denn wir sind alle traumatisiert. Menschen verhalten sich auf bestimmte Weise, weil sie Angst haben, weil sie Schmerzen haben aufgrund des kollektiven Traumas, wegen dieses Systems der Indoktrination, das uns trennt und nicht will, dass wir etwas über den anderen erfahren. Wir müssen Fürsorge und Mitgefühl zulassen gegenüber allen Menschen, die in diesem Land leben.
Hat sich Ihre Arbeit in Israel nach dem Terroranschlag und dem Krieg verändert?
In Israel war es nach dem 7. Oktober etwas heikler, weil die Menschen wieder sehr traumatisiert waren und nicht an Frieden glaubten. Viele Menschen, die davor Friedensaktivisten waren, beschlossen, zur Armee zurückzukehren um zu kämpfen. Es gab also einen Moment von: Wie können wir weitermachen? Denn egal was passiert, wir wenden keine Gewalt an. Es gab also Diskussionen darüber, und nachdem wir uns darauf geeinigt hatten, dass wenn du Teil unserer Bewegung sein willst, du nicht Teil des gewalttätigen Kreises sein kannst, konnten wir die Arbeit fortsetzen. Denn noch einmal: Palästinenser waren nie sicher, sie waren immer in Gefahr. Niemand schützt sie. Nach dem Terroranschlag spüren die Israelis wirklich Gefahr. Sie gehen zurück zur Armee, erwarten aber, dass die Palästinenser nicht Teil des gewaltsamen Widerstands sind oder werden. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sowohl Gewalt gegen die israelische Armee als auch gegen den palästinensischen Widerstand nicht akzeptabel ist. Wenn wir eine neue Realität schaffen wollen, eine friedliche Realität, müssen wir die Gewalt auf beiden Seiten vollständig ablehnen.
Und was machen Sie und Ihr Partner von Combatants for Peace, Osama Iliwat, in Deutschland?
Wir wollten zunächst für zwei Wochen touren, ab Mitte Oktober. Zwei Wochen nach dem 7. Oktober reisten wir zusammen nach Deutschland – und blieben fünf Monate. Wir haben auf den Veranstaltungen über 12.000 Menschen getroffen. An Universitäten, Gymnasien, auf öffentlichen Veranstaltungen. Im Februar sind wir zurück nach Israel und sprachen hauptsächlich mit israelischen Teenagern. Vor dem Militärdienst haben sie ein Jahr Zeit, um sich auf ihren Dienst vorzubereiten, an einer Art vormilitärischen Hochschule. Dann erhielten wir wieder Einladungen aus Deutschland. Jetzt sind wir für den nächsten Monat hier und jeden Tag in einer anderen Stadt.
Geht es bei den Diskussionen in diesen Veranstaltungen mal härter zu oder kommen nur Menschen mit ähnlichen Einstellungen?
Wir beginnen zunächst damit, dass wir unsere persönlichen Geschichten teilen. Jeder aus seiner Realität, seiner Gesellschaft, und wie wir zu uns selbst gefunden haben. Wir glauben an gewaltfreien Widerstand, wir leben in Frieden miteinander und wir versuchen, unsere Erkenntnisse über diesen Prozess, diese Versöhnung, zu verbreiten. Es geht um das Zusammenkommen, um die Heilung des Traumas, darum, die Regeln und Rollen von Opfer und Täter loszulassen. Und dann gibt es viele Fragen. Manche Menschen werden von unseren Geschichten herausgefordert, weil es ganz besondere Geschichten sind. Sie bieten ihnen eine neue Strategie, eine neue Perspektive für die Zukunft. Manche Menschen sind verwirrt. Sie haben Angst davor, mit uns zu träumen. Es ist beängstigend, ein Träumer zu sein, weil du den Mainstream verlassen musst. Wir kämpfen nicht für die Israelis oder für die Palästinenser, wir kämpfen für die Menschlichkeit. Und ja, die meisten Leute, ich würde sagen 90 Prozent, unterstützen uns sehr. Und sie sind sehr gerührt und bewegt von unseren Geschichten.
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S. Holem
am 11.07.2024