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Adania Shibli in Stuttgart

Eine rebellische Scheherazade

Adania Shibli in Stuttgart: Eine rebellische Scheherazade
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Das in Deutschland debattierte Buch "Eine Nebensache" von Adania Shibli wurde in Stuttgart vorgestellt. Die palästinensische Autorin versucht, der politischen Diskussion zu entfliehen, doch die Mischung aus Fiktion und Realität ist im Fall Palästina keine Nebensache.

Seit der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Oktober hat sich die palästinensische Autorin Adania Shibli kaum öffentlich geäußert. Eigentlich sollte sie dort für ihren Roman "Eine Nebensache" den LiBeraturpreis überreicht bekommen. Doch dann kam der 7. Oktober, das Massaker der Hamas an mehr als 1.000 israelischen Zivilist:innen. Die Jury sagte die Preisverleihung per E-Mail an die Autorin kurzfristig ab. Zwar hat sich die deutsche Literaturorganisation LitProm, die hinter dem Preis für Autorinnen und Autoren aus dem globalen Süden steht, mittlerweile entschuldigt. Wann die Preisverleihung nun stattfinden soll, ist allerdings unklar. Der Preis sei mittlerweile keine Ehrung mehr, sagt Shibli, sondern ein trauriges Ereignis.

Damals war ihrem zuvor hochgelobten Buch Antisemitismus und menschenverachtende Ideologie vorgeworfen worden. Allerdings vor allem von einem Journalisten in der taz, sagt Shiblis deutsche Lektorin Beatrice Faßbender, die an diesem Abend im Stuttgarter Literaturhaus (nicht nur) die Übersetzung aus dem Englischen übernimmt. Von den allermeisten Literaturkritiker:innen sei der Verlag "mit Liebe überschüttet worden", so Faßbender. Shiblis Ziel, mit dem Buch die Perspektive zu wechseln, hätten offenbar nicht alle Journalist:innen verstanden. Sich nicht eindeutig ausdrücken zu können, sei für sie nichts Neues, sagt die Autorin. "Ich bin damit aufgewachsen." Diese Unsicherheit im Ausdruck hat sie zwölf Jahre gekostet bis ihr Buch veröffentlicht wurde. Beim Schreiben sei das Buch immer kleiner geworden, sagt sie lachend.

Das schmale Buch, das bereits 2017 auf Arabisch erschien, ist in zwei Teile geteilt: Im ersten Teil geht es um einen Fall von 1949, über den damals die israelische Zeitung "Haaretz" berichtete. In der Negevwüste erschossen israelische Soldaten unbewaffnete Beduinen, vergewaltigten und töteten ein Beduinenmädchen. Der erste Teil ist aus der Perspektive des israelischen Offiziers geschrieben. Der zweite Teil schildert die Perspektive einer Palästinenserin aus dem Westjordanland. Sie will mehr über diesen Mord wissen und reist illegal durch Israel. Während die erste Hälfte auf echtem Geschehen basiert, verwandelt sich der zweite Teil in eine Selbstreflexion über das Leben in Dauerkrise und unter Besetzung.

In die Diskussion über die Wahl ausgerechnet dieser Geschichte will sie nicht gehen, es sei ein Roman und keine Berichterstattung, betont die Autorin. Ihr Ziel mit dem Buch den herrschenden Diskurs über Israel und Palästina in Frage zu stellen, hat sie jedenfalls erreicht. Sie erklärt den rund 140 Zuhörenden ihr Vorgehen: Während die übliche Klärung eines Mordes den Schritten des überlebenden Verbrechers folgt, habe sie die Schritte des Opfers verfolgt. Damit wird das Buch mehr als ein Roman, wie die Schriftstellerin selbst indirekt zugesteht. Es ist der Ausdruck vieler Stimmen aus Palästina. Hat das mit Ermächtigung zu tun?, fragt Jörg Armbruster. "Nein, mit Menschlichkeit."

Stereotype führten zu antisemitischen Vorwürfen

Mit dem Leben zwischen Fiktion und Realität beschäftigt sich der zweite Teil des Buches. Wenn die Realität die eigene Existenz bedroht, findet Shibli Zuflucht in der literarischen Sprache. Das Paradox der Generation ihrer Eltern verdeutlicht sie am Beispiel von fast 500 palästinensischen Dörfern, die 1948 zerstört wurden. Doch die Namen dieser Dörfer existieren unter Araber:innen weiterhin. Die Umbenennung von arabischen Orten seitens Israel bezeichnet Shibli als "Machtakt" und als eine Erfahrung von Kolonialismus, die einen dazu bringe, die eigene Existenz zu bezweifeln. Im Gegensatz zu den Märchen von 1001 Nacht, in der Prinzessin Shehrazade erzählen muss, um am Leben zu bleiben, habe die Generation ihrer Eltern Geschichten nicht erzählt, um zu überleben: eine "verdrehte Scheherazade", nennt Shibli das.

Zur aktuellen Situation in Israel und Palästina schrieb Shibli Anfang Februar in der neuen Literaturzeitschrift Berlin Review, wie fatal der Konflikt für beiden Seiten ist. Diese beiden Perspektiven zu verstehen, steht auch im Zentrum ihres Buches. Im Gegenteil zur Realität ist die Abwesenheit von palästinensischen Militanten in "Eine Nebensache" sehr auffällig. Als ob Shibli mit dem Buch eine Alternative zum Schweigen und Töten vorschlagen möchte.

Stilistisch geht Shibli bei der Beschreibung der Bewegungen ihrer Figuren ins Detail, darüber redet sie auch gerne. Doch Armbrusters Fragen nach den Vorwürfe von Antisemitismus lässt sie lieber die Lektorin Faßbender beantworten. Die weist die Vorwürfe gegen Shiblis Buch vehement zurück. Die Behauptung, in dem Buch würden alle Israelis als Mordmaschinen dargestellt, sei faktisch falsch. Es gebe viele neutrale und auch freundliche Begegnungen zwischen der Erzählerin und Israelis.

Faßbender hebt hervor, wie auch Stereotype gegenüber Araber:innen zu der Debatte geführt haben. So entzündeten sich die Vorwürfe gegen Shibli unter anderem an einer Formulierung aus einem Essay von 2009, in dem sie angeblich geschrieben hatte, ein palästinensischer Künstler sollte bei einem Festival "Sprengstoff" mitbringen. "Sie wurde damit zur Hamasanhängerin", empört sich Faßbender. Allerdings sei das ein Übersetzungsfehler gewesen, es ging um eine Metapher – nämlich "um die explosive Kraft von Kunst", nicht um Attentate.

Und was wurde daraus gemacht? Faßbender erzählt, wie ein "renommierter Literaturkritiker – "ich nenne den Namen nicht" auf der Frankfurter Messe ihr erläuterte, er könne zwar kein Arabisch, aber die Araber hätten ja ein ganz anders Verhältnis zu Metaphern und meinen sie wörtlich. Ein Augenöffner, dass Deutschland dringend einen Perspektivenwechsel, mehr Übersetzungen und mehr Offenheit gegenüber der arabischen Kultur braucht.
 

Adania Shibli, geboren 1974 in Palästina, schreibt Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten und Essays und ist zudem in der akademischen Forschung und Lehre tätig. "Eine Nebensache" ist ihre erste Buchveröffentlichung auf Deutsch. Sie lebt in Palästina und Deutschland.

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