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Şeyda Kurt

Neue Wege der Zärtlichkeit

Şeyda Kurt: Neue Wege der Zärtlichkeit
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Die Berliner Autorin Şeyda Kurt ergründet in ihren Büchern die politische Dimension von Gefühlen. Ist es Liebe oder unbezahlte Care-Arbeit? Warum war Hass wichtig für den Kolonialismus? Und gebe es nicht andere Lösungen für den Krieg im Nahen Osten als das Töten? Doch, sagt Kurt und wünscht sich eine Politik der Zärtlichkeit.

Şeyda Kurt, Sie haben zwei Bücher geschrieben über das Politische von Gefühlen. Vor allem über Zärtlichkeit, Liebe und Hass. Inwiefern sind Gefühle denn politisch?

Politische Emotionen werden eingesetzt, um etwa Unterdrückungsverhältnisse zu verschleiern und zu naturalisieren. Bei der Liebe sehen wir das im Zusammenhang mit unbezahlter Fürsorgearbeit. Es heißt ja, es ist die Natur von Frauen, diese Arbeit zu machen, denn sie täten das aus mütterlicher Liebe. Deswegen gab es in den 1970er-Jahren die Kampagne der marxistisch feministischen Philosophin Silvia Federici und anderen Feministinnen, die gesagt haben: "Ihr nennt es Liebe, wir nennen es unbezahlte Hausarbeit."

Und wie ist es mit dem Hass?

In dem Buch "Hass" schaue ich mir westliche Ideen und die Philosophiegeschichte des Hasses an. Auf welche Art der Hass im Zuge kolonialer Gewalt benutzt wurde als eine ideologische Rechtfertigung. Als Zuschreibung gegenüber hauptsächlich schwarzen Menschen, um zu sagen, diese Menschen sind von Natur aus hassende und feindselige Völker, wie es Hegel geschrieben hat. Deswegen sind sie nicht dazu imstande, Zivilisation und Kultur zu erschaffen und sich selbst zu erhalten. Dementsprechend müssen sie fremd beherrscht werden. Also wieder, wie bei der Liebe, die Zuschreibung eines Gefühls als ein Instrument der Herrschaft.

Was ist das Spannende an diesem Thema?

Mein Vater war politisch aktiv in der Türkei und in Deutschland. Ich war schon früh in migrantischen Selbstorganisationen, mit dem Blick auf sozialistische Kämpfe in Kurdistan und der Türkei. Zu Hause habe ich gemerkt, dass viel über Gerechtigkeit und Unterdrückung geredet wird, aber die Drecksarbeit zu Hause macht trotzdem meine Mutter, das letzte Wort hat trotzdem mein Vater. Alles aus bedingungsloser Liebe für die Familie. Gewisse Kategorien wie Liebe oder Hass werden genutzt, um Machtasymmetrien zu rechtfertigen. Mich interessiert, auf welche Art und Weise man diese Gefühle von ihrem kapitalistischen, patriarchalen, rassistischen Ballast befreien und zu Emotionen von Befreiung und Gerechtigkeit machen kann.

Werden im Nahostkonflikt den Völkern bestimmte Eigenschaften zugeschrieben?

Historisch gesehen ist die Zuschreibung von Hass und Rache einerseits ein antisemitischer Topos. Ich habe schon in der Schule gelernt, der christliche Gott des Zweiten Testaments sei der Gott der Liebe und der Gott des Ersten Testaments, der Tora, sei der rachsüchtige und hasserfüllte Gott. Dieses Topos wurde im christlichen Westen produziert, um jüdische Menschen zu entmenschlichen. Gleichzeitig sehen wir in der Gegenwart, wie das als Zuschreibung für andere rassifizierte und marginalisierte Gruppen funktioniert. Das ist eine grässliche Gemengelage, in der viel zusammengeworfen wird. Es ist ziemlich offenkundig, dass es im deutschen Diskurs vor allem in eine Richtung geht: Es sind die hasserfüllten, aggressiven, auch antisemitischen Palästinenser:innen, denen diese Eigenschaften auf den Leib geschneidert werden. Am Ende geht es darum, die deutsche, weiße, christliche Deutungshoheit über die Angelegenheiten zu behalten.

Şeyda Kurt, geboren 1992 in Köln, ist Journalistin und Autorin. Sie studierte Philosophie und Romanistik, arbeitet für verschiedene Medien, schreibt Texte für die Bühne. Zuletzt erschien von ihr "Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls", das vielfach postitiv besprochen wurde. Sie schreibt und spricht über Politik, über Philosophie, über den Literatur- und Kulturbetrieb, über die Zusammenhänge von Patriarchat, Kapitalismus und Rassismus.  (lee)

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Vor einigen Wochen saß ich in der Berliner U-Bahn. Im Fahrtgastfernsehen blieb mein Blick an einer Nachrichtenmeldung hängen: "Hass-Demo zieht durch Berlin." Kein Kontext, keine Ausführungen, keine Einordnung, wer da eigentlich für was demonstriert. Zufällig wusste ich, dass an dem Tag eine Demonstration für einen Waffenstillstand in Gaza stattfand. Aber diese Meldung signalisierte: Das sind Menschen ohne politische Anliegen oder Legitimation. Sie sind einfach nur hassende Körpermassen.

Hat Deutschland wegen der Shoah eine besondere Verpflichtung gegenüber Israel?

Ja, gegenüber Israel, gegenüber jüdischen Menschen und allen anderen verfolgten Minderheiten. Ich gehe mit Menschen wie der Autorin Deborah Feldman mit, die in einer ultraorthodoxen jüdischen Familie aufwuchs. Sie sagt, eine Lehre aus der Shoah muss sein: nie wieder. Und das sollte doch für alle Seiten gelten. Da geht es nicht darum, die Shoah zu relativieren. Es geht darum, ein universelles Prinzip für das Recht auf Leben und Kultur zu erhalten und für sämtliche Völker festzumachen. Ich finde es auch sehr paternalistisch und antijüdisch, dass es in der deutschen Debatte oft so dargestellt wird, als wäre die Art, wie der israelische Staat Gewalt verübt, alternativlos, und deswegen sei bedingungslose Solidarität mit Israel die Antwort im Sinne einer angeblich bedingungslosen Solidarität mit jüdischen Menschen. Als ob man von Jüdinnen und Juden nichts Besseres erwartet. Dass es so viele von ihnen gibt, die sich innerhalb und außerhalb von Israel gegen die Staatsgewalt stellen, wird unsichtbar gemacht. Von linker Seite heißt es andererseits manchmal, die Gewalt der Hamas sei eine Widerstandsform und wir müssten da mitgehen. Auch das ist irgendwie rassistisch. Denken wir wirklich, dass Palästinenser:innen keinen besseren Widerstand hinbekämen als die Hamas? Ich finde es sehr bezeichnend zu denken, es gebe keine Alternative zu dem Kreislauf der Gewalt im Nahen Osten.

Gibt es Alternativen?

Kurd:innen, Araber:innen, Aramäer:innen, Turkmen:innen und andere Völker im autonomen Gebiet in Nord- und Ostsyrien, Rojava, zum Beispiel zeigen, dass es andere Wege des gemeinsamen Zusammenlebens und der Selbstverwaltung gibt, es muss kein gewaltvoller, besatzerischer Nationalstaat sein. Die Verantwortung von Deutschland muss sein: Wie schaffen wir nachhaltige Lösungen im sogenannten Nahen Osten, damit wirklich am Ende alle Menschen dort in Frieden und Gerechtigkeit leben können?

Im Nahostkonflikt sind momentan auf beiden Seiten hauptsächlich reaktionäre Kräfte an der Macht. Solidarität scheint hier schwierig.

Die Hamas ist eine politische Akteurin von vielen. Die Geschichte des palästinensischen Widerstandes, auch des unbewaffneten, ist lang und vielfältig. Dass eine palästinensische Linke heute so schwach ist, liegt nicht nur daran, dass innerpalästinensisch reaktionäre Kräfte die Linke bekämpft haben, es war von internationalem Interesse, eine sozialistisch palästinensische Bewegung zu bekämpfen. Aber progressive Kräfte gibt es nach wie vor, und diese gilt es entschlossen zu unterstützen. Für mich ist Solidarität immer an die Bedingungen geknüpft, dass es eine gemeinsame Gesprächsgrundlage gibt, man sich nicht gegenseitig zerstören will und ein größeres Ziel vor Augen hat: die Befreiung aller unterdrückten Völker. Gerade in Zeiten, in denen auch islamofaschistische Bewegungen und Staaten versuchen, den palästinensischen Befreiungskampf zu instrumentalisieren, muss es darum gehen, Alternativen aufzuzeigen und solidarische Netzwerke aufzubauen, die internationalistisch, feministisch und antifaschistisch sind. Doch gerade in der deutschen Linken gab es in den vergangenen Wochen eine Erosion der Debattenkultur, wo es gar nicht mehr darum ging, Argumente auszutauschen, sondern mit dem Finger aufeinander zu zeigen, obwohl es die Aufgabe von Linken sein sollte, konkrete und auch schmerzhafte Kritik aneinander zu üben und zu schauen, wie weit wir damit kommen.

Die Linke bezieht sich nahezu geschlossen positiv auf Rojava, während die Diskussion über Palästina viel mehr spaltet.

Die kurdische Widerstandsbewegung ist dezidiert feministisch und hat sich in den vergangenen Jahren als Bollwerk gegen den Islamismus in der Region etabliert. Für westliche Kommentator:innen ist es einfacher zu sagen: Oh, da ist eine Revolution, die ist weiblich, die ist toll. Oftmals ist Rojava eine extrem krasse westliche Projektionsfläche, auch für Konservative und Reaktionäre von der CDU bis FDP. Kurd:innen sollen als Gegenpol zu Muslim:innen herhalten, obwohl sie selbst mehrheitlich muslimisch sind und national wie international verfolgt und kriminalisiert werden. Die Türkei führt seit Jahren einen Angriffskrieg gegen Rojava – mit deutscher Unterstützung.

Sehen Sie Palästinenser:innen in einem antikolonialen Befreiungskampf?

Es ist international anerkannt, dass Israel palästinensisches Gebiet besetzt. Das ist keine Interpretation. Es ist auch Fakt, dass Israel Siedlerkolonialismus betreibt, also systematisch Menschen ansiedelt und dafür andere aus den Orten, in denen sie aufgewachsen sind, vertrieben werden. All das sind Facts, die so augenscheinlich sind, da ist es eigentlich schwierig, eine andere Position einzunehmen.

Amnesty International hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht mit dem Titel "Israels Apartheid gegen Palästinenser:innen". In Deutschland hat das für große Diskussionen gesorgt.

Das ist eine moralisch aufgeladene, deutsche Debatte, in der es eine krasse Monokausalität gibt und der eigene historische Kontext als der Maßstab für alles gilt. In Südafrika ist es fast Konsens, dass das, was in Israel/Palästina passiert, Apartheid ist. Aber dann kommen irgendwelche Deutsche und versuchen den Südafrikaner:innen zu erklären, dass es eine Relativierung der südafrikanischen Apartheid wäre, wenn man das im Nahen Osten auch so nennt. Wenn es Deutschen so wichtig wäre, die Verbrechen in Südafrika nicht zu relativieren, könnten sie ja mit Südafrikaner:innen ins Gespräch kommen und fragen, was sie eigentlich denken. Pauschale Antisemitismusvorwürfe, die in Deutschland stattdessen gerne bedient werden, helfen niemandem, schon gar nicht dem Schutz von jüdischem Leben. Ein Land, das bis heute auf dem Vermögen von enteigneten Jüdinnen und Juden basiert und es nie irgendeine Art der materiellen Disruption gab, gerade bei Rüstungsunternehmen, die schon zur Nazizeit Geld gemacht haben und jetzt weiterhin Geld machen.

Sie haben mal in einem Kommentar für Deutschlandfunk Kultur gemeint, dass durch Moralismus ökonomische Hintergründe aus Debatten verschwinden. Ist das bei dem Nahostkonflikt auch so?

Ja, total. Zum Beispiel bei Militarismus. Deutschland profitiert von unterschiedlichen Kriegen und Waffenlieferungen in der Welt, Konflikte wie der um Palästina sind am Ende profitabel für die deutsche Rüstungsindustrie. Das wird verschleiert durch moralische Debatten, indem der Nahostkonflikt als religiöser Krieg anstatt als geopolitischer Machkampf inszeniert wird. Am Ende geht es Deutschland darum, historisch diesmal auf der richtigen Seite zu stehen. Ich habe nichts dagegen, eine gewisse Moral ins Feld zu führen, wenn wir über politische Dinge sprechen. Aber dann muss man halt ehrlich sein und nicht beabsichtigen, sich selbst als Engel zu stilisieren, sondern darüber diskutieren, wie moralisch es eigentlich ist, dass Deutschland von Waffenexporten profitiert. Das wäre mal eine sehr interessante moralische Debatte, die ich gerne führen würde.

Wie sieht denn die Gefühlslage in diesem Konflikt gerade aus?

Wie in jedem Krieg, der sich über einen langen Zeitraum erstreckt, kommt Machtlosigkeit und Leere dazu. Man hat sich leer gesprochen, leer geweint, leer diskutiert. Aber für mich sind das auch Wochen von unerwarteten Allianzen. Bei der Demonstration am 9. November in Berlin kamen palästinensische, jüdische, schwarze und Romnja-Stimmen zusammen und sprachen über Differenzen und Solidaritäten. Dieser klischeemäßige Spruch: Du bist nicht frei, solange ich nicht frei bin und ich bin nicht frei, solange du nicht frei bist, nimmt auf einer realen Ebene eine neue Gestalt an. Neben all dem Hass gibt es neue Wege der Zärtlichkeit.

Der Nahostkonflikt wird ja oft als ein unlösbarer Konflikt dargestellt. Sehen Sie eine Möglichkeit für eine radikal zärtliche Gesellschaft zwischen Palästinensern und Israelis?

Rojava ist ein Modell der friedlichen Koexistenz, obwohl dort auch nicht alles gut läuft: Es gibt immer noch Gewalt und Hierarchien, Kämpfe um Ressourcen. Aber es gibt eine Alternative zu gewaltvollen, kapitalistischen Nationalstaaten. Es gibt Versöhnungs- und Gerechtigkeitskomitees, um auf einer anderen Ebene als über bürgerliches Recht ein Rechtsgespür aufzubauen, das Menschen unterschiedlicher Herkunft, die Gewalt, Repression und Kolonialismus erfahren haben, zusammenbringt. Das sind für mich die Politiken der Zärtlichkeit, die ein Modell für unterschiedliche Zusammenhänge, auch im Nahen Osten, sein könnten.

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1 Kommentar verfügbar

  • Dieter Rebstock
    am 21.12.2023
    Antworten
    Kontext liefert die Stichworte, ohne nachzufragen. So bleiben gefühlsschwangere Behauptungen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben, Meinungen, die unter dem Mantel der Zärtlichkeit Hass verbreiten. Das "amnestyurteil" über Israel wiederholt die Vorwürfe aus dem letzten Jahr. Alex Feuerherdt…
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