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Stimmen zur Wahl – aus der arabischen Community

Nicht vertreten und nicht gehört

Stimmen zur Wahl – aus der arabischen Community: Nicht vertreten und nicht gehört
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Mütter haben unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Anforderungen an die Politik: zuverlässige Kitas, gute Schulen und eine nachhaltige Politik für die Zukunft ihrer Kinder. Maha Shoukri und Kamila Khoja kämpfen zudem gegen Diskriminierung und Ausgrenzung.

Maha Shoukri und Kamila Khoja sind im selben Jahr geboren: die eine in ihrer Heimat in Libyen, die andere in Stuttgart in einer migrantischen Familie aus Ägypten. Die Lebenswege der beiden 45-Jährigen führten sie auf unterschiedlichen Pfaden durch viele Länder und wieder zurück in die Region Stuttgart. Obwohl die beiden ganz verschiedene Lebensstile haben, teilen die zwei muslimischen Frauen das Gefühl, von der Politik nicht gehört und nicht verstanden zu werden.

Bei der Kommunalwahl sind beide Frauen von allen Parteien enttäuscht, nicht nur wegen ihrer Positionen in Bezug auf die aktuelle Krise im Nahen Osten. Der Mangel an Kitaplätzen und die schlechte Verbindung im öffentlichen Nahverkehr sind für Kamila Khoja, die auf dem Land im Kreis Ludwigsburg lebt und Mutter von vier Kindern ist, wichtige Themen. Seit ihrer Einbürgerung im Jahr 2009 hat sie ein paar Mal gewählt, auch als sie wegen der Arbeit ihres Mannes im Ausland lebte. Dieses Jahr ist die Wahl für sie besonders wichtig, weil sie das Gefühl hat, sie dürfe ihre politische Meinung zur Politik Israels in Gaza nicht frei äußern, aus Angst als Antisemitin bezeichnet zu werden.

Kamila Khojas vier Mädchen sind zwischen vier und 21 Jahre alt. Die beiden Älteren studieren Jura und Pharmazie. Ein Gefühl der Ungleichheit ist bei Khoja entstanden, als Student:innen aus der Ukraine an der Uni ihrer Töchter studieren durften, ohne Abitur zu haben. Das ist bei Syrer:innen anders, weiß die Mutter. Dahinter steht ein Abkommen Deutschlands mit der Ukraine, wonach ukrainische Schüler:innen mit einer Eignungsprüfung die Universität besuchen können. Für andere Geflüchtete gilt das nicht.

Ihre Tochter habe erzählt, sagt Khoja, in ihrer Schule sei gesagt worden, wer mit der deutschen Unterstützung der israelischen Regierung nicht einverstanden sei, solle Deutschland verlassen. Sie hat ihren Töchtern daraufhin empfohlen, sich zum Krieg in Gaza nicht zu äußern. Mit fortschreitendem Krieg allerdings sei in der Schule differenzierter diskutiert worden, sagt sie.

"Menschenleben sind nicht gleich Menschenleben"

Maha Shoukri beschäftigt auch die Diskrepanz in der deutschen Position zu den Kriegen in der Ukraine und in Gaza – für sie ist das Rassismus. "Menschenleben sind eben nicht gleich Menschenleben", sagt die 45-Jährige. Sie hätte sich von der hiesigen Politik gewünscht, dass sie Juden und Muslime in Stuttgart zusammenführt, anstatt sich von Araber:innen zu distanzieren, weil die auf Demos Gerechtigkeit für Palästinenser fordern, sagt Maha. So sprach die CDU-Landtagsabgeordnete Sabine Kurtz von "unsäglichen Palästina-Demos". Auf Bundesebene hatte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, gefordert "die schon länger in Deutschland lebenden arabisch- und türkischstämmigen Bevölkerungsgruppen stärker in den Blick zu nehmen".

Shoukri ist Stuttgarterin mit einem großen Netzwerk. Sie hat in Mannheim und Berlin studiert und arbeitet als Markenstrategin. Einen starken Bezug zu Ägypten, der Heimat ihrer Eltern, hat sie genauso wie zur arabischen Community in Stuttgart. Nach zehn Jahren zwischen Dubai (Vereinigte Arabische Emirate) und Sydney (Australien) hat sie ihren neuseeländischen Mann überzeugt, zurück nach Stuttgart zu ziehen.

Die Politik könnte, was Integration betrifft, mehr tun, findet Shoukri. Heute noch werde das Thema nur im Zusammenhang mit "Fachkräftemangel" oder "Flüchtlingshilfe" diskutiert, kritisiert sie. Dies vermittle den Eindruck von etwas "Vorübergehendem", davon, dass Menschen nur aufgenommen werden, weil es notwendig ist, nicht weil sie willkommen sind. Integration bedeutet für sie nicht nur Sprachtests zu bestehen und Arbeit zu finden, sondern Menschen zu verstehen, meint die Unternehmensberaterin und Diplom-Ökonomin. Man müsse in beide Teams investieren – wie bei einer Zusammenführung von zwei Firmen.

Kamila Kohja hat ähnliche Erfahrungen in ihrem Umfeld gemacht. In ihrem Freundeskreis sind christliche Araber:innen, Russ:innen und Urdeutsche, und sie freut sich über den Austausch zwischen den Kulturen. Als sie wegen der Arbeit ihres Mannes für einen deutschen Konzern in China gelebt hat, hat sie chinesische Kunst und Kalligrafie gelernt. Multikulturalität habe sie in der Expat-Community in Japan und China meistens positiv erlebt, erzählt sie.

Deutschland kann christlich und offen sein

Für Shoukri, die als Muslimin mit ihren Eltern, mit ihrem neuseeländischen Mann und den beiden Kindern gerne Weihnachten mitfeiert, ist es bedauerlich, dass die Diskussion über Feste hierzulande oft in Entweder-Oder-Kategorien verläuft. Insbesondere während des Ramadan dieses Jahres habe sie eine deutliche Polarisierung festgestellt. Einerseits bemerkte Maha eine positive Entwicklung durch informative Beiträge der Medien zum Fastenmonat, herzliche Wünsche einiger Politiker und sogar die Beleuchtung von Straßen in einigen Städten. Andererseits erlebte sie Unverständnis und sogar Hass in den sozialen Netzwerken. "Man sei ja schließlich ein christliches Land", habe es da in Kommentaren geheißen.

Immer mehr lassen sich einbürgern

Die Studie "Islam in Deutschland" schätzt, dass 1,5 Millionen Muslime in Deutschland aus einem arabischsprachigen Land im Nahen Osten (19 Prozent) oder Nordafrika (8 Prozent) kommen. 47 Prozent sind deutsche Bürger, und 21 Prozent von ihnen sind unter 15 Jahre alt. Weniger als jede dritte Muslimin trägt ein Kopftuch. Mehr als ein Drittel befürchtet jedoch auch Nachteile durch das Tragen eines Kopftuchs (35 Prozent). Laut Statistischem Landesamt Baden-Württemberg leben rund 800.000 Musliminnen und Muslime in Baden-Württemberg.

Die Zahl der Einbürgerungen von arabischstämmigen Menschen in Baden-Württemberg wächst. Erhielten 2015 rund 1.700 Menschen einen deutschen Pass, waren es 2023 gut 9.000, die meisten kamen aus Syrien. Menschen aus Palästina werden nicht gesondert erfasst, da Palästina kein anerkannter Staat ist und viele von ihnen als staatenlos behandelt werden.  (ses)

Sie ist fest davon überzeugt, dass Deutschland ein christlich geprägtes Land sein und gleichzeitig andere Kulturen und Religionen zelebrieren kann. "Erst wenn wir erkennen, dass die Menschen gleiche Werte teilen oder wir uns annähern, entsteht wirkliche Integration. Das passiert nur durch Dialog, Respekt und Toleranz", so Shoukri. Sie wünscht sich, dass Unternehmen mehr für die Integration tun und Raum für kulturellen oder religiösen Austausch bieten. Als sie vor 20 Jahren in Dubai gearbeitet hat, erlebte sie, wie in Firmen gemeinsam Weihnachten, Iftar (Fastenbrechen) oder Diwali (hinduistisches Lichterfest) gefeiert wurde.

Kritik an Wahlslogans

Wenn es um die EU-Politik geht, sind sich beide Frauen einig, dass die Migrationspolitik das wichtigste Thema für sie ist. Mit dem zuletzt verabschiedeten EU-Migrations- und Asylpaket behandle man aber nur die Symptome, anstatt das Problem an der Wurzel zu lösen, sagt Maha Shoukri. "Denken die EU-Strategen wirklich, dass Menschen ihre Heimatländer und ihre Familien freiwillig verlassen und sich auf eine lebensgefährliche Fluchtroute begeben?" Bei ihrer Wahl am 9. Juni tendiert sie zu linken Parteien, weil sie überzeugt ist, dass Waffenlieferungen westlicher Länder oft die Ursache dafür sind, warum viele Menschen ihre Heimat verlassen und nach Europa fliehen. "Man kann nicht Länder mit Waffen beliefern und Konflikte befeuern und dann Flüchtlingen den Zugang verweigern", sagt Shoukri.

Ihr fällt das Wahlplakat der Grünen von vor zwei Jahren ein: "Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete". Heute fragt sie sich: "Wie glaubwürdig ist unsere Politik überhaupt noch und wem gebe ich meine Stimme?" Das gleiche gilt für die aktuelle Wahlkampagne der SPD zur Europawahl mit dem Slogan "Frieden" und einem Bild von Kanzler Olaf Scholz. "Mit Scholz an der Spitze unseres Landes erleben wir einen Boom der Aufrüstung und Waffenexporte. Ich kann nicht nachvollziehen, wie das zu Frieden führen soll", so Shoukri.

Asylpolitik braucht kein Geld, sondern Frieden

Kamila Khoja glaubt auch, dass die EU frischen Wind braucht. Sie findet die Partei Bündnis Sarah Wagenknecht überzeugend und mutig. Ihr gefällt auch, dass Wagenknecht als Frau mit Migrationshintergrund – ihr Vater kam aus dem Iran – gegen den Strom schwimmt. Die Ansicht teilt Maha Shoukri nicht und betrachtet Sahra Wagenknecht eher mit Skepsis. Yanis Varoufakis ist für sie eher eine starke Persönlichkeit, die für sie auf EU-Ebene Hoffnung bringt.

Wenn Khoja, Tochter eines Diplomaten, an die milliardenschweren Migrationsabkommen der EU mit Ländern Nordafrikas als Teil der deutschen Asylpolitik denkt, wird sie emotional. "Ich komme aus Libyen, und dort weiß jeder, wo die illegalen Schlepper leben." Die könnten also ohne Weiteres festgesetzt werden, meint sie, dafür brauche die Regierung kein Geld. Außerdem: "Wir brauchen kein Geld von Europa, wir haben genug Öl und Gas." Tatsächlich gehe es wohl nur darum, Geflüchtete von den europäischen Grenzen abzuhalten, egal wie.

Transitland Libyen

Seit März 2022 ringen in Libyen wieder zwei Regierungen um die politische Macht. Der international anerkannten Regierung in Tripolis, die Teile des Westens Libyens kontrolliert, steht eine rivalisierende Regierung gegenüber, die große Teile im Osten und Süden regiert. Beide Seiten erhalten ausländische Unterstützung. Libyen ist das wichtigste Transitland für Vertriebene und Migrant:innen, die das Mittelmeer von Nordafrika nach Italien oder Malta überqueren wollen. Sie stammen hauptsächlich aus Kriegsgebieten im Sudan und in Syrien.  (ses)

Für die unruhige politische Lage in ihrem Heimatland seit dem Sturz der Diktatur macht sie die europäischen Interessen vor allem an den Ölfeldern Libyens verantwortlich. Libyen ist zwischen von Frankreich unterstützten Milizenchefs im Osten und der anerkannten Regierung im Westen geteilt, sagt Khoja. Durch Waffenlieferungen aus Europa wird der Konflikt zwischen Westen und Osten des Landes verschärft, wie sie aus der internationalen Berichterstattung mitbekommt.

Die neuen Parteien, die auf europäischer Ebene dieses Mal kandidieren, könne sie noch nicht beurteilen, da sie deren Programme noch nicht gelesen habe. "Ob die uns auch enttäuschen werden?", fragt sie sich. "Aber: besser wählen und enttäuscht werden, als nicht wählen und der AfD den Sieg überlassen. Sonst werden wir es richtig bereuen", sagt die temperamentvolle Frau. Khojas Wunsch an die Politik ist, mutig zu sein, um Kriege zu beenden. "Deutschland weiß besser, wie zerstörerisch Extremismus und Kriege sind. Ich hoffe, wir erreichen, dass die AfD keine Mehrheit bekommt, sonst ist das der Untergang für Deutschland, und ich werde mit vielen Deutschen das Land verlassen."

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