KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Stimmen zur Wahl – aus der arabischen Community

Rassismus als tägliches Brot

Stimmen zur Wahl – aus der arabischen Community: Rassismus als tägliches Brot
|

Datum:

Seit zwei Jahren ist Mohammad Deutscher, nun darf der gebürtige Syrer zum ersten Mal in seinem Leben an einer freien Wahl teilnehmen. Für ihn ist klar: Am 9. Juni wird er seine Stimme gegen rechte Populisten in seinem Ort und in Europa abgeben. Auch weil er in seiner neuen Heimat zu viel Rassismus erlebt.

Mohammad heißt in der Wirklichkeit anders. Doch seinen echten Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen, auch weil er seit Januar gezielte Angriffe erlebt. Der 34-Jährige lebt seit sieben Jahren in Waiblingen bei Stuttgart und arbeitet in Fellbach in einem Handwerksbetrieb. 2015 floh er nach Deutschland, arbeitete sich schnell aus dem Flüchtlingsheim heraus in Ausbildung und Arbeit. Eigentlich könnte er sich in Ruhe ein neues Leben aufbauen. Wenn der Rassismus nicht wäre. Vor allem bei der Arbeit beleidigen ihn immer wieder Kunden. "Während der Ausbildung wollte ich mehrmals unterbrechen und weggehen", sagt der junge Mann enttäuscht. Zum Glück hätten ihn Kolleg:innen und Freund:innen unterstützt, so habe er durchgehalten und seine Karriere weiter bis zum Meisterkurs verfolgt, den er in den kommenden Monaten abschließen wird.

Parken für Ausländer verboten

Mit dunklen, großen Augen und kurzen, braunen Haaren ist Mohammad ein warmherziger Mensch, er lächelt oft. Sogar, wenn er von üblen Angriffen erzählt. Seit Januar wird sein Auto ständig zerkratzt, wenn er es ganz normal auf der Straße in der Nähe seiner Arbeit parkt. Auch ein Hakenkreuz wurde in den Lack geritzt, einmal waren die Reifen aufgeschlitzt. Ein anderer nicht-biodeutscher Autofahrer erzählte Mohammad, dass ein Anwohner ihm gesagt habe: "Hier ist Parken für Ausländer verboten." Mohammad erstattete Anzeige, die Polizei nahm die Beschädigungen auf, doch viel Hoffnung, dass der oder die Täter gefasst werden, hat er nicht. Die Kratzer auf seinem Auto nennt er "Weltkarte", denn so sähe der Schaden mittlerweile aus. Er lächelt sarkastisch. Sarkasmus hilft in solchen Situation – und die große Unterstützung von deutschen Freund:innen und Kolleg:innen.

Mohammad wollte eigentlich Rechtsanwalt in Syrien werden. Drei Jahre lang hat er Jura in Aleppo studiert. Doch die Unterdrückung durch das Regime des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad hat seinen Traum vernichtet. Als er 17 war, wurde er zum ersten Mal mit seinen beiden Brüdern (26 und 12 Jahre alt) grundlos vom Geheimdienst in Syrien festgenommen. Ein paar Wochen saßen die drei im Gefängnis, wurden gefoltert, irgendwann freigelassen. Ein Gericht, geschweige denn Anwälte hatten sie nie gesehen. 2013 wurde Mohammad zum zweiten Mal inhaftiert, weil er sich im arabischen Frühling an seiner Universität in Aleppo an den Protesten gegen das Assad-Regime beteiligt hatte. Und dann sei er noch gezwungen worden, Baschar al-Assad zu wählen, ansonsten hätte er keine Prüfungen schreiben dürfen. "Man musste eine Ja- oder eine Ja-Stimme abgeben", sagt Mohammad und grinst.

Nach zwei illegalen Festnahmen war das Leben in Syrien für den jungen Mann zu riskant. Er wollte nicht dasselbe Schicksal erleiden wie sein Onkel, der seit 1982 verschwunden ist. Der Geheimdienst habe ihn im Visier, weil schon sein Vater sich gegen die Diktatur engagierte. Auch Mohammads Schwestern, Brüder und seine Mutter sind aus Syrien geflohen, leben in der Türkei und Aserbaidschan. Einer seiner Brüder lebte in den Niederlanden und ist gestorben. Wenn er an ihn denkt, kommen ihm die Tränen und sein breites Lächeln verschwindet.

Regionalwahl gegen Populismus

Deutschland ist für Mohammad mittlerweile zur zweiten Heimat geworden. Also möchte er gerne die Zukunft mitbestimmen und wird bei den Kommunal- und Europawahlen seine Stimme abgeben. "Das Land hat mir Sicherheit gegeben. Daher muss ich und jeder, der wählen darf, den Weg für die Populisten sperren, damit die Geschichte mit dem Nationalsozialismus sich nicht wiederholt", sagt er entschlossen.

Was er nicht wählen wird, ist klar. "AfD, SPD und CDU kommen nicht in Frage." Sie seien alle im Wettbewerb, um Stimmen von AfD-Wähler:innen zu gewinnen und hätten ihm auch ansonsten programmatisch nichts zu bieten. Inflation, Ukraine-Krieg und "die Doppelmoral in der Nahostpolitik" – also gerne die Menschenrechte betonen, aber beim Gaza-Krieg einseitig für Israel sein – sowie die Tatsache, dass die Digitalisierung des Alltags selbst in Syrien fortgeschrittener sei, sind Themen, die ihn beschäftigen. Er habe den Eindruck, dass viele Politikerinnen und Politiker die Probleme der normalen Bürger:innen nicht wahrnehmen, sagt Mohammad. Und auch wenn er die Prinzipien der Grünen in punkto Umweltpolitik teile, überzeuge ihn deren Spitze gerade nicht. "Ich werde mich für eine der linken Parteien entscheiden."

Integration ist nicht nur Deutsch lernen und arbeiten

Auf kommunaler Ebene sind neben Ökologie die Themen Integration und soziale Gerechtigkeit für den ledigen Mann am wichtigsten. "Wir Migranten brauchen eine Chance, um an Spitzpositionen zu kommen – in Parteien oder Unternehmen." Von der Politik fordert er, mehr Räume für Dialog zu organisieren: "Wie soll man sich integrieren, wenn das Gegenüber es nicht erlaubt?"

Was ihn in Deutschland schockiert: dass er ständig nach seiner Religion gefragt wird. "Ich habe gedacht, Deutsche und Europäer wären offen und diskriminieren nicht wegen Religion." In Syrien, wo Alawiten, Sunniten, Drusen und verschiedene Konfessionen von Christen leben, sei er nie nach seiner Konfession gefragt worden. "Hier werde ich oft gefragt, sogar von Kunden", sagt Mohammad. Beim Praktikum habe ihn einmal einer, ein Rechtsanwalt, gefragt, ob er "Mohammedaner" sei und als er "ja" sagte, habe er ihn attackiert: "Wie kannst du an einen Idioten glauben?!", habe er gesagt. Heute ist Mohammad erfahrener und sicherer mit der Sprache. Wenn ihm einer mit dem Terrorismusvorwurf kommt, kontert er: "Sind alle Deutsche Nazis?"

Die aktuelle Debatte über die Werte des Islam und deren Vereinbarkeit mit deutschen Werten, die vor allem von der CDU und sowieso von der AfD angeheizt wird, betrachtet er als "einen Versuch, um Stimmen zu gewinnen". Werte seien für ihn unabhängig davon, wie man isst und betet. Und wenn Feiern von muslimischen Festen in der öffentlichen Debatte kritisiert wird, fragt er sich: "Warum ist Respekt vor den Traditionen von Mitmenschen als Bedrohung und Islamisierung zu sehen?" Sogar in Syrien übten Christen ihren Glauben frei aus und Weihnachten oder Ostern sind offizielle Feiertage, die von allen anderen Konfessionen respektiert würden. Mohammad wird zynisch: "Wäre ich in Syrien gewesen, als dort der IS, der Islamische Staat, gewütet hat, hätten diese Islamisten mich als Ungläubigen verfolgt. Und hier in Deutschland werde ich nur wegen meines Namens verdächtigt, ein Islamist zu sein."

Gegen Doppelmoral in der EU-Politik

Bei der Europawahl ist für den Deutsch-Syrer Migration das wichtigste Thema. Er weiß, was Menschen auf der Flucht erleben, dass viele sterben an den europäischen Außengrenzen. "Wir können unsere Augen nicht schließen. Auch wir in Deutschland sind schuld an der Situation der Menschen in anderen Ländern. Wir in Europa schicken unseren Müll und unseren Atommüll nach Afrika, wir erlauben Kinderarbeit in Asien und wenn die Menschen dann vor Kriegen oder Klimakrisen fliehen, verleugnen wir unsere Verantwortung ihnen gegenüber."

Die Migrationspolitik der EU kritisiert er scharf. "Ich war Opfer des Assad-Regimes und ich kann nicht akzeptieren, dass die EU Diktatoren und korrupte Systeme überall im Nahen Osten unterstützt, um Flüchtlinge von der EU-Außengrenze abzuhalten", sagt er in Bezug auf die jüngsten EU-Hilfspakete an Länder wie Ägypten und den Libanon. "Die richtige Alternative ist, Menschenrechte und Demokratie im Nahen Osten zu unterstützen. Nur so kann jeder in Würde in seinem Land leben."

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!