Es war an einem heißen Sommertag, als lieb gewonnene Glaubenssätze an der Realität zerschellten. Ich saß auf dem Betonboden einer Zürcher Badi, den Blick auf das überlebensgroße Wandbild auf der anderen Flussseite gerichtet. Inmitten des Schriftzugs "Smash Zionism" prangte das rote Dreieck, mit dem auch die Hamas Feind:innen markiert; gesprüht hatte es nach eigenen Angaben eine lokale autonome Jugendgruppe.
Meine damalige Sommerlektüre, das Buch eines israelischen Historikers über die Geschichte seines Landes, hatte ich zu Hause in letzter Minute gegen ein anderes getauscht. Bloß nicht öffentlich auffallen bei diesem Thema, mich nicht exponieren. Aber woher das plötzliche ungute Gefühl an einem Ort, an dem ich mich seit Jahren sicher fühle? War da so etwas wie Angst? Und wenn ja, wovor?
Bis zum 7. Oktober 2023 hatte ich zum jüdischen Teil meiner Identität ein distanziertes Verhältnis. Als jüdisch sah ich mich überhaupt nur deshalb, weil das Attribut meiner Familie Anfang der neunziger Jahre die Ausreise ermöglicht hatte: nach Deutschland, das mit der Aufnahme jüdischer Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion historisch Abbitte leisten wollte. Das Einzige, was der deutsche Staat von uns verlangte, war, irgendwie "jüdisch" zu sein. Welche Implikationen das hatte, wusste niemand aus meiner Familie; das jüdische Gemeindezentrum der Stadt, in der wir lebten, besuchten wir kaum.
Das Jüdischsein spielte keine Rolle
"Kontingentflüchtlinge" war der bürokratiedeutsche Begriff für Leute wie uns, dabei war es aus meiner Sicht nie eine Flucht gewesen, schließlich waren wir mit dem Zug gekommen und nicht in einem Boot übers Mittelmeer. Für meine Eltern sah die Sache schon anders aus: Sie flohen vor dem Eintrag unter Paragraf 5 im sowjetischen Pass, ethnische Zugehörigkeit: "jüdisch". Vor dem (staatlich geförderten) Antisemitismus, dessentwegen meiner Familie Studienplätze und Jobs verwehrt blieben. Vor einem gesellschaftlichen Klima auch, in dem die Schuldigen für die damals leeren Supermarktregale schnell gefunden waren.
Viele mit einem solchen Eintrag im Pass gingen nach Israel oder in die USA. Wir landeten in Deutschland. Auch später spielte das Jüdischsein für mich keine Rolle. Israel als Versicherung, falls es schlimmer werden sollte in Europa, Eretz Israel – hebräisch für Heimat – war für mich nie eine Verheißung, so konnte sie mit dem Massaker der Hamas auch nicht zerschlagen werden. Seit dem 7. Oktober aber kommt mir die Behauptung, ich würde nicht, wann immer ich etwas sage oder schreibe, als Jüdin sprechen, lächerlich vor.
In einem Essay schreibt Kulturvermittler:in Julia Alfandari über die derzeitige Stimmung in Deutschland: "Seit dem 7. Oktober hat die Figur des Juden eine weitere Dimension eingenommen." Jüdinnen und Juden würden für die Rechtfertigung einer rassistischen Asylpolitik instrumentalisiert. "Hinter jedem 'Migranten' steckt potenziell ein Antisemit. Inmitten einer aufgeheizten Antisemitismusdebatte, inmitten ansteigender antisemitischer Vorfälle wird über Abschiebungen im großen Stil gesprochen. Damit buhlt man um Wählerstimmen am rechten Rand, bekämpft aber sicher keinen Antisemitismus", so Alfandari.
Beim Lesen denke ich über den Schweizer Diskurs nach: über die rechte Publizistik (und Politik), die sich für Israel in die Bresche wirft, um ihrem antimuslimischen Rassismus zu frönen.
Eine Sprache, die auf Entmenschlichung zielt
Vor dem Ersten Weltkrieg, so schreibt es der Schweizerische Israelitische Gemeindebund, seien die meisten der ausländischen jüdischen Menschen in Zürich "Ostjuden" gewesen. "Ostjude" ist ein völkisch-antisemitisches Schlagwort, in der NS-Propaganda mit den Attributen "faul", "arbeitsscheu" und "unproduktiv" verknüpft. In der Schweiz erhielten Jüdinnen und Juden erst 1866 Bürger:innenrechte. 1917 schrieb sich Heinrich Rothmund, der Chef der soeben gegründeten Fremdenpolizei, den Kampf gegen die "Verjudung" auf die Fahne. Im Kopf hatte er dabei jene, die nach der Russischen Revolution nach Westen flohen: die "jüdischen Bolschewisten", wie es die Propaganda nannte. "Bei typischen Ostjuden wird stets die erste Generation von der Einbürgerung auszuschließen sein", hielt Rothmund fest.
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bedellus
am 09.10.2024