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Gabriele Renz' "Der Beamte Wieler"

Einblicke ins Innenleben

Gabriele Renz' "Der Beamte Wieler": Einblicke ins Innenleben
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Politik spielt auch abseits der großen Bühnen. Die frühere Pressesprecherin des baden-württembergischen Landtags hat einen Roman verfasst, der vermittelt, wie es hinter den Kulissen zugeht. Kontext veröffentlicht ein Kapitel vorab.

Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen seien reiner Zufall, schreibt der Molino-Verlag im Nachwort des Buches "Der Beamte Wieler". Erscheinen wird der Roman am 15. Oktober. Und auch wenn es für die handelnden Figuren offiziell keine realen Vorbilder gibt, gewährt das Buch Einblicke in die Mechanismen der Macht. Für authentische Darstellungen sorgt der berufliche Werdegang der Autorin: Gabriele Renz arbeitete knapp drei Jahrzehnte für die Tageszeitung "Südkurier", davon 17 Jahre als landespolitische Korrespondentin. 2017 wechselte sie die Seiten und wurde für drei Jahre Pressesprecherin des baden-württembergischen Landtags. Inzwischen leitet sie die Kommunikation der Architektenkammer Baden-Württemberg.

Im Zentrum ihres Romans steht ein biegsamer Karrierist, der für eine Landtagspräsidentin arbeitet. Neben Intrigen um Spitzenämter und Feindschaften zwischen Parteifreund:innen zeigt Renz Ängste auf, die politisches Spitzenpersonal abseits großer Bühnen plagen können. Zum Beispiel, wenn Scham und Verunsicherung wegen des eigenen Dialekts überhand nehmen – bei der Rednerin selbst und vor allem bei eben jenem Beamten Wieler, der mit ihr Hochdeutsch trainiert. 


Wieler nahm vor seiner Chefin Platz und legte die Blätter aus wie eine Partitur. Seite eins bis zwanzig. Der honiggelb getäfelte Prachtsaal des Hauses mit dem Blick in das funkelnde Dunkel der Nacht, ein Flügel auf der Bühne und die Chefin daneben. "Die Bergpredigt zwischen politischem Anspruch und tonaler Interpretation" – kein leichtes Thema, dachte Wieler, aber er würde das hinbekommen. 

Die Idee hatte eigentlich ein Bekannter seiner Frau, der einen kannte, der den Text aus Matthäus, Zeilen 5–7, als Oratorium vertont hatte. Warum das nicht zusammenbinden, Politik und Musik und Kirche? Wieler wärmte sich, solange die Chefin noch nicht im Büro war, schon jetzt an der Vorstellung des spätabendlichen Lobes daheim in der Küche oder stellte sich vor, wie Freunde staunen würden über die Qualität einer solchen Veranstaltung. 

Nie zuvor hatte das Haus Derartiges geboten. Vorgänger der Chefin hatten Schlagzeilen gemacht mit überheblichen Bestellungen von Dienstwagen oder reger Reisetätigkeit in dubiose Ölstaaten. Die Chefin brachte Geist ins Hohe Haus. Anspruch! Intellekt! Und wer hat die Chose ins Laufen gebracht? Wieler strahlte, dann verzog sich sein Gesicht zu einem diabolischen Grinsen. 

Die Chefin war außer Atem und von elender Laune. Sie habe gerade Kalbmayer (Anmerkung der Redaktion: Einer der langgedienten Spitzenbeamten im Landtag) getroffen auf der Treppe. Das nächste Mal nehme sie den Aufzug aus der Tiefgarage. "Du glaubsch it, was der sich traut. Erst hab' ich's gar it gmerkt. Des fing harmlos an: Er bewundert mich für die Aktion in Hessenheim, sagt der. Noch nie hätte ein Chef der Institution solche schillernden Gesprächspartner g'winnen können wie ich. Dann sagt der tatsächlich: Er frage sich nur, wozu? Jetzt fängt der Kalbmayer auch an, ich glaube, es hackt. Diese Brunzkachel." 

Wieler schaute auf. Die Chefin rollte das R noch allgäuerischer als sonst. Solche Wörter, diese Aussprache, ein Rückfall. Aber vielleicht war es zu etwas gut. Die Chefin war in Unruhe, nicht eben die beste Voraussetzung für die bevorstehenden Vortragsübungen, dachte Wieler und beschwichtigte: Der Kalbmayer sei durch die anderen angesteckt, den müsse man in ein eigenes Jour Fixe einbinden, dann sei Ruhe. Er mache das schon, sagte Wieler, und drängte, seltsam aufgekratzt, zur Arbeit. Sie müsse sich auf den Text konzentrieren, die schwierigsten Wörter habe er mit Leuchtmarker unterlegt. 

Zehn Buchstabenkombinationen, die für die Chefin Stolperstellen sein könnten, seien es in etwa. Auf dem Redemanuskript werde das dann nicht mehr zu sehen sein, nur zur Übung. Ansonsten habe er wie gewohnt die Betonungshaken gesetzt. Die Chefin legte los. 

"'Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen.' Diesen Satz soll Bismarck gesagt haben. Er ist falsch. Politik geht immer von Visionen aus. 'Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden.' Diesen Satz der Bergpredigt zitiere ich nicht, um die Wirklichkeit zu beschreiben, denn leider ist das Gegenteil der Fall. Ich zitiere ihn, um das Licht am Ende des Tunnels aufzuzeigen. Wer sich von dieser Vision entfernt, entfernt sich von unserem Gemeinwesen, er stellt sich über das Wir …" 

Wieler las leise mit, nun unterbrach er. 

"An der Stelle mit der Gerechtigkeit musst du aufpassen, es klang etwas zu sehr nach Dialekt. Entspann dich, es wird gutgehen." Gerechtigkeit, obwohl es in vielen Reden vorkam, war für die Chefin, wenn sie nervös war, kein gutes Wort. Dann sprach sie es aus wie mit einem Trennungsstrich versehen zwischen g und k, und an das k schloss sich ein Kehllaut an. Das rollende R und der Kehllaut verdichteten sich zu einer steinigen Konsonantenpiste. 

Der Große Vorsitzende kann es doch auch

Kurz nach ihrer Wahl hatte sich die Chefin mit einem Schulkameraden aus ihrem Dorf getroffen, der es bis an die Spitze eines Ölkonzerns geschafft hatte und nach Jahrzehnten auf der ganzen Welt in Austin, Texas, gelandet war. In seinem Deutsch war jeglicher Hinweis auf seine Herkunft gelöscht, gerade so, als hätte er nie in dem Zweihundert-Seelen-Weiler am Alpenrand gelebt. Das machte die Chefin unsicher, unsicherer als es nötig gewesen wäre, denn auch die Siegerstraßenpartei schätzte bei ihren Politikern Dialekt durchaus. Das sei charmant und hörbares Zeichen von Heimat, hatte sich sogar der Große Vorsitzende ausgelassen, doch der konnte seinen weicheren Dialekt der Alb ausknipsen, wenn er aus dem Flugzeug stieg. Er konnte das. 

Heimat war nicht nur bei den Siegersträßlern, sondern in allen Parteigruppen ein beliebtes Thema in Reden: Heimat konnte jederzeit getrost eingebaut werden. Heimat passte immer und die Konkurrenz konnte gegen das Beschwören von Heimat schlechterdings nichts einwenden. Die Grußworte und Ansprachen troffen nur so von Heimaten. Auch und gerade die Mehrzahl wurde von der Chefin gern benutzt, schon weil die Fernsehmoderatorin es tat. 

"Heimat ist nie nur ein Ort. Jeder Mensch hat tausend Heimaten." 

Dann wurde aufgezählt: Kässpatzen, Kachelofen der Oma, der Dialekt, Berghügel, Schnittlauch und der Herrgottswinkel. Irgendwann spürten alle Redenschreiberinnen eine Heimatensättigung, so als habe man sich an einer Süßspeise überessen, und von einem Tag auf den anderen ließen sie es wieder sein. 

Nach der Heimat kam die Verantwortung, dann das Gemeinwesen oder das "Wir", wobei das wiederum eine Spezialität der Siegerstraßenpartei war. Die Chefin war die Leiter nach oben geklettert, gerade weil sie aus dem sogenannten ländlichen Raum kam und ihre Politik für "Frosch und Frau" authentisch rüberkam. Es galt immer fein zu unterscheiden, ob etwas wahr oder ob es glaubhaft dargebracht wurde. Dann hatte es nicht wahr sein müssen. So sind nun mal die Regeln der Politik. 

Viel später erst wurde ihr Narrativ ausgebaut als ein Gegenmodell zu den Trutschen und Weiberln aus dem katholischen Flecken, weil sie aus der Enge ausgebüxt war und nicht etwa, weil sie feministische Ambitionen gehabt hätte. Es war ein großes Missverständnis, aber dies aufzulösen, nahm sich so viele Jahre später niemand als Anlass. Die Chefin war in der Erzählung der Siegerstraßenpartei diejenige, die mit der angestammten Rollenverteilung zu Lasten der Frau in schwierigstem persönlichem Umfeld gebrochen hatte und dafür, wiewohl das keiner am Hirschen-Stammtisch in Unterstaufen je für möglich gehalten hätte, die Zustimmung der meisten Wählerinnen und Wähler bekam. Ortsverein, Gemeinderat, Hauptstadt – die junge Frau, die gern und viel lachte, glitt wie im Fahrstuhl ohne Zwischenstopp nach oben. In der obersten Etage angekommen, meldeten sich, wenn sie vor vielen Leuten sprach, aber auf einmal Unsicherheiten, wo früher keine waren. Ihre Sprechpausen gerieten zu lang oder sie brach Sätze ab, rutschte in Umgangssprache oder wiederholte sich. Das Treffen mit dem Öl-Michl, ihrem alten Sitznachbarn aus der Grundschule, trug nicht gerade dazu bei, ihr Selbstbewusstsein zu heben. 

Karrieren nicht dem Zufall überlassen

Ihre Antrittsrede hatte die Chefin noch selbst entworfen. Sie hatte den viel gerühmten Vorgänger von Rosalind Weller in ihr Büro gebeten. Zwei, drei Stunden saß sie mit dem bestbeleumundeten Redendichter der Beharrlichen beieinander. Damals waren ihr noch lebendig die Worte ihres Vaters im Sinn, gesagt in ihrem letzten, dann doch noch versöhnlichen Gespräch vor seinem Tod: Sie solle nie ein solcher "idrissierter Mensch" werden wie andere in der Politik, selbst in der Partei, der er zeitlebens nahestand, hätten die Hochgestochenen, die Schnösl, das Sagen. Seine Tochter möge auf dem Boden bleiben, ganz wie es Tradition sei bei iis drhui – bei uns daheim. Heimat, dachte die Chefin inzwischen wieder öfter, wo war ihre wirklich? 

Als sie an die Spitze des Hauses gewählt wurde, begann sie, mit einer Logopädin ihre markante Aussprache zu schleifen. Das taten, was tunlichst verschwiegen wurde, viele Politikneulinge. Es war ihr Vertrauter Wieler, der zaghaft angedeutet hatte, es werde bisweilen etwas gelächelt, wenn sie in ihrer Aufregung manche Konsonanten im Heimatdialekt ausspreche. Auslachen, das natürlich nicht, hatte sich Wieler sofort beeilt nachzulegen. Die Chefin war zu Beginn von Dankbarkeit durchströmt, wenn sie an Wieler dachte. Ohne ihn …? 

Selbstverständlich war Wieler ebenso wenig zufällig am Stand der aussichtsreichen Kandidatin aufgetaucht, wie er nun den Sprachcoach gab. Die Übungsstunden waren Ergebnis langer Vorbereitungen – die seiner Frau, um genau zu sein. Die Buch- und Papierstapel auf ihrem Nachttisch waren nicht vergeblich durchgeackert worden und wuchsen wie Stalagmiten in die Höhe. 

Im Hause Wieler war die Chefin als Projekt auserkoren worden. Wieler, der sich seine ganze Schulzeit über, ja noch im Studium, mit einem halblöchrigen Gedächtnis mühte, wurde von seiner Frau nicht nur mit dem Lobeshymnen-Karton, sondern auch mit einer Aufbauskizze versorgt, die ihm alles abverlangte. Ein Schema mit Kästen und Pfeilen, aufgemalt und geschrieben mit königsblauer Tinte: sanfter Einstieg (Defizite identifizieren), Defizite als bereits bekannt benennen (Umfelddruck), Hilfe anbieten (Lösungskompetenz/ Wohlfühlatmosphäre). 

Der Dreisprung sah also durchaus vor, dass Wieler – er hielt sich sklavisch an Vorgaben – die Chefin wissen ließ, dass ihm persönlich ihre Sprachfärbung gefalle. Nur hätte er im Übereifer der Pflichterfüllung nicht auch noch sagen müssen, er finde das sogar sexy. Darüber regte sich seine Frau beim abendlichen Rapport für einen Moment auf, weil die Chefin falsche Schlüsse hätte ziehen können. 

Horchposten im Schutze des Urinals

Doch diese war vor allem dankbar, in Person dieses getreuen Wieler jemanden getroffen zu haben, der ihr nicht das Gefühl gab, weniger wert zu sein, wie es der Bernauer (Anmerkung der Redaktion: Noch eine Spitzenkraft im Landtag) oder der Kalbmayer taten. Sie war überzeugt davon, Wieler meine es ehrlich mit ihr. Und er hatte ja recht, bei den schweren Themen, ging ihr manchmal die Zunge durch … 

"Ich verstehe gut, dass du etwas aufgeregt bist, das wäre jeder, aber bei solchen Reden sollte halt nichts ablenken. Wir könnten, wenn du willst, das Manuskript mal zusammen durchgehen", hatte Wieler damals vorgeschlagen, dazu bubenhaft gelacht und endlich von seinem schwarzen Büchlein aufgeschaut. Wieler kümmerte sich, das war gut. Was auch immer geredet wurde, und es wurde geredet, wie Bernauer ihr neulich berichtete. Hatte der nichts Besseres zu tun, als sich über Gerüchte Gedanken zu machen? Sie wolle das nicht hören, solches Gequatsche sei es nicht wert, wahrgenommen zu werden, hatte sie ihren Oberleiter beschimpft. Er, Bernauer, müsse aufpassen, was er rede, herrschte sie ihn noch vor der Tür an, wo jeder mithören konnte, der sich von dem stillen Örtchen wieder an den Schreibtisch bewegte oder eben gerade nicht, weil im Schutze des Urinals gut Horchposten einzunehmen war.

Und weil sie gerade in Rage war, bombardierte sie den um Fassung ringenden Bernauer: Ob er den Brief an den parlamentarischen Rat endlich fertig habe. Auf den warte sie schon seit Wochen. Und die Liste mit Fallbeispielen für das Oberste Gremium kommenden Dienstag. Und die zehn Eckpunkte der Argumentation für den Anwalt dieses Nazis. Der Bernauer hatte sich nicht einmal verabschiedet, hing sie ihren Gedanken nach. Hatte er im Weggehen nicht etwas gemurmelt, das sich anhörte wie Wieler. Sie hatte den Oberleiter, wiewohl Parteifreund, langsam, aber sicher satt. 

Wieler dagegen hatte Geduld, und wie er sie hatte. Jetzt musste er seine Chefin aber aus ihren Gedanken holen. Kleine Atempausen taten gut. Doch Schnurpl wartete zuhause. Wieler bat, weiterzumachen. "Nochmal ab 'Selig'", sagte er und legte, von sich selbst fast unbemerkt, seinen Arm um die Schulter der Vorgesetzten, erst später auf dem Nachhauseweg wurde ihm die Unangemessenheit seiner Geste gewahr. 

Ins Vorzimmer rief er, Frau Charon solle in den nächsten zwei Stunden niemanden hereinlassen. 

"Und Presse?" rief die Assistentin. 

"Niemanden!"
 

Vorabdruck aus Gabriele Renz' Buch "Der Beamte Wieler – Protokoll einer Karriere", das am 15. Oktober im Molino-Verlag erscheint. 208 Seiten, 18 Euro.

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1 Kommentar verfügbar

  • Wolfgang Baumann
    am 19.10.2024
    Antworten
    Wer sich einen weiteren Leckerbissen des politischen Schlüsselromans im "Ländle" erhofft hatte, wird leider bitter enttäuscht. Schlimmstes, adjektiv-übersättigtes Bürokraten-Phrasendeutsch, offenbar von keinerlei Lektorat gebändigt, paart sich fortwährend mit der Unfähigkeit, eine Geschichte zu…
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