Gerade im Südwesten wähnten sich die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei, wollten sich richtig breitmachen in der Mitte der Gesellschaft, den Takt vorgeben für den Bundesverband, mit dem von Realos geprägten Profil und dem so ungewöhnlichen Aushängeschild. Vielbeschrieben ist Winfried Kretschmanns noch vor der Landtagswahl gehaltene, heftig beklatschte Rede auf der Bundesdelegiertenkonferenz 2010 in Freiburg mit der heftigen Kritik an Stuttgart 21, mit der Ankündigung eines neuen demokratischem Umgangs. Er versprach den weitreichenden Umbau des Schulsystems und rief nach "harten, ökologischen Ordnungsregeln für den Markt". Das Bild vom dicken Brett, das die Grünen drei Jahrzehnte gebohrt hätten, benutzt er später als Ministerpräsident noch oft. Einmal wird er auf einer Veranstaltung sogar gebeten, den Beweis anzutreten – und durchbohrt dann als versierter Handwerker das Stück Holz fachgerecht.
Stuttgart-21-Beichte
Ganz egal, wann der überflüssigste aller Tiefbahnhöfe tatsächlich eröffnet wird, es könnte sich lohnen, Winfried Kretschmann (Grüne) als Festredner zu laden. Denn der Ministerpräsident hat kürzlich durchblicken lassen, dass ihn der Gedanke umtreibt, Tacheles zu reden und die ganze Geschichte – zumindest auch – aus der Sicht eines Kritikers der ersten Stunde zu erzählen. Sollte er den Plan ernsthaft verfolgen, muss auch aufs Tapet, wie sehr sich die Grünen schon in den Koalitionsverhandlungen – vor allem aber rund um den Stresstest im August 2011 und über die vielen Wochen vor der Volksabstimmung in Bockshorn – haben jagen lassen. Denn Stuttgart 21 hat den Stresstest nicht bestanden. Im Schulterschluss ist es Sozialdemokrat:innen, allen voran dem damaligen SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel, Hardcore-Befürworter:innen und der DB aber gelungen, diesen Eindruck zu vermitteln und dafür zu sorgen, dass er sich festsetzt. So gesehen wäre überaus spannend zu erleben, wie Kretschmann heute über den Projektwerdegang denkt und die vertanen Chancen. (jhw)
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Wes
am 03.04.2024