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Grüne in Baden-Württemberg

Der fliegende Teppich ist eingerollt

Grüne in Baden-Württemberg: Der fliegende Teppich ist eingerollt
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Nach den Landtagswahlen im März 2011 nahm die Ära von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ihren Anfang. 13 Jahre später sind viele Pläne umgesetzt, etliche Versprechen gebrochen und einige Hoffnungen unerfüllt.

Gerade im Südwesten wähnten sich die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei, wollten sich richtig breitmachen in der Mitte der Gesellschaft, den Takt vorgeben für den Bundesverband, mit dem von Realos geprägten Profil und dem so ungewöhnlichen Aushängeschild. Vielbeschrieben ist Winfried Kretschmanns noch vor der Landtagswahl gehaltene, heftig beklatschte Rede auf der Bundesdelegiertenkonferenz 2010 in Freiburg mit der heftigen Kritik an Stuttgart 21, mit der Ankündigung eines neuen demokratischem Umgangs. Er versprach den weitreichenden Umbau des Schulsystems und rief nach "harten, ökologischen Ordnungsregeln für den Markt". Das Bild vom dicken Brett, das die Grünen drei Jahrzehnte gebohrt hätten, benutzt er später als Ministerpräsident noch oft. Einmal wird er auf einer Veranstaltung sogar gebeten, den Beweis anzutreten – und durchbohrt dann als versierter Handwerker das Stück Holz fachgerecht.

Stuttgart-21-Beichte

Ganz egal, wann der überflüssigste aller Tiefbahnhöfe tatsächlich eröffnet wird, es könnte sich lohnen, Winfried Kretschmann (Grüne) als Festredner zu laden. Denn der Ministerpräsident hat kürzlich durchblicken lassen, dass ihn der Gedanke umtreibt, Tacheles zu reden und die ganze Geschichte – zumindest auch – aus der Sicht eines Kritikers der ersten Stunde zu erzählen. Sollte er den Plan ernsthaft verfolgen, muss auch aufs Tapet, wie sehr sich die Grünen schon in den Koalitionsverhandlungen – vor allem aber rund um den Stresstest im August 2011 und über die vielen Wochen vor der Volksabstimmung in Bockshorn – haben jagen lassen. Denn Stuttgart 21 hat den Stresstest nicht bestanden. Im Schulterschluss ist es Sozialdemokrat:innen, allen voran dem damaligen SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel, Hardcore-Befürworter:innen und der DB aber gelungen, diesen Eindruck zu vermitteln und dafür zu sorgen, dass er sich festsetzt. So gesehen wäre überaus spannend zu erleben, wie Kretschmann heute über den Projektwerdegang denkt und die vertanen Chancen.  (jhw)

Heute ist ziemlich vieles ziemlich anders und der Gegenwind erheblich. Ökologische Themen hängen fest im Konjunkturloch der öffentlichen und veröffentlichten Meinung. Es ist keineswegs sicher, dass sie da vor den Wahlen 2025 zum Bundestag und im Jahr darauf zum baden-württembergischen Landtag wieder herauskommen. Eben erst hat Allensbach im Auftrag der FAZ erhoben, wie relativ randständig die Grünen wieder sind. 56 Prozent der republikweit Befragten klagen, die Partei könne ihnen "gar nicht mehr gefallen". Mehr als doppelt so viele wie vor fünf Jahren. Und wer sie heute gut findet – nur acht Prozent –, der begründet dies zuallererst mit dem Markenkern: mit den traditionellen Themen Umwelt- und Klimaschutz.

Der Traum vom Vollsortimenter ist also ausgeträumt, der fliegende Teppich, auf dem zu bleiben Kretschmann seine Partei immer wieder aufgefordert hat, eingerollt, und nicht nur die Gegenwart kompliziert. Die Grünen, auch die erfolgsverwöhnten, müssen einer schwierigen Zukunft entgegensehen. Ihr Ruf, in den Lebensstil von Menschen eingreifen und sie bevormunden zu wollen, klebt wie Harz. Dabei sagt die weitverbreitete Haltung weniger über die Partei aus als über das noch immer fehlende Bewusstsein, dass im Kampf gegen die Erderwärmung massive staatliche Interventionen dringlicher werden. Aber 60 Prozent der Deutschen wollen nun mal keine strengeren Maßnahmen, hat Civey zu Wochenbeginn ermittelt.

Und wenn dann in immer heißeren Sommern, nach großen Überschwemmungen oder angesichts der immer schneller als prognostiziert steigenden Temperaturen zum ohnehin vorhandenen Besserwisser:innen-Image noch die Erkenntnis hinzukommt, dass die Grünen tatsächlich recht behalten – selbst dann ist größere Akzeptanz noch längst kein Selbstläufer. Eher im Gegenteil: Schon jetzt ist unübersehbar, wie vor allem Union und FDP wenig Hemmungen kennen, vom eigenen langjährigen umweltpolitischen Versagen abzulenken. Kretschmann hat Hochzeiten verstreichen lassen, hat es auch selber nicht geschafft, eine Koalition der Willigen zu etablieren, die beim Kampf gegen den verharmlosend sogenannten Klimawandel mitzumachen bereit ist.

Benzin ist immer noch zu günstig

Der Versuch, seine Rolle über die Regierungsjahre zu bewerten, führt zu zwiespältigen Befunden. In einem seiner ersten Interviews nach dem Einzug in die Villa Reitzenstein war er konfrontiert worden mit der aus den Neunzigerjahren stammenden Forderung nach einem Benzinpreis von fünf Mark. Er hätte sagen können, dies sei aber mal eine gute Gelegenheit, mit einer Legende aufzuräumen, denn die Idee stamme nicht von den Grünen, sondern vom Gründer des Umweltbundesamts, einem Stuttgarter FDPler namens Heinrich von Lersner. Der hatte im "Spiegel" die fünf Mark ins Spiel gebracht, weil seine Behörde analysiert hatte, dass bei damals 4,60 Mark eine "einschneidende Grenze" liege, die das erwünschte Ziel von 20 Prozent weniger Verkehr in erreichbare Nähe bringen werde. Stattdessen sagte Kretschmann dies: "Na gut, so einen Fehler macht man nicht zweimal."

Der andere, der viel größere Fehler war und ist, die eigene und so hohe Reputation nicht stärker genutzt zu haben. 2011 waren bei Infratest-Dimap 62 Prozent der Befragten zufrieden mit der Arbeit des frischgebackenen Ministerpräsidenten, die Werte kletterten in den Folgejahren bis über 80. Gegenwärtig liegen sie bei nur noch 51 Prozent; wenn aus Vergleichsgründen die große Ablehnung unter AfD-Wähler:innen herausgerechnet wird, sind es immerhin noch 70. Sein Wiederantreten 2021 begründete der Ex-Studienrat mit seinem Anspruch, den Menschen auch unangenehme Botschaften zu vermitteln.

Die inzwischen wichtigste, weil bei der Investitionskraft so viele Fäden zusammenlaufen, umschifft der 75-Jährige mehr oder weniger elegant: Er wirbt nicht offensiv für eine Reform der Schuldenbremse. Der CDU ist das komplexe Thema weitgehend überlassen, deren Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel serviert gebetsmühlenhafte Bekenntnisse à la "keine Politik auf Pump und zulasten unserer Kinder und Enkel machen zu wollen".

Ein paar Unsitten sind überwunden

Kretschmann hätte sogar das Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2021 auf seiner Seite. "Danach darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würden", lautet einer der Schlüsselsätze aus Karlsruhe. Der Stuttgarter Regierungschef allerdings unternimmt nicht einmal den Versuch, zugunsten der Grünen um die Meinungsführerschaft zu kämpfen – mit dem eigentlich leicht fasslichen Argument, dass der Verzicht auf Investitionen nicht nur in die Klimawende, sondern auch in Bildung, Mobilität, erneuerbare Energien oder Wohnungsbau erst recht zulasten künftiger Generationen gehen werde. Gerade in der Endphase der eigenen Karriere müsste er noch einmal in die Vollen gehen.

Vieles ist – heute weitgehend vergessen – dennoch erledigt worden. Schon wenige Monaten nach dem Wahlsieg 2011 von Grünen und SPD war Schluss mit der schwarz-gelben Unsitte, gleichgeschlechtliche Paare bei der Verpartnerung in unattraktive Räume zu verdrängen, dafür aber mehr Geld zu verlangen. Die allgemeinen Studiengebühren wurden abgeschafft. Der Irrweg der Vorgängerregierung von einer "unternehmerischen Hochschule" überwunden und die Verfasste Studierendenschaft eingeführt.

Später klappte eine Umstrukturierung von Fördermitteln für die Verkehrsinfrastruktur zugunsten der Schiene oder die Verfassungsänderung zugunsten der Schiene. Die Liste umgesetzter Initiativen hat ohnehin Überlänge, allen voran, wie gelungen ist, die "Politik des Gehörtwerdens" samt Verfassungsänderung, Volksantrag oder Bürger:innenräte mit Leben zu füllen. Hängen bleibt – aktuell können auch Bundesspitze und -minister:innen ein mehrstrophiges Lied davon singen –, was nicht klappen will. Oder nicht in der notwendigen Geschwindigkeit, im Südwesten steht als Pars pro Toto der Ausbau der Windenergie.

Wortbrüchiger Koalitionspartner

"Der Wechsel beginnt" war das Motto des ersten Koalitionsvertrags. Die 94 Seiten zeugen bis heute vom euphorischen Start in eine neue Zeit. Wie tief die Bremsspuren waren, als es 2016 nicht mehr für eine Mehrheit von Grünen und Sozialdemokraten reichte, zeigte sich erst nach und nach. Und sie sind viel länger als angenommen aus zweierlei Gründen. Erstens ist mit der zahlenmäßigen Stärke der größeren Regierungsfraktion im Landtag eine schleichende Entpolitisierung einhergegangen, weil sich zu viele Abgeordnete nicht gerade als Schwergewichte entpuppten und von nur mäßigen Ambitionen beflügelt sind.

Zweitens griff und greift die nunmehr wieder mitregierende CDU zunehmend in die – dank 58 Jahren Hegemonie im Südwesten – gut gefüllte Trickkiste. 2016 wurden viele Reformen, sogar der so dringend notwendige Umbau des Schulsystems, kalt lächelnd und ohne anhaltenden grünen Widerstand gestoppt, 2021 noch kälter lächelnd weitreichende Details auf zahlreichen Feldern vereinbart und per Unterschrift im Koalitionsvertrag besiegelt, um wieder in die Regierung zu kommen. Die gemeinsame Umsetzung bleibt auf der Strecke, immer öfter grätscht die CDU stattdessen dazwischen.

Beschlossen zum Beispiel ist eine Lkw-Maut. "Im Rahmen der Verkehrsministerkonferenz wollen wir eine bundesweite Regelung auch auf Landes- und Kommunalstraßen nach Schweizer Vorbild für Lkw mit mehr als 7,5 Tonnen auf den Weg bringen", heißt es. Und weiter: "Sollte sich das nicht realisieren lassen, streben wir in der zweiten Hälfte der Legislatur eine geeignete landesrechtliche Regelung an." Die wird jetzt genauso offen torpediert wie das Antidiskriminierungsgesetz, ein "Bürokratiemonster, das wir uns schlicht und einfach nicht mehr leisten können", so Winfried Mack, wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion.

Dabei steht mit den Schulfriedens-Verhandlungen, die nach Ostern fortgesetzt werden, eine der größten Prüfungen noch bevor und sogar der Ministerpräsident im Wort. Vor 13 Jahren hatte er sich zu Recht im Sinne der Kinder und Jugendlichen, der Eltern und Lehrkräfte weit aus dem Fenster gelehnt mit seinem Bekenntnis zum längeren gemeinsamen Lernen und Lehren. Mehr Bildungsgerechtigkeit sollte endlich Einzug halten in Baden-Württemberg. Was ohne eine Umstrukturierung des Schulsystems, wie die Erfolge anderer Länder zeigen, aber nicht funktionieren kann. Wenn die Grünen sich diese Pläne auch noch verwässern lassen, bekommt Manuel Hagel womöglich recht mit seiner vollmundigen Einschätzung, die bereits verdächtig nach Wahlkampf klingt: "Das politische Erbe von Winfried Kretschmann wird bei uns in guten Händen sein."

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1 Kommentar verfügbar

  • Wes
    am 03.04.2024
    Antworten
    Stuttgart21 ist Blödsinn. Wer schon das nicht verhindern kann, wie sollte der den Rest können.
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