KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Ein böses Weib an der Stuttgarter Oper

Nacktheit als Freiheitsgeste

Ein böses Weib an der Stuttgarter Oper: Nacktheit als Freiheitsgeste
|

Datum:

Florentina Holzingers "Sancta"-Performance hatte im Stuttgarter Opernhaus Premiere. Der Shootingstar der Theaterszene nimmt darin die frauenfeindliche Lehre der katholischen Kirche und deren regressiven Umgang mit Sexualität und Körperlichkeit ins Visier.

Zurück Weiter

Adam hängt nackt in seiner Höhenhängematte, als er hungrig, aber träge von Eva einen Apfel verlangt, den sie ihm nur dank Räuberleiter zureichen kann. Peng! Sofort kracht der Verdammungsspruch Gottes auf sie nieder – expressiv hingedonnert von der kleinwüchsigen Schauspielerin Saioa Alvarez Ruiz in Papstmontur, die vom Arm eines Roboterkranes gehalten wird (der sie später auch virtuos durch die Luft wirbeln lässt). Ja, Eva, böses Weib: verführt den nichtsahnenden Adam und muss zur Strafe ab jetzt unter Schmerzen gebären und sich dem Mann unterwerfen. Das ist Florentina Holzingers spezifischer Humor: die Vertreibung aus dem Paradies als lächerliche Willkür zu entlarven und gleichzeitig das eigene Tun ein bisschen auf die Schippe zu nehmen. Adam (natürlich gespielt von einer Frau) findet seine Textilfreiheit plötzlich peinlich, derweil es auf der Bühne munter weitergeht mit dem Nackttanz.

Scham? Nein, es geht hier um Nacktheit als legere Freiheitsgeste wider die Körpernormen. Außerhalb des Theaters (im Film oder in Magazinen) werden nackte Körper ja nur gezeigt, solange sie perfekt sind. Diesem Druck setzte das Theater des 20. Jahrhunderts immer wieder aus Protest die nackte Wahrheit entgegen. So auch Holzinger. Wobei speziell der entblößte weibliche Körper nach wie vor provoziert, ja aggressiv wirken kann. Weil es um Selbstermächtigung geht: sich als Frau auch enthüllt zu zeigen, wenn der Körper nicht der männlich fantasierten Norm entspricht. Und es geht Holzinger auch immer darum, Körper bei der Arbeit zu zeigen – abseits jeder Pornografie. Im Gegensatz zu vielen anderen Regisseur:innen, die von ihren Schauspieler:innen die Entblößung einfordern, steht sie zudem immer, auch während der Aufführungen, selbst nackt mit auf der Bühne. Das ist schon ein gewaltiger Unterschied.

Es ist jedenfalls ein klasse Coup der Staatsoper Stuttgart, sich dem neuesten Projekt von Florentina Holzinger, die international längst zu den prägenden choreografierenden Theatermacherinnen zählt, kooperativ angeschlossen zu haben. Nach Schwerin und den Wiener Festwochen durfte ihre Performance "Sancta" also jetzt in Stuttgart ihre dritte Premiere feiern.

Kurzoper dient als Show-Intro

Der Abend beginnt mit Paul Hindemiths Kurzoper "Sancta Susanna". Sie wurde 1922 für die Stuttgarter Oper geschrieben, wo sie aber aus Skandalfurcht nie zur Aufführung kam. Im Libretto des Expressionisten August Stramm geht's um eine Gruselstory weiblicher Lustunterdrückung: Von Frühlingsgefühlen und dem Liebesgetändel eines Pärchens im Klostergarten erweckt, wird sich die junge Nonne Susanna ihrer sexuellen Begierden bewusst, die sich schließlich am Klosterkirchenkruzifix an der Figur des gekreuzigten Jesus entladen. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Körperlichkeit und Sexualität als satanischer Frevel.

Kunst mit allen Mitteln

Florentina Holzinger, österreichische Performancekünstlerin und Choreografin, 1986 in Wien geboren, wurde ausgebildet an der School for New Dance Development an der Amsterdamse Hogeschool voor de Kunsten. Sie gilt als Shootingstar der Tanz- und Theaterszene. Ihr bisher erfolgreichster Coup: "Ophelia's Got Talent" (2022), das zum Berliner Theatertreffen 2023 eingeladen und unter anderem mit dem Faust-Award ausgezeichnet wurde. Typisch für Holzingers Tanzstücke sind sexuelle und körperliche Grenzüberschreitungen, Selbstverletzungen und Akrobatik. Inspiriert vom Wiener Aktionismus, der Körperkunst und dem Bodybuilding, aber auch von Elementen des klassischen Balletts, Kabaretts und Zirkus', dekonstruiert sie in jeder Performance die traditionellen Definitionen von Weiblichkeit und führt sie ad absurdum. Dies zeigt sich auch in der vielfältigen Besetzung ihrer Company: Neben Performerinnen mit tänzerischer Ausbildung stehen mit ihr Stuntfrauen, Sexarbeiterinnen, Piercerinnen, Martial-Arts-Künstlerinnen und Künstlerinnen mit Behinderung auf der Bühne.  (vg)

Es ist Holzingers erster Schritt in die Oper, und sie setzt Hindemiths 25-minütigen Einakter, der als Intro zur folgenden über zweistündigen Show dient, ohne viel Spektakel in Szene. Lediglich ein lesbisches, später an einem riesigen Neonkreuz geschlechtsaktiv agierendes Liebespaar ist den singenden Darstellerinnen als Personal zur Seite gestellt. Gemeinsam mit dem Stuttgarter Staatsorchester im Graben in der Leitung der Dirigentin Marit Strindlund und dem Frauenchor im Saal gelingt es Caroline Melzer als Susanna, Andrea Baker als Klementia und Emma Rothmann als Alte Nonne stringent, den komponierten, minuziös sich steigernden Klang-Orgasmus mit der nötigen Gewalt und ekstatischen Intensität plastisch zu Gehör zu bringen.

Was hier noch größtenteils der Fantasie überlassen wird, für das wird es später Bilder geben. Oper als Assoziationskettenauslöserin. Zwei Dutzend nackte oder teilbekleidete, ausschließlich weiblich gelesene Performerinnen legen sich dann ins Zeug, um auf rauschhafte, witzige, tiefsinnige, platte, schockierende, brutale, sportliche Weise dem Thema des Abends auf den Grund zu gehen: der unerträglich frauenfeindlichen Lehre der katholischen Kirche, ihrem völlig aus der Zeit gefallenen patriarchal gesteuerten System, ihrem regressiven Umgang mit Sexualität und Körperlichkeit. Mal wird das der Lächerlichkeit preisgegeben, mal in seiner Brutalität entlarvt, mal feministisch-utopisch umgedeutet. Jedenfalls in Gestalt einer performativ spielerisch sich aufbauenden, mal trashigen, mal tiefsinnigen, stets unterhaltenden Bilderflut. Das Theater wird zur Kirche, in der Männer (zumindest auf der Bühne) keinen Platz haben.

Blut fließt nicht nur bei Christus

Als Matrix der Show dient die Form der katholischen Messe. Es erklingen Messsätze von Bach, Rachmaninow und Gounod – für die Frauenstimmen des Staatsopernchors arrangiert (der nicht nackt, sondern in Nonnentracht auftritt) und mit Zwischenmusiken verbunden durch Zeitgenössisches, an dem viele Komponist:innen mitgearbeitet und mitarrangiert haben: von schräg bis höllisch laut, von Pop bis Broadway, von Black Metal bis "It's raining men".

Für visuelle Dauerdynamik sorgt die Halfpipe in der Mitte der Bühne, auf der Nonnen auf Rollschuhen immer wieder Kunststückchen zeigen (Bühne und Kostüme: Nikola Knežević). Dahinter eine große Kletterwand, die beeindruckende Bilder evoziert: Wenn dort mehrere blutberegnete nackte Frauenkörper in Kruzifixhaltung hängen. Oder Bauarbeiterinnen das projizierte Fresko "Die Erschaffung Adams" von Michelangelo mit Hammern zerdeppern.

Auch schön: Wenn vorne das letzte Abendmahl nachgestellt wird von lauter nackten Frauen, derweil eine Zauberin aus einer einzigen Rotweinflasche ein ganzes Dutzend macht. Kirchenfenster mit Eierstockmustern blinken auf. Es wird auch mal ordentlich eingeräuchert: Wenn ein mächtiges Weihrauchgefäß von der Decke baumelt und von zwei Performerinnen zum Schwingen gebracht wird. Eine Riesenglocke wird vom nackten Holzinger-Körper als Klöppel angegongt. Und nix für schwache Nerven: Frauen hängen sich an der Rückenhaut auf und klatschen gegen Donnerbleche. Das Einführen der Haken in die Körper wurde zuvor per Kamera auf die Leinwand vergrößert und geradezu zelebriert. Martyrium live! Wie auch das sorgfältige Herausschneiden eines größeren Hautfetzens schockt, der dann fürs Abendmahl gebrutzelt wird – das kannibalistische Ritual der Eucharistie hopsnehmend. Derweil ist die blutige Entnahme einer Rippe aus dem Körper eines Zuschauers zwecks Schöpfung der Frau zum Glück Fake.

Solcherart künstlerische Selbstverletzungen sind nicht neu, sie haben sich seit den 1970er-Jahren als "Body Art" etabliert, in der Körper als Demonstrationsfläche normierender Herrschaftsstrukturen herhalten müssen. Die Kunst-Märtyrerin soll kathartisch auf ihr Publikum einwirken.

Einfach mal wirken lassen

Dementsprechend liegen Horror und Comedy, Schock und Spaß bei Holzinger immer nah beieinander. Lustig: Das gemeinsame Modellieren von Tonpenissen evoziert ein rhythmisches Stöhnkonzert. Jesus (Annina Machaz) verlangt als obdachloser, kiffender Fantast Eintritt ins Opernhaus, verteilt Autogramme und macht sich über Glaubensfragen lustig: "I love bleeding for you." Und Performerinnen erzählen, für welche "Sünden" sie gerne heiliggesprochen würden.

Trash, Zirkus, Popkultur bleiben bei Holzinger stets Referenzrahmen. Weswegen man auch in "Sancta" nicht durchweg nach tieferer Bedeutung schürfen sollte. Der Körper sei ihr primäres Medium. "Worte kommen für mich nur schwer gegen diese Körperlichkeit an", sagte sie kürzlich in einem Interview.

Das große Finale schließlich, das Sex und Liebe mit der Mitsing-Hymne "Dont't dream it, be it" (aus der "Rocky Horror Picture Show") feiert – was derart übertrieben und kitschig wirkt, dass es wohl kaum ernst gemeint sein kann –, mündet in einen Begeisterungssturm. Kein Wunder, persifliert Holzinger hier doch (im besten Fall) den groovenden Erleuchtungsgesang von Gospelgottesdiensten – um alles wohlkalkuliert in Standing Ovations zu überführen. Raffiniert! Oder einfach nur trashig?


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


8 Kommentare verfügbar

  • Aphrodite
    am 13.10.2024
    Antworten
    "weiblich gelesene Performerinnen"
    An welchem Detail genau wurden diese Menschen "weiblich gelesen"? Spielten die üblichen "weiblich gelesenen" Ganserers und Kellermanns auch mit?

    Schon interessant, daß ein eigentlich interessanter Text über eine emanzipatorische Bühnenvorführung dann…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!